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Oder-Neiße-Grenze Überall Unruhe

Die Polen verlangen von den vier Siegermächten Garantien für ihre Westgrenze. Paris hat schon zugesagt.
aus DER SPIEGEL 11/1990

Polens Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki dankte seinem Gast aus Bonn, daß er das heikle Thema von sich aus angesprochen habe. Die Zusicherung, die Deutschen würden »weder jetzt noch in Zukunft« Gebietsansprüche an Polen stellen, so der Premier am Mittwoch vergangener Woche zu Wirtschaftsminister Helmut Haussmann in Warschau, sei »ein Schritt in die richtige Richtung«.

Dann aber machte Mazowiecki eine Einschränkung: Die dem Bundestag vorgelegte (und inzwischen verabschiedete) Entschließung zur polnischen Westgrenze sei allerdings »völlig unzureichend«. Seine Regierung verlange »Mitsprache« bei den Gesprächen der beiden deutschen Staaten mit den vier Siegermächten über die Einheit Deutschlands.

Haussmann, der dem polnischen Premier einen Brief des Bundeskanzlers überbracht hatte, mußte passen: Er sei nicht der Außenminister, sondern zu Wirtschaftsverhandlungen nach Polen gekommen.

Die polnischen Gesprächspartner ersparten dem Emissär aus Bonn daraufhin unangenehme Fragen nach dem von Helmut Kohl überraschend hergestellten Junktim zwischen der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und einem Verzicht Warschaus auf Reparationsforderungen an die Deutschen. Auch Kohl selber ließ in seinem Schreiben die Reizworte unerwähnt; den Koalitionskrach verharmloste er zu einem »ernsten und schwierigen Gespräch«.

Die Vertrauenskrise aber ist da. Mit seinem aus innen- und wahlpolitischen Motiven inszenierten Eiertanz ist Kohl dabei, das politische Klima in Mittel- und Osteuropa zu vergiften und die westlichen Verbündeten gegen Bonn aufzubringen.

Der Streit in der christliberalen Koalition wurde vergangene Woche zwar fürs erste beigelegt. Denn einen Bruch ihres Bündnisses mochten der Kanzler und sein freidemokratischer Widersacher Hans-Dietrich Genscher knapp zwei Wochen vor der Wahl in der DDR und ein dreiviertel Jahr vor den Bundestagswahlen nicht riskieren: »Wir wären ja verrückt«, erkannte CDU/CSU-Fraktionschef Alfred Dregger, als der Konflikt mit einem Kompromiß überkleistert war. * Am vergangenen Freitag in Paris.

Aber das Zerwürfnis im Regierungslager bleibt. Die persönliche Beziehungen zwischen dem auftrumpfenden CDU-Kanzler und seinem um Schadensbegrenzung bemühten Außenminister sind tief gestört.

Ausgerechnet in einer Situation, in der Staatskunst gefordert war, belebte Kohl alte Ressentiments und schürte neue Ängste vor einem unberechenbaren Groß-Deutschland. Der Bonner Regierungschef brachte die Deutschen in den schlimmen Verdacht, sie wollten für sich Vorteile zu Lasten ihrer Nachbarn und Verbündeten ziehen.

Seinem Beschwichtigungsversuch zum Trotz, es werde »kein viertes Reich geben«, provoziert der CDU-Kanzler eine Lage, wie es sie seit Ende der Nazi-Diktatur nicht mehr gegeben hat: Die Polen verlangen von Amerikanern, Engländern, Franzosen und Sowjets eine Garantie-Erklärung für ihre Westgrenze gegen Deutschland.

Der vom Bonner Parlament vergangene Woche in Aussicht gestellte Grenzvertrag reicht ihnen nicht mehr aus. Es sei, klagte der polnische Staatschef Wojciech Jaruzelski, darin noch nicht einmal festgelegt, welche Grenze gemeint sei.

»Allianzen von früher werden wiederbelebt«, entsetzt sich ein Bonner Diplomat: die Sieger des zweiten Weltkriegs als »Patronatsmächte« für Deutschland.

