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INDUSTRIE / TECHNOLOGISCHE LÜCKE Unbewältigte Zukunft

aus DER SPIEGEL 9/1969

Zwei Jahre lang durchforschten zwölf Wissenschaftler und 20 Assistenten ein Weltproblem. Monatelang bereisten sie 21 Länder. Sie besuchten Rechenzentren, automatisierte Fabriken und Atommeiler, kletterten auf Prüfstände von Düsenaggregaten und diskutierten mit Dutzenden von Managern.

Nachdem sie fast eine Million Mark Reisespesen ausgegeben hatten, fuhren sie nach Paris zum Château de la Muette, dem Hauptquartier der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der 21 Staaten angehören. In dem Barockschloß brachten sie ihre Erkenntnisse zu Papier.

Das Skript wird 14 gedruckte Bände mit rund 1300 Seiten füllen. Es soll in den nächsten Monaten veröffentlicht werden. Die Enquete liest sich wie eine Krankengeschichte der europäischen Industrie. Das Leiden: »Technologische Lücken« -- so lautet auch der Titel der Untersuchung.

Die OECD-Forscher stellten unter anderem die Diagnose: »Vor dem Ersten Weltkrieg waren England, Deutschland und Frankreich zusammen die führenden Mächte der Welt in Wissenschaft und Technik. Seitdem hat Deutschland aus verschiedenen Gründen seine führende Stellung in der Wissenschaft verloren. Ein Hauptgrund war die Vernachlässigung von seiten des Staates. Es gibt kein Gebiet der Wissenschaft mehr, in dem Deutschland als führend bezeichnet werden könnte.«

So laufen die Deutschen, die in 24 Jahren ihre Vergangenheit nicht bewältigten, Gefahr, auch die Zukunft nicht zu meistern. Der Rückstand zeigt sich vor allem in den zukunftsträchtigsten Industriezweigen:

* der Elektronik,

* dem Flugzeugbau,

* der Weltraumfahrt und

* in vielen atomaren Bereichen.

Durch diese Lücke rückten die Dollar-Divisionen der amerikanischen Großkonzerne vor und überzogen die Bundesrepublik mit einem Netz industrieller Stützpunkte. Sie beherrschen zum Beispiel den Markt der elektronischen Datenverarbeitungsanlagen zu 80 Prozent (siehe Graphik Seite 49). Die International Business Machines Corporation (IBM), größter Büromaschinen-Konzern der Weit, produziert in einer Woche soviel Computer wie das zweitgrößte deutsche Industrieunternehmen, die Siemens AG, etwa in einem Jahr.

Die einst renommierte deutsche Flugzeugindustrie verkümmert im Schatten der luftraumbeherrschenden amerikanischen Aero-Tycoons wie Lockheed, McDonnell-Douglas und Boeing. Von der Weltraumfahrt ausgeschlossen, blieb der westdeutschen Industrie auch der Zugang zu den modernsten technologischen Erkenntnissen versperrt, die viele Industriezweige befruchten. Die Ingenieure und Manager der Bundesrepublik müssen sich mit den Verfahren und Patenten zufriedengeben, die Amerikas Giganten verkaufen, wenn sie mit noch leistungsstärkeren Erfindungen schon den nächsten Schritt in die Zukunft getan haben.

Vor dem Zweiten Weltkrieg war Deutschlands Pharmazie die Apotheke der Welt. Heute besitzt sie nur noch zwölf Prozent Anteil an der Weltpharmaproduktion, während die amerikanische Konkurrenz 50 Prozent eroberte.

Freilich hat die westdeutsche Wirtschaft immer noch beachtliche Exportumsätze zu verzeichnen (im vergangenen Jahr 99,5 Milliarden Mark). Doch 80 Prozent der Ausfuhrgüter sind Technik von gestern wie

* Volkswagen, Mercedes-Automobile und andere Fahrzeuge (14,1 Milliarden Mark),

* Maschinen (20,9 Milliarden Mark),

* Eisenwaren (4,1 Milliarden Mark),

* chemische Produkte (14,6 Milliarden Mark) und

* elektrotechnische Erzeugnisse (8,8 Milliarden Mark).

Die deutsche Industrie kann weder Nachrichtensatelliten noch Raumfahrzeuge anbieten; sie kann zwar Düsenflugzeuge bauen, aber keine internationale Luftfahrtgesellschaft will deutsche Jets. Obwohl westdeutsche Firmen seit 13 Jahren Atomreaktoren bauen, wurde bisher nur ein Kernkraftwerk ins Ausland -- nach Argentinien -- verkauft. Technik von morgen bestellen die anspruchsvollen Kunden heute in den USA, dem Land der Mondsonden und Atom-U-Boote.

Die amerikanische Wirtschaft verdankt ihre Welterfolge nicht nur der geballten Kapitalkraft ihrer Mammutkonzerne wie General Motors, Ford oder Standard Oil, sondern vor allem ihrer Regierung, die schon vor einem Jahrzehnt die große Zeitwende -- das oft beschworene postindustrielle goldene Zeitalter -- anvisierte.

Unvorstellbar für deutsche Begriffe: Von den 100 Milliarden Mark, die Amerika 1968 für Erforschung und Erprobung neuer Techniken und Produkte ausgab, steuerte der Staat allein 67 Milliarden Mark bei. Nur das restliche Drittel mußte die Industrie selbst aufbringen. Die Raumfahrtexperimente und die Entwicklung von Überschall-Jets werden zu 90 Prozent vom Staat finanziert.

Die OECD-Rechercheure stellten fest·. »Die USA investierten achtmal soviel öffentliche Gelder in Forschung und Entwicklung wie die sechs EWG-Länder zusammen.« So finanzierte Washington 61,8 Prozent aller Forschungskosten der Elektroindustrie und damit vorwiegend die Züchtung neuer Computer-Generationen.

Die westdeutsche Elektronik-Branche erhielt von Bonn nur eine minimale Unterstützung: vier Prozent der gesamten Forschungs- und Entwicklungskosten*.

