GASTARBEITER Unannehmbar, untragbar
Fernab in der Türkei gab sich der Kanzler als höflicher Gast: »Von den Leistungen der eine Million Türken in unserem Land«, so lobte Helmut Schmidt Ende Mai in Ankara, »bin ich außerordentlich beeindruckt.«
Inzwischen möchte der deutsche Regierungschef seine Elogen am liebsten ungesagt wissen. Grund: Die Türken machen zur Invasion der Bundesrepublik mobil.
Das Datum für den Einmarsch steht schon fest: der 1. Dezember 1976. An diesem Tage beginnt die zehnjährige Beitrittsphase, an deren Ende die Türkei als vollwertiges Mitglied in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen wird. Und vom gleichen Tag an wird, nach dem Assoziierungs-Vertrag zwischen der Türkei und der EG, die »Freizügigkeit der Arbeitnehmer ... schrittweise hergestellt«.
Die Bedeutung des Wörtchens »schrittweise« ist nach Ansicht der Bonner Regierenden offenkundig: Freizügigkeit für Türken kann es, wenn überhaupt. erst 1986, am Ende der Beitrittsfrist, geben, Die Türken aber verlangen sofortige Öffnung der Grenzen: »Die Arbeit unserer Landsleute«, so Premier Süleiman Demirel, »kommt vornehmlich den Deutschen zugute.«
Der türkische Regierungschef hat triftige innenpolitische Gründe für seine Argumentation. Jeder fünfte seiner arbeitsfähigen Landsleute ist derzeit in der Türkei ohne Job. Unmittelbar vor Verkündung des deutschen Anwerbestopps für ausländische Arbeitnehmer im Herbst 1973 hatten sich eine Million Türken um einen Arbeitsplatz im gelobten »Almanya« beworben. Und diese Zahl, schätzt der zuständige Experte im Bonner Arbeitsministerium, Wolfgang Bodenbender, »kann seither kaum kleiner geworden sein«.
Die deutschen Arbeitsmarktstrategen haben schon deshalb Angst vor den anatolischen Invasoren, weil sie in den nächsten vier Jahren ohnehin mit gänzlich ungewohnten Problemen fertig werden müssen. Die Fachleute des Arbeitsministers Walter Arendt rechnen damit, daß trotz Konjunkturaufschwung ein Sockel von 700 000 Arbeitslosen übrigbleibt.
Hinzu kommen noch 400 000 deutsche und 200 000 ausländische Jugendliche aus geburtenreichen Jahrgängen, die nach der Schulentlassung einstweilen vergeblich Job oder Lehrstelle suchen werden. Bis 1980 müssen zusammen 1,3 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um wieder Vollbeschäftigung zu garantieren. Doch noch hat Arendt kein rechtes Konzept, wie er sich dieser »großen Herausforderung« stellen soll.
Bisher ist dem Arbeitsminister, der in der Ausländerpolitik jahrelang vor sich hin wurstelte, nur eine Antwort eingefallen: Der Anwerbestopp für Ausländer »muß aufrechterhalten bleiben«. Hilfestellung auf diesem Kurs erhielt Arendt von seinen Kollegen aus den Bundesländern und vorn Sozialausschuß des Bundestags.
Doch was den Türken in der Europa-Euphorie der frühen sechziger Jahre, als in der Bundesrepublik Mangel an Arbeitskräften herrschte, versprochen wurde (Vertragstext: »Im festen Willen, immer engere Bande zwischen dem türkischen Volk und den in der EWG vereinten Völkern zu schaffen ..."), läßt sich durch Bonner Anträge und Deklamationen kaum rückgängig machen -- zumal die Türkei mit einem einflußreichen Verbündeten, der Brüsseler EG-Kommission, paktiert.
Die Europa-Beamten schlagen nämlich in ihrer Mitteilung Nr. (76)180 dem Ministerrat vor, daß vom 1. Dezember 1976 an
* alle offenen Stellen, für die sich EG-Bewohner nicht interessieren, Türken angeboten werden müssen,
* alle türkischen Gastarbeiter nach einjährigem Aufenthalt im Gastland den privilegierten EG-Bewohnern arbeitsrechtlich gleichgestellt werden und zudem
* ihre Familienangehörigen in die EG nachholen können, die dann -- entgegen den jetzigen Bestimmungen -- sogar automatisch eine Arbeitserlaubnis erhalten sollen.
Obendrein, so die Brüsseler Eurokraten, »wird es den Mitgliedsstaaten untersagt, neue Einschränkungen der Familienzusammenführung einzuführen«. Selbst auf die Gefahr hin, den Nato-Partner am Bosporus völlig zu verprellen, wollen die Bonner gegenüber diesen Ansinnen hart bleiben. Kanzler Schmidt selbst lieferte für die Verhandlungsrunde, die Ende Juli in Ankara die entscheidenden Details berät, die Parole: »Es hat keinen Zweck, Arbeitslose aus einem Land in ein anderes zu transportieren.« Dieser Weisung gemäß verwarf eine Bonner Staatssekretärsrunde die Brüsseler Empfehlungen mit pauschaler Strenge: »Nicht akzeptabel, unannehmbar und untragbar.«
Die Bonner Strategie: Sollten die acht EG-Partner Bonns, bei denen zusammen kaum 100 000 Türken arbeiten« Ankara zu weit entgegenkommen und ihre Grenzen arbeitslosen Anatoliern öffnen, dann sollen die deutschen Schlagbäume selbst für jene Türken geschlossen bleiben, die rechtmäßig etwa nach Frankreich eingereist sind und von dort in die Bundesrepublik weiterwandern wollen.
Einen Beleg für die deutsche Entschlossenheit will Walter Arendt seinen EG-Kollegen schon bald liefern -- zu Lasten jener 500 000 türkischen Frauen und Kinder, deren Ernährer legal in der Bundesrepublik arbeiten. Am 4. August, wenn erstmals die Bund-Länder-Kommission für Ausländerfragen tagt, soll geprüft werden, »auf welche Weise der weitere Familiennachzug begrenzt werden kann«.