»Und dann ab in die Vergangenheit«
Helmut Rohde, der leicht zu rühren ist, wirkt zerstreut und unbeteiligt an diesem Abend. So als lasse er sich pflichtgemäß ein Viertelstündchen auf einer Veranstaltung sehen, die er hinter sich bringen muß zwischen zwei wichtigen Ereignissen. Dabei geht es doch extra um ihn, neben 117 anderen, um das Ende eines 30jährigen Lebensabschnitts des jetzt 61jährigen Abgeordneten aus Hannover.
Sie haben einen Teppich ausgebreitet und zwei Blumenständer daneben gestellt. Und obwohl niemand aufgebahrt ist in der alten Lobby des Bonner Parlaments, klingen die Reden doch arg nach Beerdigung - dritter Klasse. Ohne Harmonium, aber mit einem geübten Pathetiker, dessen Worte nicht nur deshalb hohl hallen, weil er so inbrünstig die Backen aufbläst, wenn er von »Opfer« und »Entbehrungen« redet. Philipp Jenninger, der Präsident des Deutschen Bundestages, verabschiedete am vergangenen Dienstag die Abgeordneten, die in der neuen Legislaturperiode nicht mehr dabei sind.
Der Sozialdemokrat Rohde mag keine »Sonntagssabbelei«. Klein und ein bißchen clownhaft traurig, wirkt er wie eine Randfigur im Kreise der gut drei Dutzend Kollegen, die gekommen sind. Die meisten der Hinterbliebenen tragen schwer an hohen Funktionen, durch ihre Gesprächspartner hindurch scheinen sie immer auf eine unsichtbare Uhr zu schauen. Es ist ein hektischer Tag in Bonn nach der Wahl.
»Meine letzte Schicht habe ich hinter mir«, sagt Rohde. Er klingt erleichtert. Er ist nicht abgewählt worden, er hat freiwillig auf sein Mandat verzichtet. Seine Kollegen, auch die Genossen, denken natürlich alle, Rohde fühle sich zu alt für den anstrengenden politischen Job.
Bildungsminister ist er gewesen in der Schmidt-Regierung, vorher Parlamentarischer Staatssekretär im Arbeitsministerium bei Willy Brandt, sozialpolitischer Experte der SPD schon vor dem Godesberger Programm, das auch seine Handschrift trägt. Aber zuletzt war es still geworden um den Mann mit dem mächtigen Redeschwall. Hatte er nicht auch einen schweren Unfall vor ein paar Jahren? Hatte er nicht längst keine »Ämter« mehr? Nicht wenige meinten, er sei sowieso schon weg gewesen. Ach, den gibt es noch?
Helmut Rohde geht aber, weil er sich noch zu jung fühlt für das politische Abstellgleis. Er kennt den Laden. Sie werden ihn in »irgendeinen Seniorenbeirat« berufen, »und dann ab in die Vergangenheit«. Der Gedanke, er müsse sich in einem politischen Lehnstuhl bereithalten, weil in feierlichen Augenblicken »Dein Rat als Alterer« gebraucht wird, schüttelt ihn.
Er weiß, daß er ein einfallsreicher zugleich bodennaher Formulierer ist, noch immer. Manche prägende Formel in sozialdemokratischen Programmen ist ihm eingefallen; von Helmut Rohde stammt die jetzt als Alibi viel zitierte Forderung Willy Brandts nach dem »blauen Himmel über der Ruhr« von 1961. Er weiß aber auch, daß Worte in Bonn nur noch Gewicht haben, wenn ein Amt sie aufplustert. Und genau dazu hat er keine Lust mehr: »Die Hierarchie hier saugt dich auf.«
Gewiß, in seiner Fraktion gehört Rohde nicht nur an diesem letzten Tag zu den wenigen, bei denen es still wird im Saal der SPD, wenn sie das Wort ergreifen. Am Dienstag hat er über Sozialdemokraten »in Stunden der Bedrückung und der Niederlage« gesprochen. Seine erste Fraktionssitzung 1957 und seine letzte 1987, so hat es der Zufall gewollt, folgen verheerenden Wahlschlappen seiner Partei.