Das multinationale Team der OECD -- darunter drei Deutsche, zwei Amerikaner und zwei Schweizer -- fand auch noch andere Motive, die Westeuropas technologische Lücke erklären:

Die amerikanischen Manager verdienen ihren Konzernen vor allem durch sogenannte Innovationen hohe Profite: Sie werten grundlegende Erfindungen -- besonders ausländische -- so geschickt aus, daß die daraus hergeleiteten Produkte und Verfahren den größten kommerziellen Nutzen bringen. Von 140 neuen Erzeugnissen der Metallindustrie, der Elektrotechnik und der Chemie, die während der letzten 15 Jahre auf den Markt kamen, stammten 60 Prozent aus den USA, 15 Prozent aus Großbritannien und nur zehn Prozent aus Westdeutschland.

Auch die Japaner machten viele Erfindungen erst marktreif. Sie stellen elektronische Elemente, Transistoren-Fernsehgeräte, Kameras und Elektronenmikroskope noch rationeller, perfekter und preiswerter als die Amerikaner und die Deutschen her.

Für den westdeutschen Export sind vor allem japanische Rundfunkempfänger, optische Geräte, Nähmaschinen, Autos, Lokomotiven, Tanker und Frachtschiffe eine gefährliche Konkurrenz. Schon 1967 stieß Japans Automobil-Industrie, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg -- zunächst auf dem asiatischen Markt -- den Europäern Konkurrenz machte, auf den zweiten Platz aller Fahrzeug-Produzenten der Welt vor. Im vergangenen Jahr überrundeten die Japaner zum erstenmal die Bundesrepublik -- wenn auch nur knapp -- mit ihrem ganzen Sozialprodukt.

Die Pariser Enquete legte aber auch noch eine andere Schwäche der westdeutschen Wirtschaft bloß: Ihr droht Vergreisung und technische Kolonisierung durch amerikanische und japanische Spitzenmanager, weil das Management vieler deutscher Unternehmen überaltert ist.

»Grauhaarig, mit gut durchbluteten rosigen Gesichtern, oftmals mit Brille, die bei einem Hauch von Rührung beschlägt«, so beschreibt der Frankfurter Personalberater Dr. Maximilian Schubart den Normaltyp des deutschen Spitzenmanagers. Die amerikanischen Bosse sind durchschnittlich zehn Jahre jünger. Im deutschen Management regiert die Gerontokratie, die Herrschaft der Alten.

62 Jahre war Dr. Hans Heyne, als er AEG-Generaldirektor wurde, im gleichen Alter übernahm der heutige Konzernchef Dr. Hans Bühler den Vorsitz. Mit 62 Jahren avancierte Prof essor Paul Rheinländer zum Nachfolger von Dr. Konrad Ende, der, 70jährig, nur widerwillig den Vorstandsvorsitz der Salzgitter AG abgab. Fast 70 Jahre alt war Dr. Hermann Reusch, als er die Leitung des Gutehoffnungshütte-Konzerns niederlegte, und mit 69 Jahren beharrte Heinrich Nordhoff noch auf seinem VW-Thron.

Wegen all dieser Miseren -- der technologischen, finanziellen und Management-Lücken -- glaubt der amerikanische Futurologe Herman Kahn,

* In Frankreich übernahm der Staat 29,9 Prozent dieser Kosten, in Schweden 36,6 Prozent.

daß bis zum Jahre 2000 nur die US-Amerikaner, Kanadier, Japaner und Schweden die höchste Wohlstandsstufe der »postindustriellen Gesellschaft« erreichen werden, die jedem Bürger ein Jahreseinkommen von 32 000 bis 64 000 Mark garantiert.

Nach Kahns Schätzung müßte sich der Durchschnittsdeutsche im Jahre 2000 mit etwa der Hälfte dieser Summe begnügen, wenn die technologische Lücke nicht schnellstens geschlossen wird. Die Deutschen wären dann, wie alle Völker. die den Brückenschlag zum nächsten Säkulum versäumten, nur noch Heloten der Konsumgesellschaft im Schlepptau der führenden Wirtschaftsmächte.

Schon heute zeichnet sich die technologische Kluft als tiefer Einschnitt in der Leistungskurve ab: In den USA erzeugt jeder Erwerbstätige im Durchschnitt Waren oder Dienstleistungen im Werte von 37 500 Mark, in der Bundesrepublik hingegen nur für 15 600 Mark.

Die gleiche Produktionsleistung, die zum Beispiel ein Ford- oder General-Motors-Mann in Detroit vollbringt, erfordert in deutschen Automobilwerken den Einsatz von 2,4 Arbeitern. In den automatisierten Chemiebetrieben Amerikas schafft ein Lohndiener der Roboter-Batterien zweieinhalbmal soviel wie ein westdeutscher Chemiearbeiter.

Das Bonner Establishment -- unter den Bundeskanzlern Adenauer und Erhard jeder Planung und mithin auch jedem langfristigen Forschungsziel abhold erkannte nicht die Rolle des Staates als Schrittmacher ins dritte Jahrtausend. Es ließ zwar eine Art Forschungsministerium entstehen, aber es war ein Produkt wahlarithmetischen Fingerhakelns.

Als nach der Bundestagswahl 1953 um die Ministersessel gefeilscht wurde, fühlte sich die CSU um einen Posten betrogen. Da die konventionellen Ressorts schon vergeben waren, erhielt der CSU-Manager Franz-Josef Strauß ein Sonderministerium, das 1955 in Atom-Ministerium, später in Ministerium für wissenschaftliche Forschung umbenannt wurde. Doch diesem Ministerium fehlt die Exekutivgewalt, notwendige Strukturänderungen zu steuern, vor allem fehlen ihm die finanziellen Mittel.

Die Welt von morgen wird heute in den Forschungsstätten und Laboratorien vorbereitet. In den amerikanischen .Forschungszentren der Industrie und in den .Hochschulinstituten tüfteln 435 000 Wissenschaftler und Ingenieure an neuen Produkten und Verfahren.

In der Sowjet-Union schürfen 416 000 technische Geistesarbeiter nach dem Gold der Zukunft, in Japan brüten 115 000 Physiker, Chemiker und Ingenieure der Zukunftsindustrie über neuen Konkurrenzprodukten und noch billigeren rationellen Fertigungsmethoden. Die Bundesrepublik hingegen verfügt nur über 40 000 technologische Eierköpfe.

Fast 20 Milliarden Mark steckt die Bundesregierung jährlich in die Destruktionsbranche Rüstung; die geistige Rüstung ist ihr nur 1,9 Milliarden Mark wert, davon sind 655 Millionen für die Hochschulen bestimmt, 659 Millionen für Kernenergie-Forschung und -Nutzung und 324 Millionen für die Beschäftigung mit Problemen der Weltraumfahrt.

