PROZESSE / SCHUMANN Unbekannter Mann
Nach fast vierjähriger Untersuchungshaft in der Strafanstalt Butzbach wird in dieser Woche ein ghanesischer Staatsbürger dem Frankfurter Schwurgericht vorgeführt. Dem Mann aus Afrika wird Mord in mehr als 15 300 Fällen sowie Mitwirkung an unmenschlichen Experimenten mit menschlichen Opfern vorgeworfen.
Der Angeklagte heißt Dr. Horst Schumann, heute 64 und vor 30 Jahren Leiter der ersten deutschen Tötungsanstalt des NS-Regimes. Er war es, der an der Euthanasie-» Aktion Gnadentod« (NS-Jargon) maßgeblich mitwirkte und Sterilisations- und Kastrationsversuche im Konzentrationslager Auschwitz einführte und selber vornahm.
Mit Schumann, der bis 1966 im Sudan und in Ghana Eingeborene behandelte, steht zum erstenmal seit Kriegsende in einem Euthanasie-Prozeß ein Täter aus der kleinen Spitzengruppe leitender und verantwortlicher KZ-Ärzte vor Gericht. Schumanns einstige Kollegen bei der Ausrottung von Lagerhäftlingen, Juden und Geisteskranken sind tot oder untergetaucht; sie stehen auf Fahndungslisten oder entzogen sich durch Selbstmord der Strafverfolgung:
* Josef Mengele, Lagerarzt von Auschwitz, verbirgt sich nach Berichten von Augen- und Ohrenzeugen in Südamerika;
* Hanns Eisele, KZ-Arzt, den die ägyptische Regierung an die Bundesrepublik auszuliefern sich weigerte, starb im Mai 1967 in Kairo;
* Werner Heyde, Professor und Euthanasie-Spezialist, der viele Jahre nach dem Krieg unter dem Namen Sawade in Schleswig-Holstein praktizierte und sogar als Gerichtsgutachter tätig war, beging Selbstmord, ehe ihm der Prozeß gemacht wurde;
* Carl Clauberg, SS-Brigadeführer und Professor, der die Massensterilisation von KZ-Häftlingen durch Einspritzen einer Reizflüssigkeit empfohlen und realisiert hatte, starb 1957 in Untersuchungshaft;
Und Gerhard Bohne, Leiter der »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten«, verantwortlicher Funktionär der Aktion »T 4« zur Liquidierung von Geisteskranken und erster Auftraggeber Schumanns, wurde zwar 1966 von Argentinien ausgeliefert, doch endete das Strafverfahren 1968 wegen seiner Verhandlungsunfähigkeit mit einer Einstellung.
Ein Zufall brachte die Ermittlungsbehörden auf die Spur Schumanns. Im April 1959 berichtete ein Afrika-Reporter des Stuttgarter Wochenblatts »Christ und Welt« »Genau dort, wo der Sudan, der Kongo und Französisch-Äquatorialafrika zusammenstoßen, liegt mitten im Busch das Krankenhaus von LI Jubu ... Dort lebt mit seiner Frau der einsamste Deutsche, den ich je getroffen habe: Doktor Horst Schumann.«
Der Bericht rühmte; »Für 80 000 Menschen ... ist Doktor Schumann der einzige Arzt. Da das Hospital unmittelbar an der Grenze liegt, stempelt er aber auch die Pässe, befehligt die Polizei, ist eine Art Busch-Oberbürgermeister... Doktor Schumann ist gewiß kein Philosoph und ein unbekannter Mann. Er steht ganz einfach in den Diensten der Regierung des Sudans ... An manchen Tagen operiert er fünf, an manchen sieben Stunden.«
Der unbekannte Urwald-Samariter hatte sich dem »Christ und Welt«-Besucher als Arzt vorgestellt, der an der Erforschung der Schlafkrankheit besonders interessiert sei. Auf dem Photo, das den Bericht Illustrierte, erkannten das »Comité International des Camps« und die deutschen Strafverfolger den KZ-Arzt Schumann.
Damit begann die Jagd auf einen seit langem gesuchten Tötungsspezialisten und Gastod-Praktiker, der zuvor jahrelang unter seinem richtigen Namen in der Bundesrepublik als Arzt tätig gewesen war, Zwar hatte beim Nürnberger Ärzteprozeß im Jahre 1946 ein ehemaliger jüdischer Auschwitz-Häftling ausgesagt: »Der Leiter der Sterilisierungs- und Kastrierungsexperimente in Auschwitz war ein Dr. Schumann,«
Aber als bei einem Euthanasie-Prozeß im Sommer 1949 in Tübingen Schumann als Verantwortlicher der Krankenmorde in Grafeneck (Württemberg) genannt wurde, mußte das Gericht feststellen, der Wortführer der Grafenecker SS-Ärzte sei »in Auschwitz vermißt«.
Nach dem Hitler-Erlaß vom Herbst 1939, »unheilbar kranke Staatsbürger« durch »Gnadentod« zu beseitigen, war der 33jährige Luftwaffen-Arzt und Oberleutnant Dr. Horst Schumann von Hitlers Kanzlei als Altparteigenosse (Eintritt 1930) und besonders fähiger Mediziner ausgewählt worden, In Grafeneck mit dem Vollzug zu beginnen.
Die Frankfurter Staatsanwaltschaft beschuldigt Schumann nun, in Grafeneck seien 1940/41 unter seiner Verantwortung 829, danach in der Anstalt Sonnenstein bei Pirna 13 720 Geisteskranke umgebracht worden.
