»Undurchsichtig wie hinter Panzerglas«
Er ist möglicher Nachfolger des großen Sozialisten Léon Blum, aber möglicher Nachfolger auch so erlauchter Gaullisten wie Pompidou, Debré, Messmer und Couve de Murville, die vor ihm im Hôtel Matignon regierten.
Doch niemand weiß so recht zu sagen, ob dieser Francois Mitterrand, 61, ein Opportunist ist, der vom Bürgertum zu den Linken überlief, weil er den Trend der Geschichte beizeiten erkannte; oder ein Idealist, dem die Erleuchtung mit dem Alter kam; oder ein jakobinischer Nationalist, der noch viel von der Grandeur Frankreichs hält, während sogar Russen und Amerikaner Grenzen einer Großmacht zu spüren bekommen.
Selbst sein Biograph Franz-Olivier Giesbert konnte diese Fragen nicht eindeutig beantworten. Sicher scheint nur, so Giesbert: »Nach de Gaulle ist er der am wenigsten greifbare und mysteriöseste unter den Politikern.«
Und das, obgleich Francois Mitterrand sich nahezu jede Woche erklärt: In seiner Parteizeitung »l'Unité« schreibt er unter der Überschrift »Mein Anteil an der Wahrheit« über sämtliche Themen des politischen Alltags: über die angeblichen Berufsverbote in der Bundesrepublik, Skandale daheim, Anekdoten, Reiseerlebnisse.
Er hat neun Bücher verfaßt. Kürzlich kam eine Sammlung seiner Aufsätze und politischen Erklärungen heraus -- 648 Seiten stark, in einer Auflage von über 110 000 Exemplaren.
Das literarische Talent des Politikers wird von Schriftsteller-Kollegen nicht bestritten. Aber: Viel Mißtrauen bleibt, viel Zweifel an seiner Aufrichtigkeit, selbst bei führenden Parteigenossen -- so war es immer schon.
De Gaulle verleumdete den Katholiken Mitterrand 1946 als Kommunisten, Kommunisten qualifizierten den Sozialisten als Faschisten.
25 Jahre lang reiste Mitterrand nicht nach Spanien, weil dort der Faschist Franco regierte, und den Guerillakrieg Ché Guevaras sah er als Freiheitskampf an. Aber: Als Innenminister in der IV. Republik ließ er algerische Freiheitskämpfer bekämpfen, weil für ihn »Algerien Frankreich« war.
Einweihung eines nach dem sozialistischen Premier Léon Blum getauften Platzes in Marseille.
1959 wurde auf Mitterrand in der Nähe des Pariser Observatoriums geschossen. Das Attentat empörte selbst politische Widersacher, sie gratulierten dem Unversehrten. Der aber mußte wenig später eingestehen, er habe zuvor von dem Anschlag gewußt, der Polizei jedoch seine Kenntnisse verschwiegen.
Keine Erläuterung konnte danach den katastrophalen Eindruck wieder wettmachen. Viele Franzosen glauben seither, daß Mitterrand die »affaire de l'Observatoire« selbst inszeniert habe.
Francois Mitterrand schien dem Nervenzusammenbruch, dem Selbstmord nahe, wie sich Vertraute erinnern. Nur: Niederlagen haben offenbar eine stimulierende Wirkung auf ihn, schreibt Giesbert; er scheint »niedergeschlagen, erledigt, resigniert«, doch unversehens »steht der Mitterrand-Phönix wieder auf und findet sieh in der ersten Reihe«.
Tatsächlich stimmten schon bei den Präsidentschaftswahlen 1965 -- nur sechs Jahre nach der unaufgeklärten Observatoriums-Affäre -- 10,6 Millionen Wähler (44,8 Prozent) für den Abgeordneten, der ohne Unterstützung einer Partei angetreten, war, Charles de Gaulle, den laut Mitterrand »Familienvater, die schützende Macht, den guten Engel des Hauses zu töten«.