Als die Bundesfinanzen noch gesund waren und im Bonner Juliusturm sieben Milliarden Mark Haushaltsreserven lagen, verplemperte die Regierung den Hort neben den vielen Wahlgeschenken. Der CDU-treue Nährstand schluckte seit 1949 rund 40 Milliarden Mark Bonner Kraftfutter. Neben der grünen Subventionssaat wucherten noch 492 andere Arten staatlicher Zuschüsse.

Jahrelang zahlte der Bund 300 bis 400 Millionen Mark »Konsumbrot«-Subventionen an Müller und Bäcker. Der chronisch strukturkranke Steinkohlenbergbau erhielt Jahr für Jahr zwei Milliarden Mark Erhaltungssubventionen.

An der Fehlleitung öffentlicher Mittel hat sich auch 1968 nicht viel geändert. Bund, Länder und Gemeinden gaben im vergangenen Jahr rund 40 Milliarden Mark für Subventionen aus, doch nur vier Prozent dieser Summe schaffen bessere ökonomische Voraussetzungen für den Fortschritt; ein Drittel der Milliarden-Ausschüttung, darunter die Agrar- und Kohle-Subventionen, wirken sogar als Fortschrittsbremse.

Für die Luftfahrttechnik kann Bonn nur 42 Millionen Mark erübrigen, für die Stützung der Magermilcherzeugung hingegen 412,5 Millionen Mark. Die westdeutschen Meeresforscher, die neue Eiweißquellen erkunden und für die moderne Ernährungswissenschaft Pionierarbeit leisten, müssen sich mit fünf Millionen Mark begnügen, Chester-Käse wird indes mit 19,4 Millionen Mark subventioniert.

Freilich würden auch die verplemperten Milliarden nicht ausreichen, alles und jedes zu erforschen. Bei der Kompliziertheit moderner Technik kann kein Land auf allen Gebieten Höchstleistungen vollbringen. Gleichwohl sollten Regierung und Parlament endlich die Prioritäten festlegen.

Die Atomtechnik verdient es, besonders stark gefördert zu werden, denn Westdeutschlands führende Kernenergieforscher übersprangen die erste Reaktor-Generation und entwickeln jetzt den modernsten Typ, schnelle Brüter. Sie könnten in einigen Jahren ein deutscher Exportschlager sein.

In diesen Reaktoren werden die beim Spaltungsprozeß frei werdenden energiereichen (schnellen) Neutronen nicht, wie bei den meisten Reaktortypen, durch Schwerwasser, Graphit oder andere Moderatoren gebremst. Erfolg: Im Reaktor wird nicht nur Energie freigesetzt, sondern gleich-

* SPIEGEL-Titel 15/1967.

zeitig das schwer spaltbare Uran 238 in spaltbares Plutonium, neuen Reaktor-Brennstoff, umgewandelt.

Schnelle Brüter sind die Goldesel der Atomphysik. Kraftwerke, die mit diesen Anlagen betrieben werden, können dereinst -- nach Schätzung der Experten -- die Kilowattstunde Strom für 1,4 bis 1,8 Pfennig liefern, während die aus Kohle erzeugte Elektro-Energie trotz staatlicher Subvention 3,5 Pfennig kostet.

In einigen Teilen Nordrhein-Westfalens, Niedersachsens, Badens und Bayerns kochen die Hausfrauen schon mit Atomstrom, den die Kernkraftwerke Lingen, Obrigheim und Gundremmingen erzeugen. Bund und Länder förderten die Atomtechnik bisher mit über fünf Milliarden Mark, aber gleichzeitig bremsen sie diese Entwicklung durch Gegensubventionen.

Aus Sorge um die Wählerstimmen der Ruhrkumpel unterstützt die Regierung den Bau von Kohlekraftwerken und zahlt allen Stromerzeugern, die möglichst viel Kohle unter ihre Kessel schieben, 15 Jahre lang Zuschüsse -- Insgesamt 1,65 Milliarden Mark. So halten die Bonner Politiker überholte Strukturen künstlich am Leben und überlassen es den Unternehmern, sich in den USA -- meist gegen Preisgabe der Selbständigkeit -- einen Partner zu suchen, der sie in die Zukunftsindustrie einführt.

Fast jede namhafte deutsche Firma schloß mit Amerikanern Lizenzverträge ab. 1967 gab die westdeutsche Wirtschaft 788 Millionen Mark für ausländische Patente und Lizenzen aus; sie selbst erhielt für ihren Geistesexport nur 359 Millionen Mark.

Das höchste Lizenz-Defizit leistete sich die Elektroindustrie, die ohne amerikanische Kybernetik und Elektronik nicht auskommen kann. Nur die Chemie deckt 70 Prozent ihres Lizenzimports mit eigenen Patentverkäufen. Sie zehrt noch von der Substanz jener Glanz-Epoche, als deutsche Wissenschaftler und Forscher die Welt veränderten

Hundert Jahre lang hatte sich der Furor teutonicus nicht nur in Kriegen, sondern auch in geistigen Explosionen entladen. Die ersten Nobelpreisträger der Naturwissenschaften, wie Wilhelm Conrad Röntgen, Emil Fischer und Robert Koch, repräsentierten das fortschrittliche Deutschland. Unter den 263 Physikern, Chemikern und Medizinern der Nobelpreis-Elite waren bisher 48 Deutscher Nation*.

»Heute gehen die Nobelpreise nach Berkeley und nicht nach Berlin, triumphierte der Kolumnist Paul A. Samuelson im Nachrichtenmagazin »Newsweek«. Zu dieser Wendung trug der »Brain Drain« bei -- der geistige Aderlaß Europas. Schon während der Hitler-Ära verlor Deutschland 2000 prominente Wissenschaftler, die als politisch Verfolgte nach Amerika emigrierten, darunter Albert Einstein und der Physiker James Frank, der für seine Atomtheorie (Anregung und Ionisierung verdünnter Gase) den Nobelpreis erhielt,

Nach dem Zusammenbruch machten die Alliierten Razzia auf deutsche Gehirne und ihre Geheimnisse. Die Sieger plünderten die Safes der Verlierer. Allein die Chemie büßte 24 000 Warenzeichen, 200 000 Schutzmarken und 200 000 Auslandspatente im Wert von 40 Milliarden Mark ein. Aus der deutschen Optik-Hochburg Zeiss in Jena karrten die Amerikaner 46 Güterwagen, vollgepackt mit Spezialgeräten und Patentschriften, in ihr Hoheitsgebiet.