Damals, so kommt Rohde den Genossen dann doch mit weisem Rat, habe die SPD »sich zunächst nach sich selbst gefragt. Wie sie sich entwickeln muß, um die gesellschaftlichen Zustände zu ändern«. Am Ende dieses Prozesses stand das Godesberger Programm. Heute, so sein Eindruck, gehe es »zu schmalbrüstig« zu und taktisch vor allem um Personen, die sich mit Prozessen verwechseln, um Positionen, Termine und mögliche Koalitionen: »Ich frage mich - handelt so eine soziale Bewegung, oder ist das das Handeln einer politischen Klasse?«
Helmut Rohde weiß, daß er mit solchen Worten flugs einem Lager zugerechnet wird, zumal er auch am Treffen der Fraktionsrechten, dem Seeheimer Kreis, teilgenommen hat. Aber er hat sich nie als Manipulationsmasse gefühlt. »Ich bin zwar treu und verläßlich«, sagt er, »aber zum Gefolgsmann tauge ich nicht. Bei jeder puschenhaften Kumpeligkeit gehe ich auf Abstand. Rohde sein ist auch ganz schön.«
Er meint auch gar nicht nur seine Genossen. Helmut Rohde hält sich einfach an eine Grundregel seines Vaters, den er fast ehrfürchtig als »revolutionären Werftarbeiter« vorstellt: Sieh dir die Verhältnisse an, wie sie sind. Mach dir nichts vor.
So ist ihm bewußt, daß er und seine Kollegen am Dienstagabend pompös vor einem dunklen Loch verabschiedet werden. Hinter den Türen der Lobby, an denen die befrackten Kellner mit Sekt und Gänseleberhäppchen lehnen, ist der alte Plenarsaal abgerissen - Symbol für ein Parlament, »in dem noch Politik stattfand, aus dem heraus regiert wurde«.
Für Nostalgie ist er anfällig, dennoch klingt Helmut Rohde sehr realistisch, wenn er das »faxenhafte Getue« der »Strippenzieher«, »Selbstdarsteller« und »Schlaumeier« von heute beklagt, in allen Fraktionen. »Politik darf nicht eine
Laufbahn werden, sonst entsteht eine Klasse oder Schicht, die sozial nirgends mehr verwurzelt ist, sich mit dem Volk das sie wählt, nicht mehr verständigen kann.«
»Mensch, Rohde«, hat er sich deshalb gefragt, »was kannste hier eigentlich noch machen?« Für den leidenschaftlichen Sozialpolitiker, der jahrzehntelang an allen jetzt zu teuren Sozialgesetzen mitgebastelt hat, ist gleichwohl der Sozialstaat nie nur etatistischer Wohltäter gewesen.
»Sozialpolitik ist eine Kultur des Zusammenlebens«, heißt sein Glaubenssatz. Und jetzt, wo er die Konservativen rücksichtslos einen neuen technologischen Kapitalismus durchboxen sieht, mit neuen Hierarchien, Eliten, Institutionen und voller Abneigung gegen Teilhabe und Mitbestimmung, jetzt tut Widerstand not.
Den zu mobilisieren fühlt sich Helmut Rohde keineswegs zu alt. Er will Kolumnen schreiben, an der Universität Hannover lehren, mit vielen Menschen reden.
Und im Bundestag hätte er keine Chance dazu? So weit würde Helmut Rohde, der sich oft hat vorwerfen lassen, er haue zu wenig auf den Putz, nie gehen. Aber eine böse Doppeldeutigkeit schwingt in der flotten Formel doch mit, in die er seinen Abschiedsentschluß kleidet: »Nur keine Heldentaten nach Ladenschluß.«