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PROZESSE Überall Schafe

Das Hamburger Schwurgericht mußte einen geflüchteten DDR-Bürger freilassen, der als Raubmörder dringend verdächtigt ist. Die DDR hatte keine tauglichen Beweismittel geschickt. *
aus DER SPIEGEL 34/1984

Jürgen Schenck, 55, Vorsitzender Richter der Schwurgerichtskammer am Hamburger Landgericht, gilt unter Kollegen als »alter Kämpe - erfahren, gewieft und selbstbewußt«. Nach fünfzehn Jahren Praxis als Strafrichter, in hitziger Zeit auch als Vorsitzender der Staatsschutzkammer, bringt ihn heute so schnell nichts mehr aus dem Tritt.

Doch am Donnerstag vergangener Woche verblüffte Schenck die Prozeßbeteiligten im Schwurgerichtssaal mit einem Bekenntnis: »Ich habe so was bisher noch nie erlebt. Ich weiß im Moment nicht, wie wir jetzt weiterprozessieren sollen.«

Die Prozeßsituation war für die bundesdeutsche Justiz ohne Beispiel. Die Hamburger Schwurgerichtskammer muß den Angeklagten Frank Weißgerber, 24, laufenlassen, obwohl er aufs schwerste als Raubmörder verdächtigt ist. Das Gericht konnte in der Hauptverhandlung nicht einmal eine Beweisaufnahme durchführen, weil keines der vorhandenen Beweismittel verwertet werden darf.

Der Raubmord geschah am 8. Oktober 1982 bei Eilsleben, im DDR-Bezirk Magdeburg. Ein Jahr lang hatte Weißgerber, der im Januar 1983 in die Bundesrepublik geflüchtet war, in der Hansestadt in U-Haft gesessen. Klaus Jabusch, als Mittäter geständig, wurde derweil in Magdeburg zu lebenslanger Haft verurteilt. Weißgerber kam am Freitag letzter Woche frei: Der Haftbefehl wurde aufgehoben, das Verfahren per Urteil im Namen des Volkes eingestellt.

Das absurd anmutende Prozeßresultat war rechtsstaatlich geboten: Die DDR hatte weder Zeugen noch Sachverständige nach Hamburg reisen lassen und auch keine anderen prozessual verwertbaren Beweismittel geschickt. Die Hamburger Staatsanwaltschaft mußte ihre Sitzungsvertreterin blank in den Saal schicken; eigene Ermittlungen konnte sie nicht anstellen. Und der Angeklagte selber hatte sich, der Einmaligkeit seiner Prozeßchance bewußt, von Anfang an ausgeschwiegen.

Dem Fall ist noch ein Nachspiel sicher, das die deutsch-deutschen Beziehungen folgenschwer belasten könnte. Zu stark hatten sich die DDR-Behörden schon während der letzten Monate in der Sache engagiert, als daß sie die spektakuläre Haftentlassung jetzt geräuschlos hinnehmen könnten.

Noch am 2. August hatte Ewald Moldt, der Leiter der DDR-Vertretung

in Bonn, eigens in Sachen Weißgerber im Kanzleramt vorgesprochen, Staatsminister Jenninger eine Demarche überreicht und schon zu diesem Zeitpunkt das Verhalten der westdeutschen Justiz »als unvereinbar mit dem Geist und Buchstaben des Grundlagenvertrages sowie als Belastung des Rechtsverkehrs zwischen beiden Staaten« bezeichnet.

In der Hamburger Justizbehörde werden noch weitergehende Vermutungen angestellt. Das Raubmord-Verbrechen in der DDR war im schlichten ländlichen Milieu angesiedelt, Täter und Opfer kannten sich, das Opfer wurde in eine Falle gelockt, mit einer Kabelschnur im Auto erdrosselt und gewürgt, seines Geldes beraubt und die Leiche in einem Acker vergraben - ein Kriminalfall mithin, der weder vom Tathintergrund noch von der Person her auch nur entfernt mit den politischen Risiken irgendwelcher Ost/West-Unwägbarkeiten verknüpft war.

Hieraus schließen Senatsjuristen, daß es der DDR in diesem Falle ein leichtes hätte gewesen sein müssen, dem Hamburger Gericht verwertbare Beweismittel - Zeugen, Sachverständige, prozeßtaugliche Vernehmungsprotokolle - zur Verfügung zu stellen. Daß dies verweigert wurde, lasse den Schluß zu, die DDR habe das spektakuläre Prozeßende in Wahrheit gewollt, um es als Futter für eine Politpropaganda zu nutzen, das bei Bedarf womöglich gar als Vorwand für die Absage der Honecker-Reise in die Bundesrepublik herhalten könne.

Schon mehrfach waren die innerdeutschen Beziehungen in der Vergangenheit durch Kriminalfälle belastet, in denen die DDR, wie auch in Sachen Weißgerber, in erster Linie - aber durchweg vergebens - die Auslieferung ihrer straffällig gewordenen und geflüchteten Staatsbürger verlangt hatte. Doch keiner dieser Fälle fand ein letztlich so bizarres Ende wie der vor dem Hamburger Schwurgericht. Sämtliche anderen Überläufer, die schwerer Straftaten schuldig waren, wurden von westdeutschen Gerichten zu Freiheitsstrafen verurteilt.

