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Ungehemmt lustvoll

Computer-Lernprogramme überschwemmen den Software-Markt - mit veralteter Drill-Pädagogik und überfrachteten Spielereien.
aus DER SPIEGEL 49/1994

Klempner Mario hat einen neuen Job. Das rasende Supermännchen mit der Schiebermütze, Hauptdarsteller eines Gameboy-Spiels und Symbolfigur der Nintendo-Generation, muß Kindern jetzt Rechnen, Schreiben und Erdkunde beibringen.

»Super Mario« befindet sich dabei in hinreichend bekannter Gesellschaft. Ob Mickymaus, Peter Pan oder Pumuckl: Gleich dutzendweise wechseln Zeichentrickfiguren derzeit von Spielkonsolen und Fernsehern auf den PC-Bildschirm. Sie sollen jungen Computerbenutzern im Alter von drei bis zwölf Jahren Nachhilfe geben.

Mit dem pädagogischen Geschick der Cartoon-Typen ist es allerdings nicht weit her. »Male richtig, sonst komm'' ich in Wut«, schnauzt Hilfslehrer Pumuckl erschrockene Kids aus dem Lautsprecher der Multimedia-Anlage an, wenn sie beim Ausmalen eines Bildes mit dem Cursor über die vorgegebenen Linien geraten. Und der außerirdische »Adi«, Held einer kompletten Serie (Werbeslogan: »Spielerisch lernen"), sorgt bei Erstkläßlern, die das Programm vorzeitig verlassen wollen, für Gewissensnot: »Wir werden uns doch nicht einfach so trennen. Also komm, weiter geht''s.«

Lern-Software, oft hastig auf den Markt geworfen, soll vor allem im Weihnachtsgeschäft Kasse machen. Und Hardware-Verkäufer wie Gateway ("Family-PC") oder Schadt Computertechnik ("Der High-Tech Familien PC") wollen ihre Rechner in Wohn- und Kinderstuben plazieren. Immer mehr Eltern, haben Mitarbeiter des Computer-Discounters Vobis beobachtet, bringen ihre Kinder beim PC-Kauf gleich mit. Ein Verkäufer des Vobis-Konkurrenten Escom: »Die kennen sich da halt besser aus.«

Die Nachfrage nach kindgerechter Software, sagt Matthias Weh vom Berliner Apple-Fachhändler Pandasoft, »steige ständig«. Pech für die Apple-Gemeinde: Die meisten Programme für das Macintosh-System sind nicht eingedeutscht. Einzig das Lernprogramm »Kleiner Bauernhof«, bei dem die Kinder zusammen mit den Dinos Bronto und Rexi das Leben auf dem Lande erkunden können, ist für Apple-Benutzer zu haben.

Besser hat es die PC-Gemeinde, die Microsofts Betriebssystem MS-Dos und Windows benutzen. Von »Works für Kids« bis zu »Merlins Mathe«, vom »Creative Writer« bis zum »Rechenriesen Adam« reicht die kaum überschaubare Vielfalt. Rund 10 000 elektronische Lernspiele sind derzeit nach Schätzungen im Angebot.

Der Markt expandiere »unheimlich«, bestätigt Corinna Medenus vom Stuttgarter Software-Haus Heureka Klett, »die Bereitschaft zum Kaufen ist riesig«. Der Klett-Verlag, der traditionell die Schulen mit Büchern vom Atlas bis zur Lateingrammatik versorgt, hat sein Sortiment erweitert. Renner zur Weihnachtszeit sind das spielerische Rechenprogramm »Mathe-Blaster« und das Konstruktionsprogramm »Cad für Kids«.

»Eine Trendwende im Image« sieht Jens Schubert, Inhaber eines der ersten deutschen Spezialgeschäfte für Lern- und Spiel-Software im Berliner Bezirk Charlottenburg. Der PC komme weg vom »Ballerspiel-Image«, Eltern fragten nach Leselern- und Mathematikprogrammen. Schubert: »Wir stehen erst am Anfang.«

In Deutschland steht bereits in jedem vierten Haushalt ein elektronischer Rechner. Der Computer, lobt der Reutlinger PC-Lehrer Ulrich Kramer sein Medium, bereite »die Kinder auf einen ungehemmten, lustvollen Umgang mit den neuen Technologien« vor. Der Apparat sei, anders als manche Eltern oder Lehrer, »geduldig« und »erkläre immer wieder«.

Die Möglichkeiten des Computers werden allerdings von manchen programmierenden Schlicht-Pädagogen kaum genutzt. Etliche Firmen, so die Bamberger Erziehungswissenschaftler Friedrich Schönweiss und Rainer Wagenhäuser, »präsentieren schnell und lieblos zusammengestellte Lernprogramme«. Vielen sei anzusehen, daß »als Autoren nicht Pädagogen, sondern Programmierer fungierten«.