Nach der Studenten-Revolte vom Mai 1968, als Mitterrand fälschlicherweise annahm, »der Staat existiert nicht mehr«, wollte er eine provisorische Regierung bilden. Den Kommunisten versprach er ein Ministeramt, Pierre Meildès France sollte Premier, er selbst Staatsoberhaupt werden. Doch bei den folgenden Parlamentswahlen spülte die Revolutionsangst Regimenter von Gaullisten in die Nationalversammlung, die Sozialisten verloren 59 Abgeordnete und fanden einen Schuldigen: Francois Mitterrand:
Der bekam zu fühlen: »Ich bin heute der meistgehaßte Mann Frankreichs.« Aber: »Das gibt mir eine kleine Chance, eines Tages der beliebteste zu sein.«
Bei den Präsidentschaftswahlen 1969 erreichten die Kommunisten rund 21 Prozent der Wählerstimmen, den Sozialisten Gaston Defferre aber, Bürgermeister von Marseille, wählten nur fünf Prozent. Die Sozialisten, deren Partei noch den altertümlichen Namen »Section francaise de l'Internationale ouvrière« (SFIO) trug, waren auf ihrem Tiefpunkt angekommen.
Die SFIO fusionierte mit mehreren Linksgruppen. Zwei Jahre später gründete die neue Formation mit der »Convention des institutions Republicaines« (Chef: Francois Mitterrand) nun endlich die »Parti socialiste« und erkor Mitterrand zum Führer.
Selbst die Ceres, der marxistische Flügel der Sozialisten, stimmte für den einst umstrittenen Parlamentarier, mehr noch, sie gab bei seiner Wahl den Ausschlag. Dabei hat Francois Mitterrand den »Gott des Sozialismus« nicht »an einer Kreuzung getroffen, ist nächtens nicht von diesem unbekannten Besucher geweckt worden, hat sich nicht auf die Knie geworfen und vor Freude geweint«, wie er schrieb.
Dieser Sozialistenführer war nie Marxist wie Herbert Wehner und auch nicht Arbeiter wie Georges Marchais, der Fabrik-Elend selbst erlebt hat.
Vater Mitterrand, Kleinbürger, Bahnhofsvorsteher in der im Südwesten gelegenen Provinzstadt Angoulême, erzog seine acht Kinder katholisch. Ein Mitterrand-Bruder ist Ex-General der Luftwaffe und Chef eines Staatsbetriebes der Flugzeugindustrie, ein zweiter Industrieller.
Der junge Mitterrand las weder Marx noch Engels, und als der Student der Jurisprudenz und Politikwissenschaften vor dem Krieg in Paris die Marxisten debattieren hörte, störte ihn, daß sie ein aus dem Deutschen übersetztes Französisch sprachen.
Im Juni 1940 wurde der Oberfeldwebel Mitterrand bei Verdun verwundet. Danach: Gefangener im Stalag 9 A bei Kassel und im Stalag 9 C hei Weimar, drei Fluchtversuche, der letzte gelang.
Widersprüchliches schon damals: Mitterrand nahm einen hohen Funktionärs-Posten im Vichy-Regime des Deutschen-Kollaborateurs Pétain an und kümmerte sich um Kriegsgefangenenprobleme. Er nahm dafür sogar den Orden »Francisque« an -- aus Tarnung, behaupten Freunde, denn er sei bereits damals für die Widerstandsbewegung tätig gewesen, in der er später den Decknamen »Morland« trug.
Im Juni 1946 verlor Mitterrand als Kandidat einer linksliberalen Gruppe »Demokratische und Sozialistische Widerstandsunion« (UDSR) die Wahl für die Verfassungsgebende Versammlung im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt, wurde aber im November 1946 im Department Nièvre in die Nationalversammlung gewählt.
In elf Kabinetten der Vierten Republik hatte Mitterrand sechs verschiedene Ministerposten -- nichts Ungewöhnliches auf dem Karussell des ständigen Regierungswechsels. Erst als de Gaulle mit der 5. Republik dieses Chaos ausräumte, las der von Ministerämtern ausgeschlossene Mitterrand auch Karl Marx nach.
Seine politische Metamorphose erklärt er selbst damit, daß er an die Regeneration oder die selbststeuernden Kräfte der kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr glaube und nicht mehr hinnehmen wolle, daß eine Minderheit die Mehrheit ausbeute.