Auf Befehl des Oberkommandos der Roten Armee wurden 5000 deutsche Wissenschaftler zum Dienst in der Sowjet-Union eingezogen. In Jena demontierten die Russen 94 Prozent aller Maschinen und ließen sie in der Sowjet-Union von 273 Zeiss-Experten aufbauen.

Die US-Armee startete ihre »Operation Paperclip« (Unternehmen Papierklammer). Großdeutschlands Raketenchef Wernher von Braun und seine arbeitslosen V-Waffen-Männer wurden vom amerikanischen Heer rekrutiert. Die Zahl der deutschen Wissenschaftler, die bis zum Jahre 1949 in die Vereinigten Staaten gingen, wird auf 4000 geschätzt.

Andere verdingten sich dort, wo ihre technische Kunst noch gefragt war. Der Flugzeugfabrikant Willy Messerschmitt baute in Spanien, der Konstrukteur Kurt Tank in Argentinien und Indien Düsenmaschinen. In Nassers Reich entwickelten deutsche Teams ägyptische Raketen.

In den Ländern der Sieger wurden die Gehirne der Verlierer in staatliche Forschungsprojekte eingespannt. Und sie funktionierten: Schon am 30. Oktober 1947 raste die erste auf der Peenemünder V2-Entwicklung beruhende Russenrakete in den Himmel über Kasachstan. Als am 4. Oktober 1957 alle Völker die Signale des Sowjet-Satelliten Sputnik I hörten, erklärte der Komiker Bob Hope seinen schockierten Landsleuten auf seine Weise den spektakulären Erfolg: »Das ist ganz einfach, ihre Deutschen sind eben besser als unsere Deutschen.«

Erst am letzten Januar-Tag 1958 zogen Amerikas Deutsche mit Rußlands Deutschen gleich, als sie den US-Satelliten Explorer I in die Erdumlaufbahn schossen. Eine verbesserte Version der alten V2-Rakete, eine eilig umgebaute Jupiter-Rakete der US-Armee, hatte ihn hochgetragen.

Ihrem Heimatland blieben die Wissenschaftler auch dann noch fern, als 1955 die alliierten Verbote fielen und die souveräne Bundesrepublik Atomreaktoren und Flugzeuge bauen durfte. Für Deutschlands Eggheads blieb Amerika das Elysium des technischen Fortschritts; in Regimentsstärke marschierten sie ins gelobte Land.

Insgesamt wanderten 100 000 ausländische Eierköpfe nach den USA aus. Für diese technologische Fremdenlegion stellten die Deutschen die Offiziere und Unteroffiziere. So holte zum Beispiel die International Business Machines Corporation den deutschen Erfinder Dr. Gerhard Dirks in ein IBM-Forschungszentrum. Er hatte

* 81 Nobelpreisträger der Naturwissenschaften stammen aus den USA, 46 aus Großbritannien, 19 aus Frankreich und neun aus der Sowjet-Union.

vor 25 Jahren die elektronische Magnettrommel und -platte konstruiert, die zu den wichtigsten Elementen der Computertechnik gehörte.

Da er bei der deutschen Industrie nicht landen konnte (Dirks: »Das Interesse der Großen schien sich mehr darauf zu konzentrieren, wie sie an den Lizenzgebühren vorbeikommen könnten"), wanderte er 1959 nach Kalifornien aus.

Ein anderer erfolgreicher Erfinder, der frühere Siemens-Ingenieur Konrad Schoebel, 45, ließ sich von der Ampex Corporation in Redwood City anheuern und entwickelte in seiner Freizeit ein magnetisches Registriergerät für die Aufzeichnung von Gammastrahlen bei Atomexplosionen. Der ehemalige Schlesier besitzt heute ein eigenes Industrieunternehmen und ist Dollar-Millionär.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht mindestens ein Akademiker der Bundesrepublik den Rücken kehrt, darunter unzufriedene Dozenten wie der Münchner Psychiater Dr. Unterharnscheidt, der in Texas einen Lehrstuhl erhielt, und der Heidelberger Mediziner Dr. Hans Günter Nöller, Erfinder einer schluckbaren winzigen Radiosonde zur Untersuchung des Magen- und Darmtraktes. Er lehrt heute an der Duke University in North Caroline.

Noch immer müssen deutsche Wissenschaftler fürchten, in ihrem eigenen Land überflüssig zu sein. So kündigte das Institut für Kernenergetik an der Technischen Hochschule Stuttgart, das sich mit Projektstudien für die nukleare Energieversorgung von Raumschiffen befaßt, vor einiger Zeit von 27 Mitarbeitern zwölf Experten; drei Wissenschaftlern wurde nahegelegt, bei gekürzten Bezügen weiterzuarbeiten. Grund: zuwenig Geld.

Mit dem gleichen Argument mußte Bonn seinen Beitrag für Flugzeug-Entwicklungen von 297 Millionen Mark auf 120 Millionen reduzieren. Zum 31. März 1967 mußten die Flugzeugfirmen jedem siebten ihrer 8500 Fachkräfte blaue Briefe ins Haus schicken. In München siedelten sich ausländische Abwerber an und versprachen den arbeitslosen Deutschen, außerhalb der Bundesgrenze würde ihr Wissen dringend benötigt und gut bezahlt.

Besonders rührig war das New Yorker Talentsucher-Unternehmen »Careers Incorporated«. Sein Chef, William A. Douglass, pflückt nur die Blumen der wissenschaftlichen Jugend Europas«, stellte der junge deutsche Volkswirt Dr. Arno Morenz fest, als er in den USA die Motive des Brain Drain erforschte: »Douglass pflückt die Elite zum höheren Profit der amerikanischen Industrie*.« Allein die Ernte in den Jahren 1965 und 1966 erbrachte 500 neue Ingenieure, Techniker und Wissenschaftler für amerikanische Betriebe.

Nur wenige Experten, wie der Münchner Physiker Karl Heinz Steigerwald, widerstanden der Verlockung. Der Münchner Technologe entwickelte ein besonderes Verfahren der Elektronen-Strahltechnik zum Schweißen, Bohren und Fräsen komplizierter

* Arno Morenz: »Warum sie Deutschland verlassen«. Econ-Verlag, Düsseldorf; 201 Seiten; zehn Mark.