Vier Instanzen in drei Jahren durchlief allein der Totschlagsprozeß gegen Werner Weinhold, ein Verfahren, das immer aufs neue in Ost und West Schlagzeilen gemacht und das gesamtdeutsche Klima nachhaltig vergiftet hatte. Weinhold, ein fahnenflüchtiger Soldat der Nationalen Volksarmee, hatte bei seiner Flucht zwei DDR-Grenzsoldaten mit der Maschinenpistole erschossen. 1976 sprach ihn das Landgericht Essen frei. Doch der BGH hob das Urteil auf, weil die Essener Richter sich zuwenig Mühe gemacht hatten, an die Beweismittel aus der DDR heranzukommen. Im Wiederholungsprozeß wurde Weinhold schließlich zu fünfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Noch mehr Aufsehen machte der Fall der damals 17jährigen Ingrid Brückmann, die im Juli 1972 in der DDR ihren Vater tötete, der sie jahrelang mißhandelt und mißbraucht hatte. Der Fall lief durch alle Gerichtsinstanzen, die Alliierten waren eingeschaltet, das Bundesverfassungsgericht wurde angerufen und auch die Europäische Kommission für Menschenrechte. Eine West-Berliner Jugendstrafkammer verurteilte die Angeklagte schließlich zu zweieinhalb Jahren Freiheitsentzug.

Doch in beiden Fällen waren die Verurteilungen durch westdeutsche Gerichte am Ende nur möglich, weil die Angeklagten auch selber Angaben zur Sache gemacht hatten. Gerade dies unterscheidet die Fälle Weinhold und Brückmann vom Hamburger Ost-West-Gerangel in Sachen Weißgerber.

Das DDR-Gesuch um Auslieferung von Weißgerber wurde vom Hamburger Generalstaatsanwalt zurückgewiesen - ohne Begründung, »das ist so üblich«, kommentiert Hamburgs Oberstaatsanwalt Peter Beck. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht in der Sache Brückmann besonders strenge Voraussetzungen für den Fall normiert, daß ein Deutscher an die DDR ausgeliefert werden soll. Eine solche »Zulieferung« ist danach nur mehr zulässig, wenn dem Betroffenen durch die Strafverfolgung in der DDR keine rechtsstaatswidrigen Nachteile erwachsen und auch keine politischen Ziele für die DDR-Ermittlungen maßgebend sind.

Doch im Falle Weißgerber hätte ein solcher Nachteil wohl nur darin liegen können, daß ihm nach den DDR-Gesetzen bei einer Verurteilung als Mörder zumindest theoretisch die Todesstrafe droht. Freilich, der Weißgerber-Komplize Klaus Jabusch wurde wegen derselben Tat - inzwischen rechtskräftig - nicht zum Tode, sondern zu lebenslang verurteilt. Hätten die DDR-Behörden der Hamburger Justiz ihre Zusicherung erteilt, auch im Falle Weißgerber die Todesstrafe nicht zu vollstrecken, so hätte sich - mangels anderer zu befürchtender Nachteile - der Hamburger Generalstaatsanwalt vermutlich schwergetan, die beantragte Auslieferung trotzdem abzulehnen.

Statt dessen beschränkten die DDR-Behörden ihre »Rechtshilfe« auf den Papierversand: Kopien der Protokolle von polizeilichen Zeugenvernehmungen, das Obduktionsgutachten, das Protokoll der Magdeburger Hauptverhandlung gegen Jabusch, die Urteile beider Instanzen gegen Jabusch und eine Photomappe lagen auf dem Hamburger Richtertisch.

Für eine Verurteilung - noch dazu im Schwurgerichtsverfahren - ist das zuwenig. Zwar ergibt sich aus den DDR-Dokumenten, die der Gerichtsvorsitzende Schenck im sogenannten Freibeweisverfahren - bei dem es nicht um die Klärung der Schuldfrage geht - auszugsweise verlas, ein übereinstimmend dichtes Verdachtsbild. Nicht nur der geständige Jabusch, auch andere Zeugen und sogar die eigene Ehefrau haben Weißgerber schwer belastet. Und ausdrücklich hob Schenck in seiner Urteilsbegründung hervor, daß »die Kammer keinerlei Grund sieht, die Korrektheit der Ermittlungen und die Rechtsstaatlichkeit des DDR-Verfahrens gegen Jabusch in Zweifel zu ziehen«.

Doch auf die eigene, unmittelbare Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen in Hamburg und eine kommissarische Vernehmung Jabuschs im Beisein der Hamburger Verfahrensbeteiligten in der DDR könne das Gericht nicht verzichten. Gegebenenfalls sollten alle Zeugen in Magdeburg kommissarisch von einem DDR-Richter vernommen und den Hamburger Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern dabei die Anwesenheit gestattet werden.

Eine solche Praxis ist im internationalen Rechtshilfeverkehr seit langem üblich und wird immer wieder auch von Ostblockstaaten - der Sowjet-Union und Polen etwa - gewährt. Warum sich die DDR in diesem Punkte nicht einmal an den sozialistischen Standard hält, bleibt ihr Geheimnis und nährt Spekulationen.

Für die Richter ist der eigene Eindruck von Zeugen notwendig, um mögliche Widersprüche oder Aussagelücken aufzuklären und damit die Glaubwürdigkeit zuverlässig beurteilen zu können. Deshalb ist das Prinzip der »Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme« für den Strafprozeß im Rechtsstaat unabdingbar. Schenck: »Sämtliche Beweismittel befinden sich in einem Territorium, das zur Rechtshilfe nicht bereit ist.« Sich allein auf die DDR-Papiere zu stützen, »liefe letztlich auf Preisgabe der Unmittelbarkeit hinaus und würde auch die Verteidigung nicht hinnehmbar beschränken«.

Frank Weißgerber ist Schäfer von Beruf. Prozeßbeobachter in Hamburg prophezeiten, er werde wohl bald die Weite des Landes suchen - wo auch immer. Schafe gibt es überall, selbst in Kanada oder Australien.

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