Ihm selbst ist das Streben nach Geld und Besitz angeblich »fürchterlich und sehr verabscheuungswürdig«. Aus der Erbschaft seines Vaters bewahrt er aus sentimentalen Gründen allein drei Aktien eines Aluminium-Konzerns. Das ihm zugedachte Geld wollte er nicht.
Mit wie vielen Fragezeichen immer man den Sozialismus eines Politikers mit solcher Vergangenheit versehen mag -- unstreitig hat Mitterrand in nur sieben Jahren die neue Partei von etwa zehn Prozent des Wähleranteils auf schätzungsweise 30 Prozent gebracht.
Die Mitgliederzahl erhöhte sich unter ihm von 56008 auf etwa 186 000. Vor den Gemeindewahlen im März letzten Jahres hatten 41 Städte nut über 30 000 Einwohnern sozialistische Bürgermeister, heute sind es 81 Städte.
Paradoxerweise gelang der neuen Partei (Emblem: eine rote Rose in geballter Faust) dieser Aufstieg, weil Mitterrand mit dem traditionellen Antikommunismus der SFIO brach, der sich aus einer Besonderheit der französischen Parteiengeschichte erklärt.
Während in fast allen Staaten die Kommunisten als linke Splitter großer Sozialdemokratischer Parteien entstanden, war es in Frankreich umgekehrt: 1920, auf dem Kongreß von Tours, trennten sich Frankreichs Sozialisten von der bolschewistisch eingestellten Mehrheit. Fortan konnte die französische KP die Sozialisten leicht als Rechtsabweichler denunzieren.
Öffentlich sprach sich der sozialistische Parteichef nun dafür aus, Frankreich müsse sich endlich vom Antikommunismus befreien und die KP wieder in das nationale Leben eingliedern.
»Wir behaupten nicht«, ließ der Franzose Bonns Kanzler wissen, »daß diese Verbindung glücklich ist«, nur sei es die einzige Methode, die KP auf eine marginale Rolle zu reduzieren.
Der Sozialistenführer ist kein Dogmatiker, sondern eher ein linker Humanist, der seine Vorbilder in den Vertretern des sozialistischen Humanismus seiner historischen Vorgänger Jean Jaurès und Léon Blum sieht. Er fühlt sich mit den Südeuropäern und den Staaten der Dritten Welt verbunden. Der griechische Komponist Mikis Theodorakis ist einer seiner Freunde, er komponierte die neue Parteihymne »France socialiste«, zum erstenmal gesungen und gespielt auf dem Sozialistenkongreß in Nantes 1977.
In den beiden letzten Jahren, bekunden seine Freunde, sei Mitterrand grundsätzlicher, ideologischer geworden. Einmal reiste er nach Indien und übernachtete auf einem Strohlager in einem bengalischen Flüchtlings-Camp: »Ich muß mit dem wahren Elend dieser Welt Kontakt aufnehmen, außerhalb des erstickenden Klimas europäischer Politik.«
Etwas Bukolisches haftet ihm an: Er kann Klassiker absatzweise zitieren, spricht aber keine Fremdsprache. Stets zieht es ihn zurück aufs Land, wo die Bauern seit Jahrzehnten für ihn stimmen, die Nachbarn die Vornamen und die Krankheiten des nächsten kennen: nach Château-Chinon im Burgund.
Hier ist der Oppositionsführer -- wie bei französischen Parlamentariern üblich -- zugleich Bürgermeister. Seit Jahren hält der Wirt Jean, Mitglied des Gemeinderates, dem Ortschef im Hotel »Vieux Morvan« am Rathausplatz dasselbe Zimmer frei.
Er hängt »stärker an seinem Dorf, an französischen Büchern und der Seele seines Volkes als am großen Weltgeschehen«, glaubt Schriftsteller Philippe Alexandre, und er scheint überzeugt, »daß das, was aus seinem Land kommt, wichtig, großartig und wertvoll ist«.
Dabei läßt ihn nichts den »Geist und die Materie besser empfinden als das Licht eines späten Sonntagnachmittags, das durch den Eichenwald fällt«. Vor Terminen läßt er zuweilen seinen Wagen stoppen und ergeht sich im Wald.