Und die Alliierten von einst machen nur zu gern mit.

Vergangenen Freitag holte sich die polnische Staatsspitze in Paris Rückendeckung beim engsten Verbündeten der Bonner. Jaruzelski und Mazowiecki erhielten im Elysee-Palast von Staatspräsident Francois Mitterrand die Zusage, daß Frankreich für ein »internationales Abkommen« über die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze eintrete. Paris betrachte diese Grenze als unantastbar. Jaruzelski betonte, Polen als »erstes Opfer Nazi-Deutschlands« habe ein »historisches Recht«, bei den Deutschlandverhandlungen dabeizusein.

Die Franzosen verstehen Helmut Kohl schon lange nicht mehr: »Diese Grenze könnte nur durch Krieg verändert werden«, warnt der französische Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevenement (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 190).

Zuvor schon hatte die britische Premierministerin Margaret Thatcher intern ihren Inselstaat als Garantiemacht gegen Helmut Kohls Deutschland angeboten. Tief zerstritten mit Kohl, sieht sie darin eine Chance, einen verlorenen Weltmacht-Status aufleben lassen zu können.

Kommende Woche will Mazowiecki im Weißen Haus vorsprechen, um auch US-Präsident George Bush für seinen Plan zu gewinnen. Wegen heftiger Klagen über Kohls Politik aus dem Kongreß und der einflußreichen Polen-Lobby in den USA wird sich Bush dem nur schwer entziehen können.

In Genschers Außen-, aber auch in Kohls Kanzleramt herrschte unter den Beamten Ende letzter Woche Betroffenheit. Eine »internationale Garantie-Erklärung« hieß es, komme einer »Feindstaatenklausel« gleich. Sie passe nicht in eine europäische Friedensordnung souveräner und gleichberechtigter Staaten, so wie sie unter dem Dach der KSZE von den Bonnern angestrebt wird.

Die Plumpheit des Kanzlers in der Grenzfrage und die schrillen nationalen Töne der deutschen Konservativen haben auch die Sowjets auf den Plan gerufen. Verstört durch den ungestümen Drang der Kohl-Truppe und ihrer Sympathisanten in der DDR zum Anschluß der einstigen sowjetischen Besatzungszone, zog Moskaus Außenminister Eduard Schewardnadse die Notbremse.

»Freundlich, aber in der Sache eindeutig« (Genscher), forderte er seinen Amtskollegen in Bonn auf, sofort Kontakt aufzunehmen, falls nach dem Wahltag »Unvorhersehbares« in der DDR geschehe.

Schewardnadse hatte es so eilig mit seiner Sorge um »unkontrollierbare Umstände« in Deutschland, daß er seinen Bonner Botschafter Julij Kwizinski am Freitag abend vorletzter Woche mit einem Sendschreiben in Genschers Privathaus schickte. Aus der Mahnung seines Moskauer Kollegen, niemand dürfe jetzt im »Alleingang« handeln, entnahm Genscher den deutlichen Hinweis, daß die beiden deutschen Staaten keinesfalls hinter dem Rücken der vier Siegermächte ihre Einheit im Schnellverfahren aushandeln dürfen.

Der in Ottawa vereinbarte Konsultationsmechanismus »Zwei plus vier« ist durch Helmut Kohls selbstgefälliges Gerede in Gefahr geraten. Nicht nur die Polen wollen mitreden, wenn es um die Einheit und die deutschen Grenzen geht. Auch Bonns westliche Partner klagen immer lauter ein Mitspracherecht ein.

»Wir wollen mitentscheiden«, verlangte Italiens Ministerpräsident Giulio Andreotti vergangene Woche bei seinem Besuch in Washington. Präsident Bush bekundete Verständnis und erklärte sich damit einverstanden, noch vor dem ersten Ministertreffen der »Zwei plus Vier«-Gruppe eine Sonderkonferenz der Nato einzuberufen.

