EUROPA Überraschende Kehrtwende
Eine handschriftliche Depesche des französischen Präsidenten Jacques Chirac an seinen zyprischen Amtskollegen Tassos Papadopoulos sorgt in Ankara wie in Brüssel für Aufregung. Der »liebe Tassos« möge ihn »nicht enttäuschen«, soll Chirac nach Informationen aus Nikosia geschrieben haben, und als Gegner einer Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen mit der Türkei »hart bleiben«. Zwar wird die Existenz des heiklen vertraulichen Schreibens offiziell dementiert, dessen kolportierter Inhalt freilich durch diplomatische Aktivitäten bestätigt: Frankreichs Botschafter übermittelte Papadopoulos »Chiracs Position« - nämlich gemeinsam mit Nikosia den Beginn der Verhandlungen mit der Türkei über einen EU-Beitritt zu blockieren, solange Ankara die Republik Zypern nicht anerkenne, so heißt es in Nikosia. Damit hebelt Chirac die bisherige europäische Beschlusslage aus und legt einen Zündsatz, der das gesamte Beitrittsverfahren sprengen könnte. Denn mit der Unterzeichnung des EU-Zollabkommens hatte die Regierung von Recep Tayyip Erdogan vor knapp drei Wochen eigentlich die letzte Hürde vor dem für den 3. Oktober angesetzten Verhandlungsbeginn genommen. Eine Anerkennung Zyperns, das seit 1974 in einen türkischen Norden und den griechischen Süden geteilt ist, hat Europa bislang von Ankara nicht verlangt. Nun sattelt Frankreich diese für Erdogan schwer erfüllbare Forderung drauf und will für die überraschende Kehrtwende auf dem EU-Außenministertreffen Anfang September weitere Verbündete gewinnen. Damit verlässt der Erste der »großen Drei Europas« - zu denen noch Briten-Premier Tony Blair und Kanzler Gerhard Schröder gerechnet werden - den gemeinsamen Kurs einer langsamen EU-Anbindung des islamischen Nato-Partners. Berlin könnte bald folgen - falls es dort im September zum Regierungswechsel kommt.