ARGENTINIEN / PUTSCH Unbekannter Soldat
Drei Stunden lang debattierte Argentiniens Staatspräsident General Roberto Marcelo Levingston im Regierungspalast zu Buenos Aires mit den Oberbefehlshabern von Heer, Luftwaffe und Marine. Kurz nach acht bat der Staatschef um eine Erfrischungspause und verschwand.
Wenige Minuten später -- am letzten Montag -- erfuhr der Oberkommandeur des Heeres, Generalleutnant Alejandro Lanusse, der sich auf dem Korridor die Beine vertrat, daß der Präsident ihn soeben abgesetzt habe. Der Entlassene eilte Ins nahe Verteidigungsministerium und hielt mit seinen Kollegen von Marine und Luftwaffe Kriegsrat.
Noch vor Mitternacht begannen im Regierungspalais dienstbare Geister, die Habseligkeiten des Präsidenten fortzuschaffen; sie schleppten sieben Kartons, Bücher, Wäsche und die Generalsuniform Levingstons hinaus. Denn nicht Lanusse sollte gehen, so hatte die Junta beschlossen, sondern der Präsident.
So büßte das zweitgrößte Land Lateinamerikas seinen siebten Staatschef seit dem Sturz des Diktators Juan Domingo Perón ein. Diesen Rekord verdankt der Pampa-Staat der Tatsache, daß man in Argentinien, wie der französische Südamerika-Experte Marcel Niedergang formulierte, »nicht ohne und schon gar nicht gegen die Armee regieren kann«.
Von den Präsidenten nach Perón waren bis auf zwei alle entweder selbst Militärs oder von Militärs eingesetzt worden. Die beiden einzigen freigewählten zivilen Staatschefs -- der Rechtsanwalt Arturo Frondizi und der Arzt Arturo Illia -- wurden von Militärs gestürzt. Frondizi, weil er sich mit den verfemten, aber mächtigen Peronisten zu arrangieren versuchte, und Illia, weil er in den Augen der Armee nicht für Ruhe, Ordnung und Stabilität sorgte.
im Juni 1966 beschlossen die Militärs, Ruhe, Ordnung und Stabilität auf ihre Weise zu sichern: Unter Führung des Kavalleriegenerals Juan Carlos Ongania errichteten sie eine Militärdiktatur. Die Alleinherrschaft der Militärs in Argentinien, so prahlte Ongania, bedeute »das Ende eines Verfallsprozesses und den Beginn einer großen Hoffnung«.
Doch die Hoffnung trog, der Verfallsprozeß begann erst: Im Mai 1969 erklärten Arbeiter und Studenten der Diktatur den Krieg. Die nach wie vor mächtige peronistische Dachgewerkschaft C. G. T. legte durch Generalstreiks die Wirtschaft lahm, die Studenten bauten Barrikaden gegen Polizisten, Panzer und Paras. Allein in der Universitäts- und Industriestadt Córdoba gab es in jenem Mai 29 Tote.
Als Ongania schließlich auf eigene Faust Kontakte zu den rebellischen Peronisten suchte, servierte die Junta der drei Oberkommandieren ihn im Juni 1970 ab -- auf Betreiben des erbitterten Antiperonisten Lanusse, der unter Perón vier Jahre im KZ gesessen hatte. Die Tür seiner damaligen Zelle bewahrt er bis heute als Erinnerungsstück in seinem Büro auf.
Zum Ongania-Nachfolger erkor der starke Mann der Junta, Lanusse, den bis dahin kaum bekannten Geheimdienstspezialisten Roberto Marcelo Levingston, 51. Die Junta machte ihm zur Auflage, sich bei allen Fragen von »transzendentaler Bedeutung« mit ihr abzustimmen. Doch Levingston -- im Volksmund »der unbekannte Soldat« genannt -- konnte den Autoritätsverfall des Regimes nicht aufhalten.
Inspiriert von den Erfolgen der Tupamaros im Nachbarland Uruguay, heizten in Argentinien revolutionäre Kampforganisationen, die ideologisch von der äußersten Linken bis zur extremen Rechten rangieren, den Krieg gegen das Regime an und führten den Anspruch der Militärs ad absurdum, Garanten der Ordnung zu sein.
Fast täglich überfallen Guerillagruppen Polizeistationen, Supermärkte und Banken. Anteile vom Beutegeld zahlen sie in die Kasse streikender Arbeiter und demonstrierender Studenten, konfiszierte Lebensmittel verteilen sie an Slumbewohner.
Ein Stoßtrupp überfiel das San-Lucas-Sanatorium in Buenos Aires und ließ Arzneien und Instrumente für ein eigenes Hospital mitgehen. Partisanen eroberten die Provinzstädte La Calera und Garin und besetzten Fernmeldeämter, Rathäuser und Polizeiwachen. Dreimal in vier Wochen traten in Córdoba die Arbeiter in den Generalstreik; die seit 1966 verbotenen politischen Parteien schlossen sich nach chilenischem Vorbild zu einer Art Volksfront zusammen.
Die Militärs manövrierten das Land in »eine der schwersten Wirtschaftskrisen seit Jahren« ("The New York Times"). Allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres betrug die Inflationsrate zehn Prozent; die Fleischexporte, die über die Hälfte des Außenhandelsaufkommens stellen, gingen um über 50 Prozent zurück; im Rinderland Argentinien wurde Fleisch zur Schwarzmarktware.
Der Volkszorn gegen die »Untüchtigkeit und Inkompetenz« der Militärs ("The Times") entlud sich während des vergangenen Monats in Córdoba in einer Serie von Streiks, Fabrikbesetzungen und Straßenschlachten. Ohne seine Mentoren von der Junta zu befragen, schickte Levingston seinen Neffen als Gouverneur in die aufrührerische Provinz und setzte damit bürgerkriegsähnliche Protestaktionen in Gang. Als Levingston dem obersten Heerführer Lanusse befahl, Truppen nach Córdoba zu entsenden, weigerte sich der.
Damit war der Zwist zwischen Junta und Präsident zum offenen Machtkampf geraten. Doch der Sieger Lanusse, der sich selbst zum Präsidenten ernannte, scheint nicht mehr die rechte Freude an der unbequem gewordenen Macht zu haben:
Er ließ wissen, daß Argentinien in etwa zwei Jahren mittels freier Wahlen zu einem zivilen Regime zurückkehren solle. Die Partei des einst von den Militärs gestürzten Diktators Perón hätte dabei die besten Siegeschancen.