Belgiens Außenminister Mark Eyskens forderte gar, »daß wir nicht nur informiert werden«. Vielmehr müsse »das endgültige Paket dem Nato-Rat zur Zustimmung vorgelegt« werden. Sein niederländischer Kollege Hans van den Broek verzichtete zwar auf einen Platz am Konferenztisch, »weil es zwischen Bonn und Den Haag keinen Grenzkonflikt gibt«. Die Polen hingegen hätten einen Anspruch, »besonders berücksichtigt« zu werden.

In Rom klagten am vergangenen Montag Andreotti und EG-Kommissionspräsident Jacques Delors über den Bonner Kanzler. Die von Kohl angezettelte Grenzdiskussion nahmen sie als Beleg dafür, daß der Regierungschef des reichsten Landes Europas die deutsche Frage »allzu locker« behandle. Es bestehe die Gefahr, daß sich das Zusammenwachsen Europas verlangsame, während sich das der Deutschen beschleunige.

Nach einer Sitzung der EG-Außenminister brachte der Ratsvorsitzende, Irlands Außenminister Gerard Collins, Anfang voriger Woche die Vorbehalte der Partner gegen Kohls unklare Haltung auf den Punkt: »Überall ist man beunruhigt, ob auch alle Gesichtspunkte bei der deutschen Einheit sorgfältig behandelt werden.«

Douglas Hurd, der Chef des Londoner Foreign Office, hieb ganz undiplomatisch auf den Bonner Kanzler ein: »Ich verstehe die Verbindung nicht, die Kanzler Kohl zwischen der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und Reparationen hergestellt hat.«

Wegen dieser klaren Worte aus London drängte Genscher in der dreistündigen Koalitionsrunde am vergangenen Dienstag den Kanzler, das Reizwort Reparationen im Text der Bundestagsentschließung nicht zu verwenden. Vergeblich. Helmut Kohl knurrte seinen Vize an, nicht er, die Polen selber hätten die Reparationsforderungen ins Gespräch gebracht.

Genschers Einwand, damit seien individuelle Ansprüche ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter nicht vom Tisch (siehe Seite 174), beeindruckte den CDU-Kanzler nicht. Sollten derartige Forderungen aus Warschau erhoben werden, so Kohl, würden sie von seiner Regierung abgelehnt. Der Kanzler und die Unionschristen wollen noch nicht einmal den Gedanken erwägen, unter Beteiligung der Industrie eine Stiftung zu gründen, aus deren Fond ehemalige Zwangsarbeiter oder deren Angehörige entschädigt werden könnten.

Richtig laut am Koalitionstisch wurde es, als der FDP-Außenminister das »verheerende internationale Echo« auf Kohls Alleingang in der heiklen Polen-Frage beklagte. »Du hast doch die Debatte losgetreten«, herrschte der Kanzler seinen Duzfreund aus besseren Tagen an. Ohne sich mit ihm, Kohl, abzustimmen, habe Genscher im Alleingang vor der Uno im vergangenen Herbst ohne Not eine Grenzgarantie abgegeben.

Vom Medienecho über den Koalitionsstreit erzürnt, ließ Kohl nachlegen: Der Außenminister, so streuten Kanzler-Gehilfen unter konservativen Journalisten Ende voriger Woche, habe ihn »desavouieren und aufs Kreuz legen wollen«. Genscher habe den Kanzler als einen unbelehrbaren, den Reaktionären hörigen Polen-Gegner darstellen lassen.

Daß in Wahrheit der CSU-Chef und Bundesfinanzminister Theo Waigel im vergangenen Jahr mit seinem Gerede über den Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 den Streit zwischen der Kohl-Regierung und Warschau angezettelt hatte - wen kümmert das noch in der Union?

Für den Wahlkämpfer aus der Pfalz geht es allein um die Macht in Deutschland. »Wer«, blaffte Kohl letzte Woche seinen Koalitionspartner Genscher an, »die Union unter 40 Prozent kriegen will, muß mit unserer Gegnerschaft rechnen.« f

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