BRANDT/SCHMIDT Ungebetener Rat
Immer wieder in den vergangenen Wochen fragte Helmut Schmidt seinen Parteivorsitzenden: »Was willst du da eigentlich machen?« Des Kanzlers Neugier galt Willy Brandts Besuch bei KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew am Dienstag dieser Woche.
Der Ost-Ausflug des Ex-Kanzlers hat, angesichts der Unruhen in Polen und der wachsenden Spannungen zwischen Moskau und Washington, mehr Bedeutung, als den Bonner Regierenden recht ist. »Öffentlich tut der Kanzler so, als mache ihm das alles nichts aus«, so ein Schmidt-Vertrauter über seinen Chef, »doch in seiner Brust sieht es anders aus.«
Seit langem schon beäugt Außenminister Hans-Dietrich Genscher mißtrauisch Brandts Aktionen. Nun argwöhnt auch die Regierungszentrale, die Partei, voran der SPD-Chef und sein Helfer Egon Bahr, mische zu kräftig in der Außen- und Deutschlandpolitik mit.
Mit Unbehagen verfolgen die Experten im Kanzleramt, spätestens seit Schmidt und Genscher von den Sowjets wegen der Elogen auf US-Präsident Ronald Reagan heftig gescholten werden, die Reise des SPD-Vorsitzenden. Zwar läßt die Regierung offiziell erklären, die Brandt-Mission nütze den Beziehungen zwischen Ost und West. Doch die Analytiker im Außen- und Kanzleramt sind anderer Meinung.
Brandt, so ihre These, werde sicher von Breschnew vor allem befragt, wie Bonn die Reagan-Administration einschätze. Gerade für diese Auskunft aber sei der Chef der Sozialistischen Internationale, im Weißen Haus als Freund der Russen verdächtigt, kaum der rechte Mann. Ohnehin werde der Alt-Kanzler über Schmidts internationale Kontakte nicht mehr voll unterrichtet. Ein Schmidt-Berater: »Die letzten Informationen gibt ihm der Kanzler nicht.«
Als feststand, daß die Reise des SPD-Chefs nicht durch eine sowjetische Invasion in Polen gefährdet war, verbreiteten die Brandt-Kritiker vorige Woche neue Vorbehalte. Die Russen hätten ihn nur eingeladen, um im Westen Verwirrung zu stiften. Brandt habe die Visite schlecht absagen können, ohne Breschnew zu verprellen.
Hinter solcher Mißgunst steckt die Sorge, die Brandt-Mission müsse dem Ansehen des Kanzlers schaden, wie immer ihr Ergebnis ausfalle.
Falls Brandt mit leeren Händen zurückkehrt, so fürchten die Schmidt-Berater, werde auch die Regierung für den Mißerfolg haftbar gemacht.
Der Ostpolitiker Brandt ist, nach einhelligem Bonner Urteil, der einzige aus dem Westen, dessen Wort bei Breschnew gilt. Schafft er es nicht einmal, in Moskau den Dialog zwischen Ost und West neu anzustoßen, wie soll dann ein Helmut Schmidt noch als Garant für gute Beziehungen zum Osten auch in Krisenzeiten gelten können?
Nach Afghanistan konnte Schmidt seinen Wahlkampf noch als Friedenskanzler bestreiten, für den das Gespräch zwischen den Supermächten absoluten Vorrang hatte. Dieses Image ist er los -- spätestens seit er die Sowjets während seines letzten USA-Besuchs heftig attackiert hat.
Um die Gegner der Nato-Nachrüstung einzuschüchtern, scheut er sich nicht, seinen Ruf als Entspannungspolitiker aufs Spiel zu setzen. Als habe es nie Erfolge der Ostpolitik gegeben, echauffierte sich Schmidt vor Genossen: »Ich habe Angst, ich habe Angst vor den Russen.«
Dem CDU-Rechten Jürgen Todenhöfer lieferte das Verteidigungsministerium letzte Woche bereitwillig Argumente gegen die Kritiker des Nato-Doppelbeschlusses. Im Verhältnis acht zu eins seien die Russen der Nato mit ihren Sprengköpfen auf Mittelstreckenraketen überlegen, antwortete das Apel-Ressort auf eine Anfrage des CDU-Bundestagsabgeordneten.
Die Hardthöhe unterließ es freilich, diese Schreckenszahlen im einzelnen zu belegen. Projektile auf Flugzeugen und U-Booten der Nato wurden nicht mitgezählt.
Aber auch wenn Brandt im Kreml Erfolg hat, steht Schmidt nicht gut da. Dann muß sich der Kanzler vorwerfen lassen, er habe in einer vergleichbaren Lage versagt, als er, überängstlich, 1980 wegen der unsicheren Lage in Polen seinen Besuch in der DDR absagte; S.20 überdies könnte ein -- wie auch immer -- erfolgreicher Brandt dem Kanzler die Show stehlen, die Schmidt im Spätherbst vom Besuch des KPdSU-Generalsekretärs in Bonn erhofft.
Befremdet war Schmidt vollends, weil der SPD-Vorsitzende seine Moskau-Mission aufwerten und einen Regierungschef von Gewicht mitnehmen wollte: seinen engen Vertrauten Johannes Rau, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.
Schmidt, von Brandt in den Plan eingeweiht, zögerte seine Zustimmung hinaus. Nun fliegt Brandt ohne Rau nach Moskau, angeblich weil der Besuch eines Regierungschefs protokollarische Probleme gebracht hätte.