Diese Mord-Aktion war im Frühjahr 1941 durch die »Sonderbehandlung 14 f 13« ergänzt worden: Auch arbeitsunfähige und invalide KZ-Häftlinge sollten durch »Gasduschen« getötet werden. Nach den Ermittlungen der Ankläger reiste Dr. Schumann als Gutachter von Lager zu Lager und selektierte die Opfer.
Noch im gleichen Jahr wurde das Vernichtungsprogramm abermals erweitert: »Erbuntüchtige« und »rassisch minderwertige« KZ-Häftlinge, für die Nazis als Arbeitskräfte bis zum Tode gerade noch akzeptabel, sollten unfruchtbar gemacht werden. Mediziner Horst Schumann bot sich an, die Röntgenkastration als billige Methode für Massenkastrationen zu erproben.
Im Block 10 des Lagers Auschwitz begann Schumann -- laut Anklage -- mit 14- bis 18jährigen Griechinnen als Versuchspersonen. Viele der Mädchen erlitten so schwere Strahlen-Verbrennungen, daß sie unter Qualen starben, Überlebende wurden »zur Kontrolle« operiert -- bis zu zehn in einer Stunde. Männern wurden die Hoden zerstrahlt und dann herausgenommen, um die Wirkung zu prüfen.
Die Kastrations-Folter wurde erst 1944 nach einem Erlaß des Hitler-Kanzlei-Chefs Reichsleiter Bouhler beendet, weil sich der »Aufwand« für die »Versuche« nicht lohnte. Danach durfte Professor Clauberg Menschenleben mittels Experiment auslöschen.
Als der Krieg zu Ende war, ließ sich Dr. Schumann als Knappschaftsarzt in Gladbeck nieder, in seinen Papieren stand, er habe vor 1945 »Vertretungen« gemacht. 1951 benötigte Schumann, der einen Jagdschein haben wollte, ein polizeiliches Führungszeugnis, das in seinem Geburtsort Halle an der Saale -- wo er auch studiert und promoviert hatte -- angefordert wurde, Statt der Leumundsbescheinigung kam ein Haftbefehl der DDR-Behörden.
Alte Kameraden warnten den KZ-Arzt. Einen Tag vor seiner geplanten Verhaftung floh Schumann als Kohlentrimmer nach Japan, erfuhr dort, in Jokohama, daß der Sudan dringend Ärzte suche. Als die Regierung in Khartum nach dem unfreiwilligen Enthüllungs-Artikel in »Christ und Welt« von deutschen Behörden aufgefordert wurde, den Urwalddoktor und Lepra-Kolonie-Leiter auszuliefern, durfte der Deutsche fliehen -- über Liberia nach Ghana.
Dort, im Reich des selbsternannten »Erlösers« Kwame Nkrumah, war der weiße Arzt willkommen. Schumann durfte in Kete-Kratschi am Volta-Stausee ein Krankenhaus einrichten und als Bezirksarzt der ghanesischen Regierung per Flugzeug die Patienten eines riesigen Gebietes behandeln.
Bis zu Nkrumahs Sturz im Februar 1966 -- kurz zuvor hatte Schumann die ghanesische Staatsangehörigkeit erworben -- blieben alle westdeutschen Auslieferungsbegehren unerfüllt, und die DDR war bei dem Lenin-Preisträger Nkrumah gar nicht erst vorstellig geworden. Nach dem Militärputsch in der Hauptstadt Accra sperrten die neuen Machthaber Dr. Schumann -- mit Nierenblutungen und chronischer Malaria -- acht Monate ein, dann gab das höchste Gericht von Ghana dem bundesdeutschen Auslieferungsersuchen statt.
In der Lufthansa-Maschine, die Schumann am 16. November 1966 in Begleitung von zwei Kriminalbeamten nach Frankfurt transportierte, bestritt der KZ-Arzt im Gespräch mit einem Reporter, Freund und Schützling von Kwame Nkrumah gewesen zu sein. Vielmehr habe der Ghana-Herrscher den Fall als »Machtprobe« mit der Bundesrepublik betrachtet, Als Nkrumah abgesetzt wurde, »da wußte ich sofort: Jetzt kaufen sie dich mit der Entwicklungshilfe. Ghana kriegte ja auch sofort vierzig Millionen«.
Dem Frankfurter Schwurgericht unter Vorsitz des Oberamtsrichters Dr. Manfred Schnitzerling, das vier Bände Dokumentationsmaterial, Aktenberge aus früheren Euthanasie-Prozessen, 80 Zeugen und 34 schriftliche Aussagen inzwischen verstorbener oder vernehmungsunfähiger KZ-Insassen aufgeboten hat, wird die Wahrheitsfindung möglicherweise erleichtert.
Denn schon zweimal hat Schumann, dessen Ehefrau und drei erwachsene Kinder seit November 1965 in der Bundesrepublik leben, sich zur Tat bekannt. Im März 1967 wartete er als Zeuge im Verfahren gegen die NS-Ärzte Endruweit, Ullrich und Bunke mit einer genauen Schilderung des Todesbetriebs in den Vernichtungsanstalten auf, wo er auch selbst den Gashahn aufgedreht habe. In Sonnenstein, so Schumann, seien 1940/41 rund 20 000 Geisteskranke umgebracht worden.
Und auf dem Flug vorn Gefängnis in Accra zur Haftanstalt in der Frankfurter Hammelsgasse, wo er zuerst eingeliefert worden war, sagte Horst Schumann: »Das mit der Euthanasie-Anklage, das stimmt. Ich war der verantwortliche Mann in Grafeneck. Röntgen-Sterilisierungen habe ich auch gemacht, in Auschwitz ... Das war schlimm, was wir gemacht haben.«