RICHTER Um den Block
Der Hamburger Amtsrichter Harm Beyer, 50, schlug bei der Verkündung seines Urteils ungewohnte Töne an. »Man höre und staune«, forderte er die Prozeßbeteiligten im Namen des Volkes auf.
Verblüfft gehorchten der 42jährige Angeklagte, die Zuhörer und der Staatsanwalt. Beyer verurteilte den notorischen Fahrgeldpreller, der sich schon drei Jahre Knast schwarz zusammengefahren hatte, nicht etwa zu neuer Haft, sondern verfügte eine originelle Bewährungsauflage: Ein Jahr lang muß der »verstockte, uneinsichtige, unbelehrbare« Wiederholungstäter jeden Monat eine Monatskarte für Busse und Bahnen kaufen. Richter Beyer wird die Fahrausweise persönlich kontrollieren.
»Es ist doch Unsinn, solche Leute einzusperren«, meint Beyer. Das fand der Angeklagte auch und nahm das ungewöhnliche Urteil an.
Weniger die Milde als vielmehr die Sinnfälligkeit seines Spruchs war es, die dem Richter Beyer ein breites und zustimmendes Echo einbrachte. Hamburger Blätter plazierten das Bagatell-Verfahren auf Seite eins und kommentierten: »Das weiseste Urteil seit langem.« Und die »taz« druckte Beyers Entscheidung unter der Rubrik: »Hier ist das Positive.«
Viel Aufmerksamkeit für einen Fall, wie es an westdeutschen Gerichten täglich Dutzende gibt. Doch Dutzendurteile sind Richter Beyers Sache nicht. Er bemüht sich von jeher, routinemäßige Paragraphenurteile durch phantasievolle Bewährungsauflagen zu beleben.
Eine junge Mutter, die 1970 im Kaufhaus einen Lederrock gestohlen hatte, mußte ihre Strafe in Heimarbeit abnähen. Beyer verurteilte sie zu zwei Kinderkleidern, zu stiften an einen Kindergarten. Bis heute ist die Frau nicht wieder straffällig geworden.
Zwei hitzige Freunde, die sich nach einer Zech- und Prügeltour gegenseitig wegen Körperverletzung angezeigt hatten, schickte der Richter während der Verhandlung zum Abkühlen der Gemüter auf »einen Gang um den Block«. Als sie zurückkamen, waren die Männer versöhnt, das Verfahren wurde eingestellt.
Einen frisch verheirateten Dieb entließ Beyer Mitte der siebziger Jahre, obwohl der Delinquent viele Vorstrafen hatte, auf Bewährung. Der Einfluß einer jungen Ehefrau, urteilte der Richter, biete reellere Chancen als ein erneuter Aufenthalt in der Zelle, daß der Missetäter sich endlich bessere. Rückfälle sind bislang nicht bekannt.
Dabei ist Beyer beileibe kein liberaler Justiz-Softy. Der drahtig-energische Jurist ist »vom Sinn des Strafens fest überzeugt«. Seinen Anfangsjob als Jugendrichter gab er auf, als die Verfechter »sozial-psychologischer Mätzchen« im Strafrecht an der »absoluten Autorität des Amtsrichters« zu rütteln begannen. »Anbiederung an den Angeklagten« nach dem Motto: »Weg mit dem Richtertisch, raus aus dem Talar« lehnt Beyer ab. Vor der »Verknöcherung im Amt« bewahrt sich der passionierte Schwimmer, der seit 1977 Präsident des Deutschen Schwimm-Verbandes ist, durch »ständigen Umgang mit Jugendlichen, den Kontakt zu Sportlern in aller Welt und die Verbandsarbeit«.
Daß Beyer allerdings nicht immer auf dem Grat zwischen Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit bleibt, zeigt seine Bewährungsauflage für eine Frau, die Mann und Kinder in Frankfurt verlassen hatte, um in Hamburg allein zu leben und zu arbeiten.
Als sie sich wegen Unterschlagung verantworten mußte, verlangte der überzeugte Familienvater Beyer, sie solle umgehend nach Hause zurückkehren, zum Beweis eine Postkarte aus Frankfurt schicken und fünf Jahre lang alle sechs Monate einen Bericht über das Befinden ihrer Kinder abliefern.
Die Frau ließ sich den Eingriff der richterlichen Gewalt in ihre Persönlichkeitssphäre gefallen - aus Angst vor einer Haftstrafe. Zweimal schrieb sie, dann verlor sich ihre Spur.
Daß Beyer auch mal fehlgeht, ist allerdings die Ausnahme geblieben, seine unkonventionelle Urteilskraft wird gerühmt. Er selber kritisiert, daß individuell zugeschnittene Urteile bei der Vielzahl an Verfahren, die ein Richter zu bearbeiten habe, zu selten möglich seien.
Allein bei Beyer gehen pro Jahr 600 bis 700 Fälle ein, über die Hälfte davon Diebstähle, leichte Körperverletzungen, ab und zu eine Unterschlagung und eben Schwarzfahrten, im Amtsdeutsch: »Beförderungserschleichung«.
Der Strafrahmen des Amtsgerichts - Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren - bietet außerdem wenig Entscheidungsspielraum. Selbst den, bemängelt Harm Beyer nach über 20 Dienstjahren, nutzten viele Kollegen nicht einmal aus. Die meisten urteilten »einfach zu akademisch«.
Das Wort »volksnah« klingt dem Sproß aus einem sechsköpfigen Lehrerhaushalt zu sehr von oben herab, aber, meint Beyer: »Ein Richter kann doch nicht gerecht über eine Dirne urteilen, wenn er seine Blankeneser Villa nur zum Golfen verläßt und nicht mal weiß, wie es auf der Reeperbahn aussieht.«