Zur Ausgabe
Artikel 23 / 91

GESELLSCHAFT Ungelenke Hand

Eine dreiviertel Million westdeutsche Frauen und Männer erziehen ihre Kinder ohne Hilfe eines Partners. Mit der steigenden Scheidungsrate wuchs auch die Zahl dieser sozial und rechtlich Benachteiligten.
aus DER SPIEGEL 45/1975

Wenn der Dichter Peter Handke, 32, morgens am Schreibtisch sitzt, hemmt oft die Vorstellung, daß er in zwei Stunden seine Tochter Amina, 6, »wieder von der Schule abholen« muß, den Fluß seiner Gedanken.

Wenn der Rechtsanwalt Otto Schily, 43, in Stammheim Ablehnungsanträge gegen die Richter im Baader-Meinhof-Prozeß begründet, schießt ihm oft der Gedanke an seine Tochter Jenny Rosa, 8, durch den Kopf, die er in Berlin »bei

* Im einzelnen: 320 000 geschiedene oder getrennt lebende Mütter, 227 000 Witwen mit unmündigen Kindern, rund 100 000 ledige Mütter.

Freunden« untergebracht hat und die »ihren Papa so wenig sieht« (Schily).

Wenn der Wärmetechniker Peter Faldix »des Abends spät« in Köln durch die Zimmer seiner vier Kinder geht, »wenn nachts noch Essen für den Tag vorbereitet werden muß, die ungelenke Hand mit Nadel und Faden sich bemüht«, dann konstatiert Vater Faldix (in einem Bericht für den »Kreis alleinstehender Väter und Mütter"): »Eine Lebensgemeinschaft ist dies wohl, eine Familie nicht.«

Alle drei Männer sind alleinstehende Väter, drei von 100 000 in Westdeutschland. Sie machen -- noch ungewohnt -, was mindestens 650 000 Frauen in der Bundesrepublik auch tun*: Sie vereinigen Vater und Mutter in einer Person. 1,2 Millionen Kinder leben in solchen Verhältnissen,q mit einem alleinstehenden Elternteil.

Dabei mögen sich die Betroffenen selbst als Lebensgemeinschaft, Schrumpf-, Rumpf-, Teil-, Halb-, Mutter- oder Vaterfamilie verstehen oder als »nichts Schlechteres als andere Familien auch« (so der Text eines Ratgebers für alleinstehende Eltern). Fest steht: Die Gesellschaft möchte sie am liebsten übersehen und behandelt sie als Familien zweiter Klasse.

Schriftlich bekam dies jüngst wieder Karin Ludewig, geschieden, Mutter von zehnjährigen Zwillingen, vom Finanzamt Berlin-Tempelhof bescheinigt. Sie lebe, erfuhr die Steuerbevollmächtigte, »weder in einer Ehe noch in einer Familie« im Sinne des Grundgesetzes, denn »in der Gemeinschaft der Klägerin fehlt ... der Mann«. Frau Ludewig: »Es hat mich ziemlich umgehauen ...

Gemeinschaften, in denen die Frau fehlt, werden immerhin von der »Bild-Zeitung« belobigt ("Wunderbare Väter"). Väter mit Kindern, die auf sich gestellt sind, bewegen die Herzen von Boulevard-Lesern wie einst die Moritat von der ledigen Dienstmagd, die schwanger ward.

Die 100 000 Frauen, die ohne Trauring Kinder geboren haben, sind mittlerweile fast eine Minderheit in der Entwicklung, deren Dramatik von den meisten Sozialpolitikern noch nicht erkannt wurde:

* Allein die Zahl der geschiedenen und verwitweten Väter mit Kindern bis zu 15 Jahren hat sich in der Bundesrepublik seit 1969 verdoppelt.

* Die Zahl der alleinstehenden Mütter hat im gleichen Zeitraum um ein Drittel zugenommen.

* Jedes 14. Kind (1969 war es noch jedes 20.) wuchs 1974 in einer unvollständigen Familie heran.

* Jede zwölfte Familie mit Kindern bis 18 Jahren ist eine »Einelternfamilie« (noch einmal die gleiche Zahl sind sogenannte Stiefelternfamilien).

Ein Blick in die Neue Welt zeigt, was auf die Alte zukommt: In den USA lebt bereits jedes siebente Kind in einer »One parents«-Familie. Dabei, stellt die »New York Times« fest, »spricht fast niemand mehr von »zerrütteten' Familien«. Soziologen sprechen vielmehr schon von »tiefgreifend veränderten Kinder-Aufzuchts-Strukturen«.