Viele Kids sind dann rasch enttäuscht. »Zum Spielen und Lernen, interaktiv und spannend«, verheißt etwa die Werbung _(* In Berlin-Charlottenburg. ) für die Pumuckl-Reihe. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich die Programme, immerhin je 40 Mark teuer, als zum Teil simple Bildschirm-Puzzles, die schnell langweilig werden. Fazit einer Mutter: »Da liegen mir die Teile wenigstens nicht mehr im Weg herum.«

Selbst bei den Amerikanern, auf dem Markt der multimedialen Kinder-Software führend, kehrt Ernüchterung ein. Vielen Lernprogrammen, klagen zum Beispiel debattierende Eltern im weltumspannenden Internet, sei eines gemeinsam: Es gebe keinen Grund, weshalb Kinder manche Fertigkeiten am Computer lernen sollten.

Tatsächlich setzen viele Programme nur lehrerübliche Arbeitsbögen oder Karteikarten um. Mit ihnen wird der PC zur Drillmaschine mit endlosen Abfragevarianten und integrierter Leistungskontrolle.

Vor allem in der Mathematik produzierten die Software-Hersteller »reine Abfrageprogramme«, die den Lernwilligen »womöglich auch noch unter lähmenden Zeitdruck setzen«, kritisiert Wagenhäuser, an der Entwicklung der Lern-Software »Alfons« beteiligt.

Pinguin Alfons, Produkt eines Nürnberger Lehrmittelverlags, bietet immerhin den Wechsel zwischen Lernaufgaben und Spiel, wie er von Reformpädagogen gefordert wird. Bei Lehrern gilt das Programm als recht gelungen, wenn auch nicht ohne Macken. Zwar könnten die Kinder eine Hilfefunktion aufrufen. Aber was solle denn, wundert sich der Ulmer Lehrer Jochen Adam, »ein Leseanfänger mit einer fünfsätzigen Erklärung anfangen?«

Auch Zauberer Merlin im PC-Lernprogramm »Mind Castle« überfordert die Kinder. Beim Versuch, den Wortschatz von Siebenjährigen zu erweitern, quält er Kinder mit der Aufforderung, ein anderes Wort für »toxisch« zu finden. Das Programm zwingt sogar zu falschen Antworten: Als Ersatz für »Vorurteil, sehr persönliche und ungerechtfertigte Verzerrung eines Urteils« bietet der Wortzauberer nur die Alternative zwischen »Meinung« und »Intoleranz«. Und in seinen Hilfetexten finden sich schon mal Rechtschreibfehler.

Wichtiger als korrekte Vermittlung des Stoffes, klagen Pädagogen, sei den Programmierern oft, wie spaßig sich ihre Figuren auf dem Bildschirm bewegen: Da läuft ein Feuerschlucker knallrot an, bleibt ein Löwe in einem Zirkusreifen hängen, fällt einem Zeichentrick-Männchen zur Schadenfreude der Kinder die schwere Bowling-Kugel geräuschvoll auf die Füße.

Entdeckendes Lernen, wie es der Multimedia-PC bieten könnte, findet sich nur in einer Handvoll Programme - vorwiegend eingedeutschten Versionen der US-Software-Produzenten Davidson oder Knowledge Adventure.

»Cad für Kids« mit seinen vielfältigen Möglichkeiten, auf dem Computerbildschirm Häuser zu konstruieren, einzurichten und abzureißen, gehört dazu, ebenso »Abenteuer Weltraum«, eine spannende Entdeckungsreise durch den Kosmos. Microsofts »Creative Writer« bietet etliche Werkzeuge zum Geschichtenerzählen und Gestalten von Texten (siehe Kasten Seite 61).

Selbst bei gut gemachten Programmen, meint PC-Pädagoge Kramer, sollten sich die Eltern mit vor den Bildschirm setzen: »Es ist immer schlecht, die Kinder allein zu lassen.« Zumal Eltern, die ihre Kinder mit Lern-Software sinnvoll beschäftigen wollen, vor dem Kauf ohnehin keine Beratung finden: In Warenhäusern und Computerläden kennt kaum ein Verkäufer die Programme, Vorführungen sind nicht üblich.

Die Beschäftigung mit der Lern-Software lohnt sich auch für Eltern. Erkenntnis des Bonner Thomson-Verlags, der für Kinder ein Anleitungsbuch zur Microsoft-Textverarbeitung »Word für Windows« herausbrachte: Überraschend viele Erwachsene kauften das Werk, weil sie zum erstenmal »ein wirklich einfaches und verständliches Buch auch für Computerlaien« fanden. Y

* In Berlin-Charlottenburg.

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