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HOCHSCHULEN Umfassende Kontrolle

Aachener Verwaltungsrichter haben die neun Jahre alten Regelungen für die Medizin-Prüfungen für rechtswidrig erklärt.
aus DER SPIEGEL 6/1981

Westdeutsche Medizinstudenten, die ihre Prüfungen nicht bestanden haben, können Hoffnung schöpfen. Gut tausend anhängige Widerspruchsverfahren und Prozesse, schätzt der Marburger Rechtsanwalt Peter Becker, zeigen mit einem Schlag »deutlich bessere Erfolgschancen« für die Studenten.

Mehr noch: Jene angehenden Ärzte, die in den bevorstehenden Prüfungen -- nächste Termine für etwa 20 000 Studenten ab Mitte März -- scheitern, gleichgültig ob beim ersten Anlauf oder endgültig, haben Aussicht, zunächst ohne Umschweife weiter studieren zu können: von Gerichts wegen über einstweilige Anordnungen.

Die Studienerleichterung verschafft ihnen das Verwaltungsgericht Aachen, das erste bundesdeutsche Gericht, das die in der Approbationsordnung für Ärzte verankerten Prüfungsregelungen der Medizinstudenten für »unwirksam« erklärt hat.

Das umstrittene »Multiple-choice«-Verfahren, bei dem Studenten zu jeder Prüfungsfrage unter mehreren vorgegebenen Antworten die richtige wählen müssen, sei »mangels einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig«, entschieden die Aachener Richter in dem jetzt zugestellten Urteil.

Der Richterspruch, den Anwalt Becker im Rechtsstreit mit dem nordrhein-westfälischen Arbeits- und Sozialministerium erfocht, ist -- obschon nur in erster Instanz -- von »grundsätzlicher Bedeutung« (Urteilstext). Denn die gerade neun Jahre alten Prüfungsregelungen für den Ärztenachwuchs stehen damit schon wieder zur Disposition.

Um die Rechtsunsicherheit an den Universitäten durch eine schnelle höchstinstanzliche Klärung zu bereinigen, hat das Gericht die Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen, unter Übergehung der zweiten Instanz.

Solange freilich gilt der Spruch der Aachener Richter. Und die sind mit dem für die Approbationsordnung verantwortlichen Bonner Gesundheitsministerium hart ins Gericht gegangen.

Auf dem Verordnungswege -- und mit Zustimmung der Bundesländer -hatte die Ministerin Käte Strobel zum 1. Oktober 1972 die ärztliche Ausbildung und das Prüfungswesen neu gestaltet.

Die mündlichen Prüfungen vor Ausschüssen der Medizinischen Fakultäten, die den Studenten durch Voreingenommenheiten einzelner Prüfer oder gezielte Ausleseverfahren mancherlei Ungerechtigkeiten bescherten, wurden, nach amerikanischem Muster, vom bundeseinheitlichen Multiple-choice-System ersetzt.

Jetzt verwarfen die Richter jene Neuerung, die »eine umfassende Wissenskontrolle« (Verordnungstext) zum Ziel hatte. Zwar sollte die Approbationsordnung die alte Bestallungsordnung ablösen, erkannten die Richter an, aber ohne »wesentlich von den früher S.84 geltenden Prüfungsverfahren« abzuweichen.

Die Forderung nach einer bundeseinheitlichen schriftlichen Prüfung hätte nach Ansicht der Richter »eine nur unwesentliche Modifizierung des bisherigen Verfahrens« bedeutet, nämlich »dahin, daß die Prüfungen künftig in der Art eines 'Zentralabiturs' abgenommen werden«, jedoch »individuelle Korrektur und Bewertung« gewährleistet bleiben.

Das neu verordnete Multiple-choice-System »geht über eine Modifizierung aber erheblich hinaus« und übersteige »den vom Gesetzgeber gezogenen Ermächtigungsbereich«, fanden die Richter. Auch weiche das neue Verfahren »entscheidend« vom herkömmlichen Prüfungssystem an Hochschulen ab:

* Das Multiple-choice-System werde »bundesweit mit einem für alle Kandidaten gleichen Fragenkatalog durchgeführt«;

* die Festlegung der zutreffenden Antwort erfolge »abstrakt im vorhinein durch eine Stelle ... die nicht an der Ausbildung beteiligt ist«;

* der Prüfling sei gezwungen, »nur eine Antwort anzukreuzen, ohne die gewählte Antwort begründen zu können«.

Vor allem die Auswirkungen des Multiple-choice-Systems auf das Studium hatten bislang schon Anlaß zur zum Teil heftigen Kritik gegeben. Mit Einführung der schriftlichen Studientests, klagte etwa der Berliner Medizingelehrte Udo Schagen, seien jene Studenten im Vorteil, die »in besonderer Weise darauf trainiert sind, sich in kurzer Zeit abfragbares Wissen anzueignen«.

Studenten kritisierten vielerlei Ungereimtheiten des »Monkey-Puzzle« (Uni-Jargon), etwa ungenaue und mißverständliche Beschreibungen von Krankheitsbildern oder Fragen nach Diagnosen, die selbst in Lehrbüchern noch strittig sind (SPIEGEL 15/1980).

Doch die Aachener Richter selbst dämpfen zugleich allzu große Hoffnungen auf eine Abkehr von der ungeliebten Prüfungsmethode. Es wäre »rechtlich wohl kaum angreifbar«, urteilten sie, wenn künftig, statt bundesweiter Regelung, einzelne Medizin-Fachbereiche sich des Studientests nach Multiple-choice bedienten. Solche Regelung wäre vielmehr »dem akademischen Gestaltungsraum« zuzuordnen, der durch Freiheit von Forschung und Lehre grundgesetzlich garantiert sei.

Das mag Jurist Becker nicht als Kompromiß akzeptieren. Für ein brauchbares Multiple-choice-System seien solide Kenntnisse der Testtheorie erforderlich, so der Hochschul-Experte, »und die hat kaum ein Medizin-Fachbereich«.

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