Die Aufgabe, Kinder allein groß zu ziehen, greift auch in Europa um sich. Nicht nur Künstler und Anarcho-Frauen wie Gudrun Ensslin sind betroffen, sondern auch politische Prominenz und Karrierefrauen -- wie die fallierte Stararchitektin Sigrid Kressmann-Zschach (geschieden, ein Kind) oder die Hamburger Journalistin (und Ex-Nachrichtensprecherin) Wibke Bruhns (getrennt lebend, zwei Kinder).

Die Staatssekretärin im Kanzleramt Marie Schlei, mittlerweile Großmutter, hat die Scheidung »als Befreiung« für sich selbst und ihre »immer nervöser« gewordenen drei Kinder empfunden. Witwen -- Kriegerwitwen mit Kindern gar, wie Bundestagspräsidentin Annemarie Renger -- waren seit je überall willkommen.

»Ein-Elternfamilien« sind in den Medien in Mode. Kaum ein Kinderprogramm im Fernsehen ohne die alleinstehende Mutter, ähnlich auch im West-Berliner Kindertheater »Grips«, dessen Mentor Volker Ludwig seit Jahren auch privat die Rolle des alleinstehenden Vaters spielt.

1970 wurde der Verband alleinstehender Mütter (VAM) gegründet. Aber er hat es noch nicht verhindern können, daß alleinstehende Mütter oder Väter oftmals in Schwierigkeiten geraten, speziell in den kritischen Lebensphasen um Scheidung, um Schwangerschaft oder Tod des Partners, weil Staat und Gesellschaft ihnen nicht genügend Hilfestellung bieten.

»Es ist zu schaffen«, diese Einstellung, so formuliert von der »New York Times«, beginnt sich bei Einzeleltern (auch schon bei Vätern) durchzusetzen -- trotz ihrer insgesamt weniger ermutigenden wirtschaftlichen Lage.

Ihr Familieneinkommen sei meist »viel schlechter« als das von Vollfamilien, befand 1974 eine britische Regierungskommission für Englands Halbfamilien. Der Staat unterstützt jede zweite dieser Familien, 15 Prozent leben, da sie auf Unterhalt verzichten, »unter dem Existenzminimum«.

In der Bundesrepublik ist es kaum besser. Gut 50 Prozent aller »weiblichen Familienvorstände mit ledigen Kindern in der Familie« verfügen über weniger als 800 Mark im Monat, 30 Prozent sogar über weniger als 600 Mark. VAM-Bundesvorsitzende Luise Schöffel, 61, und Lehrerin von Beruf, schätzt, daß 60 Prozent der geschiedenen und getrennt lebenden Mütter staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen müssen.

Dabei sind drei von vier Müttern erwerbstätig (bei verheirateten Müttern ist es nur jede dritte). Daß es trotzdem meist nicht reicht, liegt an der mangelhaften Unterhaltssicherung für die Kinder: Nur jede zweite geschiedene Mutter bekommt nach einer neuen Untersuchung für ihre Kinder vom Vater den vollen Unterhaltssatz regelmäßig überwiesen**. Da sieht es sogar bei den ledigen Müttern günstiger aus, es sei denn, der »Kindsvater« (Amtsterminus) ist Ausländer.

»Problem Nummer eins« ist denn auch in der Sicht von Luise Schöffel und anderen Verbandsfunktionärinnen: »Kein Unterhalt«. Probleme Nummer zwei und drei: Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten und damit zusammenhängende Isolation der alleinstehenden Eltern und ihrer Kinder. Die tägliche Hetze zwischen Wohnung und Arbeitsplatz, der Streß, die Kinder nach Schul- oder Kindergartenschluß unbetreut oder schlecht betreut zu wissen, kostet so viel Kraft, daß die meisten Eltern für soziale Kontakte nach Feierabend nicht mehr zu haben sind.

Außerdem muß abends Hausarbeit nachgeholt werden; muß Papierkrieg mit Ämtern und Gerichten erledigt werden, etwa um Sorge- und Verkehrsrecht zu regeln oder anzufechten; muß der »Ernährer« sich in der Freizeit den Kindern widmen, und schließlich hat er auch noch das Gefühl, in der -- fast durchweg auf Paare gerichteten -- Gesellschaft als überzählig zu gelten.

Wege aus diesen Teufelskreisen zeigen seit einigen Jahren Selbsthilfeorganisationen: In den USA bieten »Parents without Partners«, in Großbritannien »Gingerbread« (zu deutsch: Pfefferkuchen), in der Bundesrepublik die Kreise »alleinstehender Mütter und Väter« ihren Mitgliedern »Kinderfeste« (in Berlin), »mal eine gesellige Veranstaltung« (Köln). Wolfgang Krebs, alleinstehender Vater in Berlin: »Wenn meine (drei) Kinder so ein Fest noch mal erleben dürften, das wäre für mich das Schönste.«

Fast immer gibt es besondere Probleme mit den Kindern. Oft sind sie durch die Trennung der Eltern geschockt, oder sie leiden am Desinteresse des von ihnen getrennt lebenden Elternteils. Das wenige aber, was Wissenschaft und Pseudowissenschaft bislang zum Thema »Jungen ohne Väter«, »Kinder am Scheidungswege« und »nicht normale Familienverhältnisse« beigesteuert haben, weist in die Bereiche Krankheit und Kriminalität und verstärkt bei den Eltern die Angst, zum Mißerfolg verdammt zu sein.

Erst vereinzelt werden Gesprächsgruppen »Modellseminare für Elternbildung« und »Wochenendfreizeiten« von den oder für die Betroffenen organisiert. Dort können Mütter und Väter sich vergewissern, daß »ich nicht alles falsch mache mit der Anke« (alleinstehende Mutter in der Evangelischen Akademie Bad Segeberg).

Alle Gesetzgebung bevorzugt im Effekt noch Ehe und (Voll-)Familie' und wo der bundesrepublikanische Staat etwas für Halbfamilien tut, nimmt er es meist an anderer Stelle wieder weg. So erhalten Einzel-Eltern seit 1975 einen Einkommensteuer-Freibetrag von jährlich 3000 Mark. Gleichzeitig strich aber der Gesetzgeber jede Möglichkeit, Alimente steuerlich abzusetzen. Das wirkt sich auf die Höhe des Unterhalts und auf die Zahlungsmoral negativ aus.

Auch sonst sind allein erziehende Eltern und ihre Kinder steuerlich noch immer benachteiligt, weil sie viel eher in die Progressionszonen geraten als Ehegatten. Deshalb haben einige besserverdienende Mütter aus allen Teilen der Republik Prozesse bei ihren Finanz-

* Szene aus »Mannomann« im West-Berliner »Grips«.

** Renate Künzel: »Die Situation der geschiedenen Frau in der Bundesrepublik Deutschland -- Tabellarische Übersicht über die Befragungsergebnisse. Arbeitskreis für Rechtssoziologie e. V., Hannover. 1975: 18 Seiten: 8 Mark.

gerichten angestrengt, in denen sie beantragen, nach dem günstigeren Splittingtarif für Ehepaare besteuert zu werden.

Bei der Berliner Steuerbevollmächtigten Karin Ludewig macht der Unterschied trotz Halbtagsarbeit über 1000 Mark im Jahr aus. Ministerialrätin Dr. Annemarie Mennel im Bundesfinanzministerium mußte 1974 sogar 4368 Mark mehr Steuern bezahlen, als wenn sie nach der Splitting-Tabelle veranlagt worden wäre.

Würde das Splitting ganz abgeschafft, wofür 1974 auch der Deutsche Juristentag plädierte, dann flössen dem Staat jedes Jahr rund 15 Milliarden Mark mehr Steuern zu. Mit solchen Beträgen ließen sich »gesellschaftlich notwendige Reformen« (Familienbericht) finanzieren. so staatliche Unterhaltskassen für alleinstehende Mütter und Väter oder auch ein »Erziehungsgeld« in spürbarer Höhe für jedes Kind.

Doch bislang genießen allenthalben noch Familien, die zugleich »Ehe« sind, Vorrang.

Wenn der Senat von Berlin demnächst seine »Familiengründungsdarlehen"' die junge Menschen in Berlin seßhaft machen sollen, von 3000 auf 5000 Mark erhöht, werden voraussichtlich die ledigen Mütter und Paare, die beiderseits in Zweitehe leben, ausgespart bleiben.

Wenn Mütter -- besonders alleinstehende -- arbeitslos werden, versuchen die Ämter neuerdings, ihnen das Arbeitslosengeld vorzuenthalten. Begründung: Da sie zeitweilig unbetreute Kinder hätten, stünden sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Nur wenn die Frauen den Nachweis der Kinderbetreuung erbringen, erhalten sie die Unterstützung.

Daß es meist Frauen (und gern Ausländerinnen) trifft, hat Methode. Vätern traut man eher zu, daß sie dem Arbeitsmarkt uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Sie leiden dafür unter dem Vorurteil, sie könnten ohne Frau im Haus keine Kinder aufziehen.

Was alleinstehenden Müttern nur noch vereinzelt von Amts wegen droht, ist bei alleinstehenden Vätern an der Tagesordnung: Sorgerechtsentzug und Amtsvormundschaft. Die laut »Bild« »wunderbaren« Kinderväter sind in einer ähnlich schlimmen Lage wie einst gefallene Mädchen: Wenn sie nicht gerade Handke oder Schily heißen, trauen sie sich selbst nur selten, traut ihnen die Umgebung aber noch seltener zu, daß sie Elternfunktionen zu erfüllen vermögen.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 23 / 91
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren