BUNDESLÄNDER / BAYERN Ungleiche Gesichter
Eingedenk des Heilsauftrags der Kirche für alle Menschen«, verfaßten katholische Priester im Bayerischen Wald eine Resolution, die der CSU-Regierung in München ungelegen kommt.
Die geistlichen Herren hatten in den Landkreisen Grafenau und Wolfstein an der böhmischen Grenze eine sogenannte Gebietsmission abgehalten und sich dabei auch mit den weltlichen Nöten ihrer Pfarrkinder befaßt. Ihr Ergebnis: Das ostbayrische Grenzland werde »systematisch ausgelaugt«.
Damit bestätigten die Priester -- unter ihnen Domkapitular Johann Sommer, Mitglied des Landesvorstandes der CSU -, was der Münchner SPD-Abgeordnete Georg Kronawitter, 42, dem für Bayerns Strukturpolitik verantwortlichen CSU-Wirtschaftsminister Dr. Otto Schedl seit Wochen vorwirft.
Gestützt auf Untersuchungen des von der Bonner SPD-Parteizentrale ausgeliehenen Volkswirts Ulrich Pfeifer, erkannte Kronawitter, im Zivilberuf Handelsschul-Oberstudienrat mit den Fächern Volks- und Betriebswirtschaft, daß Bayern »ein Land mit zwei recht ungleichen Gesichtern« ist.
Die eine Seite: wirtschaftlich starke Ballungszentren mit einem großen Angebot an privaten und öffentlichen Dienstleistungen -- so die Städte München, Augsburg, Nürnberg und ihr Umland.
Die andere Seite: weite Gebiete mit niedrigem Entwicklungsstand und »einer beklagenswerten Unterversorgung der Bevölkerung im Dienstleistungsbereich« (Kronawitter) -- so nahezu der gesamte Regierungsbezirk Niederbayern' Teile der Oberpfalz und Oberfrankens und die bayrische Rhön.
Zwar vermerkte kürzlich die »Süddeutsche Zeitung« in einer Sonderbeilage über die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung des Landes, daß »München leuchtet -- ganz Bayern strahlt«. Doch in die abgelegenen Provinznester dringt wenig von diesem Glanz.
So verzeichnete der Landkreis Wolfstein im Bayerischen Wald noch im März des vergangenen Jahres eine Arbeitslosenquote von 28,4 Prozent gegenüber dem Bundesdurchschnitt von 1,2 Prozent. Während der Konjunkturkrise 1966/67 mußten bis zu 45 Prozent der Arbeiter feiern.
Im Landkreis Wegscheid, so stellte die Priestergruppe des Prälaten Sommer in ihrer Resolution fest, verdiente 1968 ein Industriearbeiter durchschnittlich 590 Mark -- gegenüber 850 Mark im Bundesdurchschnitt.
Der Einkommensabstand vergrößerte sich in den wirtschaftlich schwachen Gebieten sogar noch weiter. So lagen die Brutto-Stundenverdienste der oberbayrischen Industriearbeiter im Oktober 1965 um rund 20 Prozent über den durchschnittlichen Stundenlöhnen in Niederbayern. 1969 war die Differenz auf 24 Prozent gewachsen.
Zahlreiche »Waldler« fanden Arbeit nur in weit entfernten Städten wie München, Nürnberg oder gar Stuttgart. Der Landkreis Wolf stein verzeichnet 2600 solcher Fernpendler, die ihre Familien nur am Wochenende sehen können -- oder noch seltener.
Die zwei verschiedenen Gesichter Bayerns blicken selbst von den Häusern. Während In Oberbayern nur noch 25 Prozent aller Gebäude aus den Jahren vor 1918 stammen, sind es in Niederbayern 40 Prozent. Den Rekord hält die niederbayrische Kreisstadt Viechtach, wo über die Hälfte aller vorhandenen Gebäude vor 1918 gebaut wurde.
Vor allem die jungen und beweglichen Leute, die in den bodenständigen Industrien wie Webereien, Glashütten und Steinbruchunternehmen kein Auskommen mehr fanden, kehrten dieser Grenzland-Misere In einer »Abstimmung mit den Beinen« (Pfeifer) den Rücken und wanderten in die aufstrebenden Regionen Bayerns ab.
Dennoch glaubt Bayerns Wirtschaftsminister Dr. Otto Schedl, der vor zwei Jahren die Strukturschwächen im Grenzgebiet zur DDR noch unumschränkt zugegeben hatte, an die Erfolge seiner Regionalpolitik. Dem Abgeordneten Kronawitter warf er vor, er verfahre mit diesen Erfolgen »wie ein Grobschmied und deformiert sie nach seinem Wunsch«.
Und Schedls Staatssekretär Franz Sackmann richtete einen offenen Brief an Kronawitter, in dem er dem Sozialdemokraten »ein ungewöhnliches Maß dialektischer Unverfrorenheit« bescheinigte. Zu den von Kronawitter vorgelegten Zahlen indes wußte er wenig zu sagen.
Aber selbst wenn die Münchner Regierung mit Zahlen operiert, rechnet sie an den Tatsachen vorbei: Als vor knapp einem Jahr Bayerns SPD verlauten ließ, 1967 hätten 30 000 Menschen die ländlichen Gebiete verlassen, verbreitete die Staatskanzlei des Ministerpräsidenten Alfons Goppel eine ungewöhnliche Presse-Erklärung.
Der Statistik zufolge, so ließen die Kanzlisten wissen, hätten am Ende des Jahres 1967 In den bayrischen Landkreisen 62 758 Menschen mehr gewohnt als zu Beginn des Jahres. Gewollt oder ungewollt wurde dabei übersehen, daß ein Landkreis längst nicht mehr unbedingt ein ländliches Gebiet ist; so umschließt der Landkreis München eine Großstadt und hat als Siedlungsgebiet der Großstädter seinen ländlichen Charakter weitgehend verloren.
Der Münchner Geograph und Privatdozent Dr. Karl Ganser, der seit Jahren kritische Analysen der weißblauen Raumordnungspolitik liefert, warf den Behörden daher »entscheidende Fehler« bei ihrer Zahlen-Interpretation vor. Die Abwanderung aus dem ländlichen Raum, so Ganser, habe keineswegs aufgehört, sondern nur »schleichenden Charakter« angenommen. Ganser: »Ein Teil des Geburtenüberschusses wandert nach wie vor ab. Die bisherigen regionalpolitischen Förderungsmaßnahmen sind weitgehend ungeeignet, um diese Abwanderung zu verhindern.«
Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch die Priester-Gruppe aus dem Bayerischen Wald, die »endlich eine wirksame Strukturverbesserung« forderte,
Die Arbeitnehmer in den benachteiligten Gebieten wurden von den Geistlichen aufgerufen, sich »nicht mit der ungerechten Situation abzufinden ... sondern für ihre Rechte zu kämpfen«. Überdies wurden Arbeiter und Angestellte ermuntert, »sich gewerkschaftlich und politisch zu engagieren, um so die künftige Entwicklung mitzubestimmen«.
Struktur-Minister Schedl hat bisher zu den Angriffen der Pfarrer nicht Stellung genommen. Wie sein Pressesprecher Siegfried Fußeder versicherte, will er »den Herren einen Brief schreiben«.