Auch seine Schriften sind durchsetzt mit romantischen Empfindungen ("O Erde, so kostbar und so prekär"), die statt des Zynikers den Rosenzüchter und Tierhalter zum Vorschein bringen.
Doch als Politiker gibt sich Mitterrand selbstsicher, oft schroff. »An Minderwertigkeitskomplexen«, erkannte Willy Brandt bei seinem Paris-Besuch im Februar, »leidet der nicht.« In einem Wahlkampf-Interview benutzte er 251mal das Fürwort »ich«. KP-Führer Georges Marchais kam in einer gleichlangen TV-Sendung mit 134 Ichs aus.
Eine Reise nach Washington sagte er ab, weil der amerikanische Präsident Carter ihm keinen Termin garantieren wollte. Und US-Vizepräsident Mondale, zum Gespräch bereit, war dem Sozialistenführer keine Reise wert.
Über seine Partei, so urteilte Journalist Philippe Alexandre in seinem Buch »Der Roman der Linken«, übt Mitterrand »monarchische Macht« aus. Er liebt Widerspruch nicht und schon gar nicht die Behauptung, er sei autoritär. Der Chef allein wählt die 15 Nationalsekretäre aus, ein Führungsgremium, dem SPD-Parteipräsidium vergleichbar. Auf Sitzungen der Parteispitze wird nicht geraucht, weil der Erste Sekretär, der 1949 seine letzte Zigarette ausdrückte, Rauch als störend empfindet.
Über den Inhalt eines 40-Minuten-Gesprächs mit Leonid Breschnew in Moskau informierte der Parteiführer keinen Vorstandsgenossen. Kaum einem Genossen auch bot er je das Du an, er ist »der Präsident«, »Monsieur Mitterrand«, ein General de Gaulle der Volksfront -- sendungsbewußt, ironisch, intellektuell.
Wie alle Leute, die voller Ängste sind, schreibt Biograph Giesbert, habe Mitterrand ein »krankhaftes Bedürfnis« nach Treue, für die er sogar bereit sei, Mittelmäßigkeit zu tolerieren.
Seine Privatsekretärin ist die Tochter eines Mitterrand-Kameraden aus der Nazihaft. Mit seinem Intimus, dem Ex-Abgeordneten Georges Dayan, 63, hat er studiert. Mit seinem Kommilitonen Georges Beauchamp, 62, kämpfte er in der Résistance.
In diesem engsten Kreis nur spricht er offen. Wenn er aber in seinem Kamelhaarmantel, in braunem Hut und Schal, im Wahlkampf Passanten die Hände schüttelt, scheint er der Welt entrückt, undurchdringlich »wie hinter Panzerglas«, so empfand ihn ein Botschafter nach einem Gespräch.
Im Gegensatz zu seinem KP-Genossen Georges Marchais, der sich volkstümlich am Strand von Korsika in der Badehose photographieren läßt, ist Mitterrand auf staatsmännisches Gehabe bedacht: Ein Photo mit seinem Hund im Ruderboot, das mag noch sein, ein Bild des Golfers Mitterrand aber ist schon unerwünscht, die Frage nach einem Handicap gar ein »Eingriff in sein Privatleben«.
Nach seiner Niederlage im Präsidentschaftswahlkampf 1974 hatte er Freunden anvertraut, daß seine Hoffnungen und sein Ehrgeiz erloschen seien: »Das nächste Mal bin ich nicht mehr derjenige, der euch an die Macht führt.«
Nun aber prangt Mitterrands Porträt wieder auf sechs Millionen Postkarten, die seine Partei im Wahlkampf verschickt. Nun hebt er auf den Wahlplakaten wieder den Zeigefinger und mahnt: »La victoire en votant«, den Sieg durch Abstimmung -- ein Slogan, den die Sozialisten vom patriotischen Revolutionslied »Chant du départ« übernahmen: »Singend zum Sieg, er öffnet uns die Barrieren, die Freiheit lenkt unsere Schritte ...«
Dabei möchte Mitterrand lediglich, daß man sich an ihn erinnert als an den Politiker, »der Frankreich die sozialistische Bewegung wiedergegeben hat«.