Werkstücke und Materialien, wie sie bei Überschall-Jets, Atomreaktoren, Raumfahrtraketen und winzigen Transistoren-Elementen verwendet werden.

Steigerwalds Elektronen-Strahlkanonen (Preis: zwischen einer halben Million und mehreren Millionen Mark) bohren in einer Sekunde bis zu 100 000 Löcher. Zu seinen Kunden gehören Weltfirmen wie Rolls-Royce, British Aircraft, Daimler-Benz und General Electric.

Die amerikanischen Tycoons bemühten sich vergeblich, Steigerwald einzukaufen oder wenigstens seine Patente zu erwerben. Der deutsche Fachmann, der in München mit seinem Team von Wissenschaftlern und Ingenieuren den ersten Spezialbetrieb für. Verfahren und Maschinen der Strahltechnik errichtete, lehnte ab. Aber er war bereit, den Amerikanern Strahlenkanonen für die schwierigsten Zwecke zu konstruieren.

Als der Westinghouse-Konzern in Pittsburgh bei der Herstellung des Kernreaktors für ein Polaris-U-Boot auf ein unüberwindlich scheinendes Problem stieß, flog Steigerwald über den Atlantik und löste es mit seiner Kanone.

Er übernahm auch Spezialaufgaben beim Bau der Europa-I-Rakete und des Überschallflugzeugs Concorde. Seine filigrane Bohr- und Schweißtechnik half Rolls-Royce, die Pegasus-Turbine, ein besonders leistungsfähiges Triebwerk für Senkrechtstarter, zu entwickeln.

Zu ähnlichen Hilfeleistungen zogen die Amerikaner auch andere westdeutsche Pionier-Unternehmen heran. Sie gewannen zum Beispiel Deutschlands berühmtesten Glasproduzenten Schott & Gen., früher in Jena, heute in Mainz, für Mitarbeit im Raumfahrtprogramm. Schott durfte eine Tochtergesellschaft für optische Produkte in den USA gründen.

Auch Zeiss fertigte Optiken für Weltraumkameras; Siemens baute Sende-Röhren für die Mars-Sonde Mariner IV. Die Bayer-Werke in Leverkusen leisteten einen winzigen Beitrag zur Mondfahrt: Sie entwickelten den Werkstoff Polyurethanschaum, der als Stoßdämpfer in die Zwischenräume der aus mehreren dünnen Wänden bestehenden Mondkapsel Apollo 8 geblasen wurde. Mit dem schallisolierenden Kunststoff wurden auch die Schutzhelme der Astronauten gepolstert. Aber über die Rolle der kleinen Zulieferanten wuchs die westdeutsche Industrie nicht hinaus.

Während sie nur technische Bagatellen in den USA absetzte, lieferte das Land der bewältigten Zukunft das komplette Know-how für ganze Industrien. So ließ sich die Siemens AG von der Radio Corporation of America (RCA) in das Wunderland der Elektronik einführen, nachdem sich der Siemens-Vorstand jahrelang mit der Devise getröstet hatte: »Ein gutes Roß zieht langsam an.«

RCA verkaufte dem Siemens-Konzern nicht nur Lizenzen und elektronische Bauelemente, sondern schickte ihm auch 50 Entwicklungshelfer. Dieser Start, einschließlich der neuen Fabrikeinrichtungen, kostete etwa eine halbe Milliarde Mark. Unter dem Chefmathematiker Professor Dr. Heinz Gumin arbeiten heute 1900 Forscher und Entwickler im Siemens-Computer-Labor,

Obwohl die Firma bisher 673 Datenverarbeitungsanlagen im Werte von 1,2 Milliarden Mark herstellte, verdiente sie mit dem neuen Produktionszweig bisher noch keinen Pfennig. Doch Vorstandsvorsitzer Gerd Tacke hofft: »Auf lange Sicht werden die Computer eines unserer ertragreichsten Gebiete.« Dabei setzt der Konzernchef nicht nur auf die Großcomputer nach RCA-Lizenz, sondern auch auf die von Siemens selbst entwickelten Betriebs- und Prozeßrechner.

Großcomputer, die etwa ein bis zwei Millionen Mark kosten, können die Lohnbuchhaltung eines Großunternehmens ersetzen. Sie errechnen die Gehälter, einschließlich Stevern und Abzüge, für Zehntausende von Arbeitern in etwa 25 Minuten.

In wenigen Sekunden ermittelt ein solcher Roboter in der Frankfurter Privatbank Berliner Handels-Gesellschaft täglich für jeden Depotkunden den Börsenwert seiner Aktien. Lichtzeichen alarmieren die Effektenhüter, wenn der Wert eines Depots unter die Kreditsumme sinkt, die ein Bankkunde dafür in Anspruch genommen hat.

Betriebs- und Prozeßrechner operieren auf schmalerer Spur. Sie steuern Maschinen und überwachen Produktionsanlagen, aber auch den Straßenverkehr. Ein Siemens-Rechner regelt zum Beispiel im Berliner Stadtteil Wilmersdorf die Grüne Welle. Elektronische Fühler (Detektoren) nehmen auf 120 Kreuzungen den Autoverkehr auf und melden ihn dem Computer, der die Ampeln steuert. Die Richtung mit dem stärksten Verkehr erhält zuerst grünes Licht.

Vom Big Business der amerikanischen Großcomputer-Industrie ausgeschlossen, züchteten westdeutsche Elektroniker eine neue Rasse von Büro- und Buchungsmaschinen. Die Firmen Nixdorf-Wanderer und Kienzle installierten bereits 10 400 dieser Kleincomputer. Den größten Erfolg in dieser Mini-Branche hatte der Physiker Heinz Nixdorf, den einst sein Mathematik-Lehrer auf dem Gymnasium vom Unterricht befreit hatte, wer er als Rechengenie seinen Mitschülern weit voraus war.

Heute produziert der Paderborner Fabrikant mit seinen 1600 Technikern und Facharbeitern täglich 15 Bürorechner und kassiert jährlich etwa sieben Millionen Mark Gewinn.

57 Prozent aller Computer in der Bundesrepublik tragen das Zeichen des amerikanischen Elektronik-Riesen IBM (27,5 Milliarden Mark Jahresumsatz). Selbst Ulbrichts Ost-Berliner »Zentrum Organisation und Datenverarbeitung im Bauwesen« beschaffte sich ein IBM-Exemplar der sogenannten dritten Generation, eine Datenverarbeitungsanlage mit miniaturisierten Schaltkreisen.

