Zur Ausgabe
Artikel 42 / 65

LITERATUR Ungesungenes Lied

aus DER SPIEGEL 18/1967

Rußlands literarische Kostbarkeit erscheint nicht in Moskau oder Leningrad, sie wird in Frankfurt am Main gedruckt.

Vor 21 Jahren verfaßten exilrussische Literaten die erste Nummer der Zeitschrift »Grani« ("Grenzen") in kyrillischen Buchstaben.

Nach Stalins Tod trat das Blatt seinen Weg über die Grenzen der Sowjet-Union an. Die Vierteljahrsschrift druckte sowjetische Untergrundliteratur und schleuste sie zurück in die Heimat der Autoren.

Verbotene Werke, die im Sowjetstaat von Hand zu Hand gingen, auf Schreibmaschinen vervielfältigte Reman-Manuskripte, auswendig gelernte Gedichte und Essays wurden nach Frankfurt geschmuggelt, im »Possev«-Verlag aufbereitet, bei der Wladimir Gorachek KG in Frankfurt-Sossenheim gedruckt und gelangten als Schmugglergut per »Grani« wieder ins rote Reich.

1957 veröffentlichte »Grani« anonyme Gedichte, die sich später als poetischer Epilog Boris Pasternaks zu seinem Roman »Doktor Schiwago« herausstellten. 1960 sprach in Leningrad der Bildhauer Michail Nariza einen deutschen Kaufmann an und bat ihn, seinen autobiographischen Roman »Das ungesungene Lied« in den Westen zu bringen. Eine Kopie hatte Nariza an Chruschtschow geschickt. Aber kein Sowjet-Verlag, sondern »Grani« druckte das Epos.

Im selben Jahr erschien in »Grani ein anonymes Gedicht, das die sowjetische »Literaturnaja Gaseta« am 24. November 1962 nachdruckte -- unter dem Namen des Autors Boris Sluzkij. Das Interesse der Sowjet-Leser an dem jungen Poeten hatte »Grani« geweckt.

Walerij Tarsis, der später (1966) in den Westen emigrierte Sowjet-Autor, sandte der »Grani«-Redaktion seine Arbeiten »Die blaue Fliege« und »Botschaft aus dem Irrenhaus«. (Die sowjetische Regierung hatte den aufsässigen Tarsis mit der Zwangsisolierung in einer Heilanstalt bestraft.)

Das Frankfurter Intelligenzblatt lief der Parteipresse bei vielen Intellektuellen den Rang ab: Es brachte Verse von Iosiff Brodski, der als »Parasit« zu Strafarbeit verurteilt wurde, es publizierte das verbotene »Requiem« der Anna Achmatowa und 15 Kurzgeschichten von Alexander Solschenizyn ("Ein Tag im Leben des Iwan Denissowusch").

Ganze illegale Zeitschriften, in Rußland getippt oder handgeschrieben, gingen bei »Grani« in Druck: die Untergrundjournale »Phönix«, »Syntaxis«, »Die Sphinxe«, dazu Lyrik und Prosa des heimlichen Dichterbundes »Smog« und das von Alexander Ginsburg verfaßte Weißbuch zum Fall Sinjawski/Daniel (SPIEGEL 9/1967). Ginsburg wurde im Januar verhaftet.

Sechsmal jährlich sendet die Redaktion einen achtseitigen »Brief an die Freunde von Grani«, nämlich -- über »Grani«-Leser -- an die Mitglieder des Schriftstellerverbandes der UdSSR. Etwa jeder zweite der 20-Gramm-Briefe dringt durch die Zensur: Die letzte Seite ist handgeschrieben. Sie liegt bei der Faltung des Briefes außen und erweckt beim Durchleuchten den Eindruck eines Privatbriefes und nicht eines Druckwerks.

Risikofreudige Rußland-Reisende versieht die »Grani«-Gruppe mit der Zeitschrift selbst, jedoch verkleinert auf das Format einer Zigarettenschachtel. In dieser Größe kursiert eine Massenauflage des »Phönix 1966« unter -- den Literaturfreunden in der Sowjet-Union.

Die Sowjets versuchen, die Konterbande abzufangen. Der Heidelberger Slawistik-Student Schaffhauser, der vorige Woche in Leningrad wegen »illegaler Einfuhr antisowjetischen Materials vor Gericht stand. führte Mini-»Grani« im Kulturbeutel, als er zu Silvester Moskauer Musikfestspiele besuchte.

* Originalgröße: 10,5x12,7 Zentimeter.

Zur Ausgabe
Artikel 42 / 65
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren