GESCHICHTE / REICHSGRÜNDUNG Überhaupt abwegig
Zum 100. Jubiläum der großen und mächtigen Dinge will es die Bundesregierung bei einer 30-Pfennig-Sondermarke, einem Fünfmarkstück und einer viertelstündigen Fernsehansprache bewenden lassen.
Am 18. Januar 1971, hundert Jahre nach der Gründung des Zweiten Deutschen Reiches Im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, soll statt nationaler Fanfarenstöße nur eine unterkühlte Pflichtübung auf den Gedenktag hinweisen.
Innenminister Hans-Dietrich Genscher, für die Programmgestaltung dieses Feier-Tages zuständig, gab bei Kabinettskollege und Post-Chef Georg Leber ein Briefmarkenmotiv in Auftrag, das »dem Streben des deutschen Volkes nach Einheit gewidmet« sein soll.
Den Finanzminister Alex Möller bat Genscher, der Herausgabe einer »Reichsgründungs-Münze« zuzustimmen. Genschers haushälterisches Plädoyer: »Bei einer Auflage von fünf Millionen Münzen werden dem Bund letztlich rund elf Millionen Mark an zusätzlichen Einnahmen zufließen.«
Genschers drittem Vorschlag, mit einem »Gedenkakt« im Bundestag den Einheitswillen des »deutschen Volkes zu stärken«, mochte die Bonner Regierung bislang nicht folgen. Denn eine pompöse Staatsaktion könnte östliche und westliche Nachbarn gleichermaßen erschrecken: den Osten, weil ihm rund ein Viertel des kaiserlichen Deutschlands zugehört, die Franzosen, weil sie mit der Kaiser-Proklamation Niederlage und nationale Schmach verbinden.
Sogar Deutschlands nationale Rechte scheint nicht »Preußens Gloria« blasen zu wollen. Die Vertriebenen-Verbände denken an örtliche Erinnerungsfeiern, und NPD-Chef Adolf von Thadden weiß vorerst nur, daß er »auf jeden Fall eine Kundgebung« macht.
Um den Rechten nicht allein die Interpretation der Reichsgründung zu überlassen, will Bundespräsident Gustav Heinemann am Vorabend des 18. Januar in einer Fernseh-Ansprache historisch-kritisch die Ursprünge und die Entwicklung der nationalen Einheitsidee darlegen. In dieser Woche noch wird der Ältestenrat des Bundestags darüber entscheiden, ob es bei Heinemanns Tele-Kolleg bleiben oder ob auch das Parlament zur 100-Jahr-Feier zusammentreten soll.
Noch aus der Zeit der Großen Koalition stammt der Plan für eine Dokumentar-Ausstellung »1871 -- Fragen an die deutsche Geschichte« auf 2000 Quadratmeter Fläche für 1,5 Millionen Mark. Auch dabei sucht die Bundesregierung nationales Pathos zu vermeiden. Statt ab 18. Januar soll das Gründungs-Material im Berliner Reichstagsgebäude ab 21. März, dem Tag der ersten Reichstagssitzung, und in der Frankfurter Paulskirche ab 18. Mai, der ersten Zusammenkunft des Parlaments von 1848, gezeigt werden. Die Sozial-Liberalen möchten so an die demokratischen Traditionen der Bundesrepublik erinnern.
Dennoch stoßen die Ausstellungspläne bei linken Genossen auf Ablehnung. So kritisiert der SPD-Bundestagsabgeordnete Karl-Heinz Hansen, 43: »In der jetzigen politischen Situation ist es überhaupt abwegig, in Berlin einen so bombastischen Laden aufzuziehen.«
* Ehrenabordnung deutscher Offiziere am 18. Januar 1871 im »Salon de la paix« in Versailles.