Die Hamburger Kosmetikfirma Hans Schwarzkopf ließ sich nach eigenen Ideen von IBM einen Duft-Computer bauen. Der elektronische Mixer ermittelt für jeden Bestandteil eines neuen Parfüms, Kopfwassers oder einer Creme genau die Menge, die dem Produkt den angenehmsten Effekt verleiht.

Westdeutschlands größtes Versandhandeishaus Quelle in Fürth ließ sich von IBM ein elektronisches Wunderwerk, den ersten elektronisch-optischen Handschriftenleser auf dem Kontinent, entwickeln. Er registriert auch bei nicht ganz exakter Schrift die in Bestellziffern angegebenen Kundenaufträge und signalisiert sie dem Warenauslieferungslager.

Noch vor drei Jahren konnte kein handelsüblicher Computer diese Aufgabe erfüllen. Doch viele phantastische Projekte sind noch nicht ausgereift. Es gibt zwar schon komponierende, dichtende, malende und schachspielende Computer, aber noch keine kybernetische Schreibmaschine, in die man nur hineinzudiktieren braucht und aus der nach dem Diktat das fertige Schreiben herausfällt.

Die ungelösten Probleme spornten die westdeutschen Elektro-Industriellen an, selbst Neuland zu erforschen. Der Konkurrenzkampf im Computer-Reich wird mit Rekordgeschwindigkeiten von Nano(Milliardstel)-Sekunden geführt. Heute bewältigen die schnellsten Roboter zehn Millionen Operationen in einer Sekunde, die nächste Computer-Generation soll diese Leistung abermals vervielfachen.

Der Münchner Grollindustrielle Ernst von Siemens fürchtet: »Wir sind aber auf die Dauer überfordert, wenn wir allein aus eigener Kraft das erreichen wollten, was die amerikanischen Unternehmen mit umfangreicher Unterstützung des Staates schaffen.« Bonn hatte für die Elektronik-Forschung bisher nur 67 Millionen Mark übrig.

Am schwersten fällt es jedoch der auftragsarmen westdeutschen Flugzeugindustrie, sich ohne Starthilfe vom Boden zu erheben. Sie lebt von verflossenem Ruhm: Am 18. Juli 1942 startete auf dem geheimen Flugplatz Leipheim bei Ulm das erste Serien-Düsenflugzeug der Welt, Willy Messerschmitts Me 262.

Amerikas erste Düsenmaschine, die Lockheed P-80 Shooting Star, flitzte erst im Januar 1944 von der Piste, als Messerschmitt bereits über 1000 Jets gebaut hatte. Aber heute beherrschen die amerikanischen Jet-Fabriken den Weltmarkt (85 Milliarden Mark Einnahmen in zehn Jahren), während die Messerschmitt- und Heinkel-Nachfolgegesellschaften sich mühsam von Nato-Brosamen ernähren. Als die Alliierten der deutschen Flugzeugindustrie 1955 wieder Produktionserlaubnis erteilten, durfte sie den amerikanischen Starfighter montieren. Dann baute sie in Koproduktion mit der französischen Nord-Aviation den Transportgiganten Transall C-160, ferner im Alleingang Sportmaschinen und Manager-Jets. Aber kein Typ wurde ein Schlager.

Um die Misere zu überwinden, versuchte Dornier vertikal aufzusteigen. Seine Werke in Immenstaad entwickelten den ersten Lasten-Senkrechtstarter der Welt mit Strahlantrieb (Do 31). Er soll drei bis fünf Tonnen Nutzlast mit 650 Kilometer Stundengeschwindigkeit befördern. Nachdem der Prototyp am 10. Februar 1967 von seinem Jungfernflug zurückgekehrt war, zog das Bundesverteidigungsministerium seine helfende Hand zurück. Der Etat war erschöpft. Für fünf Millionen Dollar wurden die Erfahrungen der ganzen Entwicklung an die USA-Raumfahrtbehörde Nasa verkauft.

Die finanzschwachen Flugzeugbauer hofften, besser ins Geschäft zu kommen, wenn sie sich mit amerikanischen Großfirmen liierten. In Süddeutschland gewann die Bölkow GmbH, die vor kurzem mit Messerschmitt fusionierte, die Boeing Company als Partner. Im Norden öffnete Focke Wulf der United Aircraft Corporation und der International Standard Electric die Werktore. Auch Krupp und Heinkel traten dieser Gruppe bei, die sich nach der Fusion »Vereinigte Flugtechnische Werke« (VFW) nennt.

Sie tüftelt seit fünf Jahren an einem Jet, der als erstes Düsenflugzeug der Welt auch auf Kurzstrecken rentabel fliegen soll. Vor wenigen Wochen sagte der Bund endlich Kredithilfe für das 208-Millionen-Mark-Projekt zu. Gespannt warten die deutschen Flugzeugfirmen auf ihren Part an einem supranationalen Projekt: Engländer, Franzosen und Deutsche wollen gemeinsam einen Omnibus der Luft mit 300 Passagierplätzen entwickeln, der in drei bis vier Jahren den Massenverkehr in Europa bewältigen soll.

Seit 1961 wird über das Projekt und seine Finanzierung lamentiert. Die amerikanische Großkonkurrenz McDonnell-Douglas und Lockheed handelte indessen. Sie warb bereits internationale Luftfahrtgesellschaften als Kunden für ihre Parallel-Entwicklung, den Airbus DC-10 und den Lockheed-Typ L 1011.

Im Weltall demonstrieren Indes Amerikas Raumfahrttechniker mit Atlas-, Centaur- und Saturnraketen, daß Europa ihnen nicht mehr zu folgen vermag. Es zählen nur noch die sowjetischen Giganten.

Der Wettkampf der Titanen befriedigt nicht nur das nationale Prestigebedürfnis der Supermächte, sondern regt auch viele Industriezweige zu technischen Spitzenleistungen an. Seit »Telstar«, »Early Bird« und der sowjetische Trabant »Molnija 1« eine neue Ära der Nachrichtentechnik einleiteten, wurden weitere Varianten ersonnen.

In wenigen Jahren werden Radio- und Fernsehsender ihre Programme ohne komplizierte Antennen über Satelliten ausstrahlen. Die Amerikaner entwickelten sogar Weltraumkapseln, deren Fernsehkameras und Meßfühler alle Veränderungen der Erdoberfläche, zum Beispiel bevorstehende Vulkanausbrüche, melden und Bodenschätze orten.

Der Wettbewerb im Weltenraum zeugte auch neue Technologien, von denen alle Industriezweige profitieren, zum Beispiel die winzigen Halbleiter, auf denen sich ganze Schaltungskomplexe konzentrieren. Während der Suche nach geballten Energiequellen, die wenig Raum beanspruchen, wurden Generatoren erfunden, die chemische oder nukleare Energie unmittelbar in Elektrizität umwandeln. Sie werden vielleicht eines Tages den Verbrennungsmotor verdrängen.

Die Mikro-Elektroniker übertrafen einander mit zwerghaften Gebilden. Sie ersannen einen Miniatur-Rundfunkempfänger, der auf einen Teelöffel paßt, und das Micro Eye, die kleinste Fernsehstation der Welt -- nicht größer als eine Zigarettenschachtel im King-Size-Format. Als Zulieferer spielt die deutsche Industrie sogar eine winzige Satellitenrolle. Die Optikfirma Schneider in Kreuznach stellt die Objektive der Micro Eyes her.

Ingenieure der Raumforschung entwickelten einen »Seh-Schalter«, mit dem die Astronauten verschiedene Raumschiff-Systeme durch Augenbewegungen beeinflussen können. Die Instrumente helfen jetzt auch gelähmten Menschen, ihre Rollstühle, Fernsehapparate und andere Geräte zu steuern.

Nach dem Modell eines Mondvehikels, das wissenschaftliche Instrumente über die Mondoberfläche transportieren soll, baut die amerikanische Industrie »Geh-Stühle« für Schwerverletzte. Sie können damit Treppen steigen und sich auch auf unebenem Gelände fortbewegen.

Die Außenseiten der Raumschiffe werden mit dem Kunststoffanstrich Pyroceram überzogen, der sie vor größter Hitze, Kälte, Kratzern und Säuren schützt. Er eignet sich aber auch für Kochtöpfe und Pfannen, weil er das Anbrennen der Speisen verhindert. Als Isolatoren der nuklearen Motoren werden Pyrolitic-Graphit-Hülsen verwendet. Mit dem gleichen Material werden Tabakspfeifen ausgekleidet, an deren Köpfen sich niemand mehr die Finger verbrennt.

Ein Raketenbauer konstruierte ein sogenanntes Luftlager, um schwere Sauerstoffbehälter mit der Verbrennungskammer der Raketen zu kuppeln. Dieser Mechanismus wird auch in schwere Haushaltsmaschinen eingebaut. Wenn man zum Beispiel einen Kühlschrank einige Zentimeter über den Boden heben will, genügt schon der Luftdruck eines Staubsaugers, um den schweren Behälter mühelos zu verrücken.

Alle diese Abfallprodukte der Raumfahrt werden von dem Hochleistungscomputer des staatlichen Informationszentrums Technology Utilization Program (TUP) gespeichert. TUP ist las Versuchsmodell einer Superinformationsbank, in der jede Information aus allen Wissensgebieten gehortet wird.

Sie soll in wenigen Jahren jedem Bürger über Fernseher und Fernschreiber zur Verfügung stehen. Dann werden die Milliarden-Dollar-Investitionen der amerikanischen Forschung relativ schnell amortisiert, weil jeder Industrielle jede Erfindung in die Planung neuer Produkte einbeziehen kann.

Die Fülle dieser Errungenschaften macht verständlich, warum die europäischen Staaten mit ihren bescheidenen Mitteln ebenfalls Raumfahrtexperimente betreiben wollen. Auch Bonns Wissenschaftsminister Dr. Gerhard Stoltenberg will kein Weltraum-Muffel sein. Seit dem 5. Dezember umkreist der erste in Westdeutschland konstruierte Erdsatellit Heos A 1 in einer langgestreckten Ellipse die Erde.

Er wurde von den Junkers Flugzeug- und Motorenwerken in München gebaut und soll mit seinen Instrumenten kosmische Strahlung und Magnetfelder im Weltraum messen. Eine amerikanische Thor-Delta-Rakete brachte die 108 Kilogramm schwere Kapsel von Kap Kennedy aus in die Umlaufbahn. Die amerikanische Weitraumbehörde Nasa kassierte dafür 15 Millionen Mark.

Das größte aerotechnische Unternehmen der Bundesrepublik, die Münchner Bölkow GmbH, arbeitet an weiteren Satellitenprojekten. Dem Firmenchef Ludwig Bölkow schwebt vor, Flugkörper zu konstruieren, über die Ferngespräche, Fernschreiben und Computerdaten in alle Welt geleitet werden können.

Diese hochfliegenden Pläne sind jedoch nur mit Zustimmung der Amerikaner zu realisieren, die im Fernmelde-Satelliten-Konsortium Intelsat die Majorität besitzen und sich das Monopol für den Nachrichtenverkehr sichern wollen. Deshalb schießt die Nasa auch nur solche ausländischen Satelliten mit US-Trägerraketen in die Umlaufbahn, die lediglich Forschungs- und Experimentierzwecken, aber nicht der kommerziellen Wort- und Bildübermittlung dienen.

Dieses lukrativste Geschäft des Jahrhunderts wollen die USA möglichst allein betreiben. Experten haben errechnet, daß der anfängliche Kapitaleinsatz für Nutzsatelliten bis zu 200 Prozent Gewinn jährlich einbringen wird.

Schon 1968 funkten Early Bird und drei weitere Nachrichtensatelliten 160 Millionen Mark in die Kassen der amerikanischen Betriebsgesellschaft. Early Bird übermittelt den europäischen Fernsehern nicht nur aktuelle Bildsendungen, sondern leitet auf 240 zweiseitigen Kanälen auch Telephongespräche über den Atlantik.

Zur Zeit läßt die amerikanische Comsat Corporation zwei weitere Satellitenserien bauen. Der erste dieser neuen Kunstmonde wurde wenige Tage vor Apollo 8 gestartet. Er leistet doppelt soviel wie alle bisherigen Mini-Trabanten zusammen.

Der modernste Satelliten-Typ, den Comsat kürzlich in Auftrag gab, soll über 6000 Ferngespräche oder zwölf Farbfernsehsendungen oder jede gewünschte Kombination des Nachrichtenverkehrs gleichzeitig übermitteln und jährlich mehrere Milliarden Mark verdienen.

