POLEN-FLÜCHTLINGE Ungewöhnlich liberal
Die »Stefan Batory« hat Kino, Swimming-pool und Nachtklub an Bord und ist für Polen so etwas wie ein Traumschiff. Wer eine Reise auf dem Kreuzfahrer buchen kann, entkommt für kurze Zeit der sozialistischen Tristesse - und wenn er will, für immer.
Denn auf der Fahrt ins Blaue oder zu den Kanarischen Inseln läuft das Schiff westliche Häfen an, sei es in Norwegen, England oder in der Bundesrepublik - Gelegenheit für die Osttouristen, bummeln zu gehen. Oder im Westen zu bleiben.
Die Alternative wählten sie letzte Woche scharenweise. Gleich 191 Polen und ein DDR-Bürger ließen am Montag die »Stefan Batory« in Hamburg fahren, fünf weitere Polen verließen am Dienstag in Rotterdam das Schiff. Am Mittwoch zogen es dann 17, am Freitag 18 Polen vor, nicht mehr auf das Passagierschiff »Rogalin« zurückzukehren, das regelmäßig Stippvisiten in Kopenhagen und Travemünde macht - die Fahrt in der voraufgegangenen Woche zeitigte sogar ein Passagier-Minus von 93.
Immer »wenn eines dieser Schiffe einen deutschen Hafen anläuft«, sagt Manfred Sorg, Leiter des Hamburger Einwohnermeldezentralamts, »wissen wir schon, da kriegen wir wieder Asylbewerber«. Die Bundesrepublik ist bevorzugter Zufluchtsort - zum einen, weil alle ohne Umschweife eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, zum anderen, weil sich schon viele Landsleute niedergelassen haben, die weiterhelfen.
Rund 96 000 Polen-Flüchtige sind in Westdeutschland und Berlin gemeldet, womöglich eine gleich große Anzahl lebt und arbeitet schwarz. Bis Ende Oktober stellten in diesem Jahr bereits 3080 (1983 insgesamt: 1949) Polen Asylanträge.
Dem politischen Druck und der wirtschaftlichen Misere zu Hause entziehen sich Polen sämtlicher Altersgruppen und Schichten, »das geht querbeet vom Handwerker über den kaufmännischen Angestellten bis zum Ingenieur«, wie ein Hamburger Amtsleiter weiß.
Darunter sind deutschstämmige Polen, die schon mehrfach vergeblich ihre Aussiedlung beantragt haben und sich in der Bundesrepublik nun einfach einbürgern lassen. Um Asyl bitten vor allem Polen, die als Gewerkschaftsmitglieder oder aktive Christen staatlichen Repressalien ausgesetzt waren und sich nicht länger drangsalieren lassen wollen.
Schließlich gibt es unter den Zugereisten eine ganze Menge, die nur vorübergehend im Westen bleiben wollen, um ein paar Mark zu verdienen, und mit vollbepacktem West-Wagen zurückkehren; die kommen mit einer amtlichen Besuchserlaubnis in den Westen.
Wer auch immer mit welchem Grund nach Westdeutschland kommt - abgewiesen wird keiner. Politische Verfolgung ist zwar nur in seltenen Fällen nachweisbar, Asyl wird deshalb kaum gewährt. »Das sind überwiegend Wirtschaftsflüchtlinge«, weiß der Hamburger Amtsleiter Sorg, doch ab nach Polen muß, anders als bei anderen Ausländergruppen, trotzdem keiner. Nach einer Übereinkunft der Innenminister von 1966 dürfen Ostblock-Flüchtlinge weder abgewiesen noch abgeschoben werden. Das hat sich auch in Polen längst herumgesprochen.
Die seit Jahren andauernde West-Bewegung wird ermöglicht durch eine für Ostblock-Verhältnisse ungewöhnlich liberale Ausreisepolitik. Polnische Behörden erteilen Paß und Reiseerlaubnis für West-Touren nahezu ohne Beschränkung. Ausgenommen sind Geheimnisträger und besonders hartnäckige Dissidenten. Anstandslos erhalten Polen Sichtvermerke von der deutschen Botschaft.
Die so erlaubte Ausreise, quasi die geduldete Flucht, ist dann nur noch eine Sache des Arrangements. Wer reisen will, muß in Polen eine Einladung aus dem Westen vorlegen. Wer mit dem Schiff auf Kreuzfahrt gehen will, braucht Geduld für die Buchung - und Zloty.
Die polnische Großzügigkeit macht deutlich, daß Warschau sich an das vor Jahren international beschlossene Helsinki-Abkommen halten will, nach dem Freizügigkeit für alle Bürger gilt. Überdies verringert die Reisewelle die heimische Mangellage, dringend benötigte Waren und Devisen kommen ins Land. So leistet die Bundesrepublik, wie es in Bonn gesehen wird, »eine indirekte Wirtschaftshilfe für Polen«.
Daß sie sich durch einen ausgedehnten Aufenthalt im Westen nicht einmal die spätere Rückkehr verbauen, wissen die Polen ebenfalls. In ihrem Land gibt es, anders als in der DDR, nicht den Straftatbestand Republikflucht. _(In Rotterdam, am Dienstag vergangener ) _(Woche. )
In Rotterdam, am Dienstag vergangener Woche.