ANSTALTSRECHT Unfreie Rhythmen
Im Zellenbau des Lübecker Frauenzuchthauses schwingt Poesie:
Die Tat ist nur das Ende,
das uns der Herr gestellt,
Sie ist, willst du, dir Wende
zurück in seine Welt.
Verfasserin dieser und zahlreicher anderer als Vers-Tagebuch gedachter Reime ist die vormalige Elmshorner Bücherstubenleiterin Ruth Blaue, 49. Sie war 1956 vom Schwurgericht Itzehoe wegen Gattenmordes zu lebenslänglichem Freiheitsentzug verurteilt worden, obschon sie die Tat bestritten und auch ihr - inzwischen durch Selbstmord geendeter - Geliebter Horst Buchholz beteuert hatte, er allein habe zum Beil gegriffen.
Das Gericht wertete diese Selbstbezichtigung damals jedoch lediglich als letzten Liebesdienst. Literarisch ambitioniert, schreibt sie nun hinter Gitterfenstern nach dem Vorbild bekannter Zuchthausautoren:
- Der amerikanische Notzuchtverbrecher Caryl Chessman (SPIEGEL 11/1960) gelangte durch seine Kerker-Romane ("Todeszelle 2455«.) zu
Weltruhm, ehe er in der Gaskammer von San Quentin hingerichtet wurde.
- Mörder Robert Stroud begründete seinen Ruf als Ornithologe mit fachkundigen Abhandlungen, die er im US-Zuchthaus von Alcatraz verfaßte.
- Der deutsche Bandenchef Henry Jaeger (SPIEGEL 40/1963) schrieb im Zuchthaus Freiburg den Bestseller »Die Festung«.
Kalenderspruch-Dichterin Blaue hat vorerst allerdings keine Aussicht, literarischen Ruhm zu ernten. Der Lübecker Zuchthausvorstand untersagte ihr die Publikation der Verse und unterband damit einen Vertragsabschluß mit Burdas »Bunter Illustrierter«.
Eine Beschwerde der Zuchthäuslerin, die mit dem- Erlös ihrer Reimarbeit ein Wiederaufnahmeverfahren in Gang zu bringen hofft, blieb erfolglos. Das Oberlandesgericht Schleswig billigte die Entscheidung der Zuchthausdirektion und dekretierte: »Der Strafvollzug soll einen Gefangenen nicht nur von der Außenwelt trennen, sondern ihm auch eindringlich die mit dieser Trennung verbundenen Folgen als Strafübel spürbar machen. Die Veröffentlichung ... würde diesem Strafzweck zuwiderlaufen und ihr eine mit dem Strafzweck unvereinbare Verbindung mit . . . der Öffentlichkeit gestatten.«
Der Münchner Verein »Zuflucht e.V.« eilte der behinderten Dichterin zu Hilfe. Er kämpft seit Mai 1962 gegen Rechtsmißbrauch in der Bundesrepublik. Seine Entstehung verdankt er vor allem »vielen trüben persönlichen und dienstlichen Erfahrungen« des Vorsitzenden Dr. Horst Schieckel, ehemals Präsident des hessischen Landessozialgerichts.
Schieckel arbeitet nach dem Vorbild des amerikanischen Strafverteidigers und Kriminalautors Erle Stanley Gardner (sein Kriminalheld Perry Mason genießt Weltruf) und dessen Gerichtshof zur letzten Zuflucht«.
Zuflucht-Schieckel bewog Ruth Blaue, gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Verfassungsbeschwerde einzulegen. Zusammen mit Burda-Verlags -Syndikus Geiger fertigte der Sozial -Jurist den Beschwerde-Entwurf. Ruth Blaue unterzeichnete ihn.
Die Autoren wollen vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor allem festgestellt wissen, daß auch einem Zuchthäusler das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung zusteht. Gegen diese Garantie habe die Lübecker Zuchthaus -Direktion durch ihr Publikationsverbot für Ruth Blaue verstoßen. Die Vollzugsordnung Schleswig-Holsteins, die aus dem Jahre 1940 stamme, biete dafür keine rechtliche Handhabe.
Tatsächlich gilt in Schleswig-Holstein seit 1962 eine neue »Dienst- und Vollzugsordnung«. Auch sie beschränkt sich allerdings bei der Definition des Strafzwecks auf eine sehr dehnbare Erklärung. Unter Nummer 57 heißt es: »Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll dazu dienen, die Allgemeinheit zu schützen, dem Gefangenen zu der Einsicht zu verhelfen, daß er für begangenes Unrecht einzustehen hat, und ihn wieder in die Gemeinschaft einzugliedern.«
Auch im Abschnitt über Vergünstigungen, die Häftlingen gewährt werden können (Nummer 62), findet sich kein Hinweis auf Beschränkung oder Zulassung publizierender Tätigkeit. Immerhin sind danach neben Blumenschmuck in der Zelle und Teilnahme an Bastel - und »Zierschriftkursen« auch »schriftliche Arbeiten, Besitz von Schreibgerät, Verwendung eigenen Papiers« erlaubt.
Überdies wendet sich die Beschwerde gegen die Einschränkung der »geistigen Sphäre« der Zuchthäuslerin Blaue; eine Maßnahme, die durch das Recht des Staates, die physische Freiheit der Verurteilten zu beschneiden, nicht umfaßt werde und die deshalb die im Grundgesetz-Artikel 1 zugesicherte Menschenwürde verletze.
Diese Ansichten der Beschwerde-Verfasser kollidieren freilich mit den Auffassungen deutscher. Obergerichte und Verfassungsrechtler:
Im Grundgesetz-Kommentar der Professoren Hermann von Mangoldt und Friedrich Klein wird zur Meinungsfreiheit Strafgefangener festgestellt, Häftlinge hätten sich »jeglicher (Meinungs-) Äußerung zu enthalten, wenn ihnen das Wort verboten wird«. Und der Verfassungsrechtler und heutige bayrische Kultusminister Theodor Maunz nennt die rechtliche Situation Strafgefangener einen »rechtsleeren Raum des besonderen Gewaltverhältnisses«.
Ähnlich urteilte das Hamburger Oberlandesgericht Mitte letzten Jahres. Die Richter hielten beim Vollzug der Zuchthausstrafe »ein besonderes Maß ... an Rechtsbeschränkungen für gerechtfertigt«.
Präziser entschied der Bayrische Verfassungsgerichtshof im vorigen Jahr. Trotz dem in der Verfassung verankerten Recht auf Meinungsfreiheit müßten alle Äußerungen Strafgefangener ungeschützt bleiben, die »keine überzeugende, belehrende oder sonstige Richtung gebende geistige Wirkung auf die Umwelt machen wollen und können«.
Die Karlsruher Verfassungsrichter müssen nun darüber befinden, ob sie sich diesen Vor-Urteilen anschließen oder aber der Argumentation der Beschwerdeführer folgen wollen. Von ihrem Spruch wird abhängen, wo Ruth Blaues Verse künftig rezitiert werden dürfen: nur im Lübecker Frauenzuchthaus oder auch in den Wohnzimmern der »Bunte Illustrierte«-Leser.
Strafgefangene Ruth Blaue
Zuflucht bei der »Zuflucht«