Um die Weltkommunikation nicht völlig den Amerikanern zu überlassen und nicht mehr auf ihre Trägerraketen angewiesen zu sein, beschlossen die EWG-Länder, Großbritannien und Australien, gemeinsam einen Satelliten-Träger -- die Dreistufenrakete Europa 1 -- zu entwickeln. Doch dieser Himmelsstürmer versagte bisher bei allen Startversuchen.

Zunächst entpuppte sich die in Frankreich konstruierte zweite Raketenstufe als Blindgänger; am letzten Fehlschuß im Dezember waren dann die Deutschen schuld. Bölkow, die Hamburger Flugzeugbau GmbH und die Vereinigten Flugtechnischen Werke in Bremen hatten die dritte Raketenstufe »Astris« aus rund 100 000 technischen Elementen zusammengefügt. Baukosten: eine halbe Milliarde Mark.

Die Schubkraft setzte schon nach sieben Sekunden aus, so daß der von Italien gelieferte Testsatellit nicht die Umlaufbahn erreichte, sondern östlich der Philippinen im Meer versank.

Wegen der Pfundkrise auf Sparsamkeit bedacht, nahm Großbritannien die bisherigen Pannen zum Vorwand, aus dem Unternehmen auszusteigen. Der britische Forschungsminister Wedgwood Benn will sich offenbar mit den Amerikanern arrangieren und mit ihren Vorleistungen eigene Satellitenträger entwickeln.

Vergeblich riefen Europa-Enthusiasten wie der französische Bestseller-Autor Jean-Jacques Servan-Schreiber ("Die amerikanische Herausforderung") die EWG-Länder auf, ihre nationalen Forschungsmittel auf gemeinsame Schwerpunktobjekte zu konzentrieren und die Zukunft dann eben ohne England zu bewältigen.

Im Brüsseler EWG-Hauptquartier gibt es aber dafür kein Organ. Die Partner des Gemeinsamen Marktes müssen eine Milliarde Mark aufbringen, um die Halden zuviel produzierter Butter abzutragen; sie haben kein Geld für technologische Durchbrüche.

Der Bonner Staatssekretär Dr. Klaus von Dohnanyi, dem im Bundeswirtschaftsministerium die Europa-Abteilung untersteht, gab vor kurzem intern die Meinung seines Ministers Karl Schiller wieder: Die europäischen Gemeinschaftsinstitutionen -- wie Eldo und Euratom -- seien, wenn nicht gescheitert, so doch »wenig aussichtsreich«.

Nachdem Schiller die Wirtschaft aus der Talsohle herausgeführt hat, versucht er, in Konkurrenz mit CDU-Wissenschaftsminister Stoltenberg Westdeutschlands zurückgebliebene Zukunftsindustrie durch eine neue konzertierte Aktion wieder auf Weltniveau zu bringen. Als Modell dient ihm das wachstumsstärkste Land der Welt: Japan.

Dort planen Regierung und Privatwirtschaft gemeinsam die Zukunftsaufgaben. Die wichtigsten Industrien werden systematisch gelenkt und gefördert.

Um genaue Einblicke zu gewinnen, schickte Schiller Ende vergangenen Jahres seinen Staatssekretär Dohnanyi in das Land der Industrie-Ameisen. Der Bonner Beobachter sollte die Mittel und Methoden erkunden, mit denen Japan seine technologische Lücke überbrückt.

Er sprach mit den Direktoren der führenden japanischen Konzerne, soupierte mit den größten Bankiers und horchte die Ressortchefs und Staatssekretäre im japanischen Industrie-, Technologie- und Planungsministerium aus.

Überall versuchte er herauszufinden, wie man »ausländische Ideen mit Gewinn exploitiert«. Schillers Staatssekretär behauptet: »Ich habe in Japan gelernt, wie man mit wenig Geld viel für die Technologie machen kann.«

Da die Bundesrepublik nicht wie die USA Hunderte von Milliarden Mark für revolutionierende Techniken aufwenden kann und die multinationale europäische Kooperation an dem Egoismus einzelner Regierungen scheiterte, bleibe der deutschen Industrie nichts anderes übrig, als die Japaner zu kopieren.

Die erste Kopie liegt bereits auf Schillers Schreibtisch: Westdeutschlands Luft- und Raumfahrtindustrie, die der Minister vergeblich zu einer Einheitsgesellschaft mit zentraler Forschungs- und Entwicklungsabteilung zusammenzuschweißen versuchte, soll in einem neuen Arbeitskreis »größere Effizienz und technologische Potenz« gewinnen. Dohnanyi: »Es wird wieder eine deutsche Luftfahrtindustrie geben.«

Kürzlich versammelte sich das neue Gremium zum erstenmal in Bonn, Den Vorsitz führte Schillers Stellvertreter, Klaus von Dohnanyi.

Nach dem gleichen Muster sollen auch andere zukunftsentscheidende Branchen zur Zusammenarbeit gedrängt werden, vor allem die Unternehmen, die elektronische Datenverarbeitungsanlagen herstellen. Ihre Manager sollen bis Mitte des Jahres zusammen mit Regierungsbeamten und Wissenschaftlern der Forschungsinstitute einen Koordinierungsausschuß bilden.

Schiller und sein junger Staatssekretär wissen aber auch, daß die Technologie-Probleme nicht mit Ausschüssen und Räten zu lösen sind. Erst wenn die Bundesrepublik ihr Bildungssystem verbessert, ihre Administration modernisiert und die Industrie genügend leistungsfähige Manager ausgebildet hat, wird die deutsche Zukunft halbwegs gesichert sein. Dohnanyi: »Da müssen wir endlich ran.«

Dieses Vorhaben wirkt jedoch nur glaubwürdig, wenn in Westdeutschland Wirtschaft und Staat prozentual genausoviel vom Bruttosozialprodukt für Forschung und Entwicklung aufwenden wie die USA: 3,2 Prozent. Bisher hatte die Bundesrepublik dafür nur 1,8 Prozent übrig (rund neun Milliarden Mark, davon knapp die Hälfte aus öffentlichen Mitteln).

Wenn es nicht gelingt, mindestens 16 Milliarden Mark jährlich für die Sicherung der Zukunft aufzubringen, bleibt Westdeutschlands Zukunft unbewältigt.

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