Die Moskau-Reise Willy Brandts setzt ein seit längerem schwelendes Unbehagen des Kanzlers über den Kurs des SPD-Vorsitzenden frei. Brandt, so kritisieren Schmidt-Berater, nehme schon lange nicht mehr genug Rücksicht auf den Regierungschef.
So habe Brandts frühzeitige Parteinahme für den französischen Sozialisten Francois Mitterrand den Bundeskanzler zunächst in eine schwierige Lage gegenüber seinem Freund Valery Giscard d'Estaing gebracht.
Und nach den Ausfällen des israelischen Premiers Menachem Begin gegen Schmidt wartete das Kanzleramt zunächst vergebens auf eine hilfreiche Erklärung des SPD-Vorsitzenden, der in Israel höher angesehen ist.
Brandt zögerte lange. Vertrauten stellte er die Frage: »Hat Schmidt eigentlich mal etwas gesagt, wenn es gegen die Emigranten ging?« Erst auf Drängen von Kanzleramtschef Manfred Lahnstein gab er dem attackierten Schmidt Hilfestellung -- sehr zurückhaltend.
Mit Mißvergnügen beobachteten des Kanzlers Helfer auch die Sondereinlagen des Brandt-Vertrauten Egon Bahr. Sein jüngster Ausflug nach Moskau wurde vorher mit Schweigen und nachher mit Häme quittiert. Ein Diplomat im AA über die Visite: »Hat absolut nichts gebracht.«
Dabei glaubt Bahr, in der Sowjet-Union bemerkenswerte Neuigkeiten ausgemacht zu haben. Der SPD-Abrüstungsexperte sieht Anhaltspunkte dafür, daß die Russen zu einem ersten wichtigen Schritt in Richtung Rüstungskontrollverhandlungen bereit sein könnten: Wie es scheint, wollen sie nicht länger auf ihrer bisherigen Zählweise für das atomare Gleichgewicht beharren, bei der sie ihre hochmodernen SS-20-Raketen gegen leichter abzuwehrende Flugzeuge der Nato aufrechnen. Bequemen sich die Russen aber zum separaten Zählen von Raketen und Flugzeugen, müßten sie ihre Überlegenheit bei den Mittelstreckenraketen zugeben.
Ungebetenen Rat erteilt seit neuestem noch einer, der beim Kanzler nicht gut angesehen ist: der ehemalige Bonner Vertreter in Ost-Berlin, Günter Gaus, den Schmidt letzten Herbst abgelöst hatte. Er wird schon bald dem SPD-Chef als deutschlandpolitischer Berater assistieren. S.21
In seiner fast siebenjährigen Amtszeit hat Gaus das deutsch-deutsche Verhältnis entkrampft. Vorsorglich ließ er auch in der kurzen Dienstzeit als Berliner Wissenschaftssenator seine Kontakte zu DDR-Politikern und zum Sowjetbotschafter in Ost-Berlin, Pjotr Abrassimow, nie abreißen -- zum Ärger seines Nachfolgers Bölling.
Nun hat sich Gaus auch in die SPD-Diskussion über den Nato-Nachrüstungsbeschluß eingeschaltet. In der vorigen Woche lieferte er bei Moskau-Fahrer Brandt ein Positionspapier ab, in dem er den Vorrang der Politik vor der militärischen »Pseudologik« fordert (siehe Seite 20). Gaus zielt auf Schmidt und Genscher, wenn er feststellt, der Nachrüstungskritiker und Ex-General Bastian argumentiere politischer als manche führenden Politiker in Bonn.
Keinesfalls, so Gaus, dürfe die Diskussion auf den Streit reduziert werden, ob es für Europa ungefährlicher sei, wenn die US-Raketen auf dem Land oder auf See stationiert würden. Vielmehr müsse die Frage gestellt werden, welchen Wert das Bündnis noch habe, wenn die kleineren Partnerstaaten zu Befehlsempfängern degradiert würden.
Trotz aller Verstimmung über die ungebetenen Ratgeber versuchten Schmidt-Vertraute vorige Woche, der Brandt-Reise doch noch etwas Gutes abzugewinnen. Der Parteivorsitzende habe die wichtige Aufgabe, versicherte ein SPD-Minister, den Sowjets die Grundposition der Bonner Politik, das Festhalten am Doppelbeschluß, deutlich zu machen. Für die Bundesregierung stehe eben nicht fest, daß in jedem Fall die US-Raketen aufgestellt würden.
Vielleicht habe man in den letzten Wochen zu sehr Rücksicht auf die innenpolitischen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten genommen und zuwenig darauf geachtet, was in Moskau gedacht wird.
Daß auch Kanzler Schmidt nicht mehr alles akzeptieren will, was aus Washington kommt, zeigte er am letzten Mittwoch im Kabinett. Erbost kommentierte er die Ankündigung des neuen amerikanischen Abrüstungsbeauftragten Eugene Rostow, Salt-Gespräche würden lange auf sich warten lassen. Schmidt: »Da muß eine Klarstellung von den Amerikanern her -- und zwar unaufgefordert, nicht erst wenn es in Europa wieder Unruhen gibt.«
Eine Klarstellung seiner Agenda für das Gespräch mit Breschnew lieferte Brandt am Freitag voriger Woche vor belgischen Genossen in Antwerpen: Sein und seiner Partei Ziel sei eine »Null-Lösung bei den Mittelstreckenwaffen«. Sollten die Amerikaner nicht ernsthaft verhandeln wollen, fürchtet er eine neue Hochrüstung. Dann, so Brandt, könnten die Sowjets »mit der Aufstellung der Gegengewichte beginnen«.