EHESCHEIDUNGEN Ungleiche Gleichheit
Früh um halb sieben pflegt Alfred Friedrich Ziegler, 34, Diplom-Physiker in Ottobrunn bei München, aus dem Bett zu steigen. Nach dem Rasieren weckt er Sohn Martin, 7, und stellt für den Schlaftrunkenen warme Milch bereit, dazu Vollkornbrot, Marmelade und Honig, manchmal ein Ei.
Zeitig vor acht verlassen der kleine und der große Mann die Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Sohn geht zur Albert-Schweitzer-Grundschule, der Vater weiter zu einem Institutsgebäude des Rüstungskonzerns Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB), wo er Infrarotsensoren für Satelliten konstruiert, baut und testet.
Mittags holt der Physiker den Knaben von der Schule ab zum Essen daheim -- meist Fertiggerichte und Tiefkühlgemüse. Ziegler: »Ich koche nicht sehr kompliziert.« Auch die Hausarbeit -- Geschirrspülen, Knöpfeannähen, Wäschewaschen, Staubsaugen -- strapaziert den Hausmann nicht im Übermaß: »So schwer ist das alles nicht.«
Schier unerträglich aber findet der Diplom-Physiker. daß er von den Bezügen aus seinem Halbtagsjob (monatlich netto 1392,89 Mark) nicht nur laufende Ausgaben wie die Wohnungsmiete (monatlich 520 Mark) und Ratenverpflichtungen (monatlich 185 Mark) bestreiten soll, sondern auch noch den Unterhalt für die in Scheidung lebende Ehefrau Silvia: 700 Mark im Monat.
Diese Summe, die Vater und Sohn nun praktisch nichts mehr zum Lebensunterhalt läßt, wurde im März 1975 von einem Gericht festgesetzt und auch dann nicht verringert, als sich Ziegler im Juli des gleichen Jahres wegen der Versorgung des kleinen Sohnes zur Halbtagsarbeit gezwungen sah.
Seither bemüht sich der Physiker unentwegt, doch bislang vergeblich, durch Anrufung von Gerichten um Befreiung von der erdrückenden Last. Dabei ist der Streit zu einem exemplarischen Fall geworden für die Ungleichbehandlung von Mann und Frau und zwar diesmal zu Lasten des Mannes.
Zwar stieß Ziegler in erster Instanz auf Verständnis. So reduzierte das Landgericht München I im September 1975 die reichliche Alimentation rückwirkend auf monatlich 350 Mark und strich für die Zukunft den Monatswechsel ganz.
Denn dem Vater könne »nicht verwehrt werden, nur noch eine Halbtagsbeschäftigung auszuüben, um sich dem gemeinsamen Kind. das in seiner Obhut ist, vermehrt widmen zu können«. Die allein lebende Frau könnte ja »bei intensiverem Bemühen, als sie bisher gezeigt hat, eine angemessene Arbeitsstelle finden«.
Das Oberlandesgericht München, bei zunehmender Zahl sogenannter Konventionalscheidungen nur noch relativ selten in Ehefragen beansprucht, blieb hartnäckig und hob das Urteil auf. Der mit zwei Richtern und einer Richterin besetzte 17. Zivilsenat entschied im Januar 1976, der inzwischen stark verschuldete Zahl-Vater müsse »alle verfügbaren Mittel zu seinem, des gemeinschaftlichen Kindes und der Beklagten Unterhalt verwenden«. Dabei sei »hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit von dem auszugehen, was er verdient oder verdienen könnte« -- die letzten zwei Wörter sind vom Gericht dick unterstrichen.
Was bei jeder Frau in gleicher Lage als klarer Hinderungsgrund für eine berufliche Tätigkeit, jedenfalls für eine ganztägige Beschäftigung ausreichen würde, zählt bei Ziegler nicht. Der arbeitende Vater, so der Zivilsenat, könne doch »das Kind in einem Ganztagskindergarten unterbringen« oder »seinen Eltern überlassen«.
Auch eine vom klagenden Vater nachgewiesene freie Stelle bei MBB (20 000 Beschäftigte) für die fünf Sprachen beherrschende Ehefrau wurde von dieser wie vom Zivilsenat zurückgewiesen. »Ein streitiges Scheidungsverfahren«, fanden die drei Richter, »bringt für die Parteien regelmäßig schon so viele Belastungen mit sich, daß der Beklagten nicht zumutbar ist, sich auch nur möglichen zusätzlichen Aufregungen auszusetzen, welche von Kollegen oder im Personalbüro erwachsen können und auch in einem sehr großen Betrieb nicht auszuschließen sind.«
Auch noch höhere Gerichte wollten dem Bedrängten, der sich schon im »Sumpf deutscher Jurisprudenz« untergehen sieht, nicht helfen. Das Bundesverfassungsgericht hielt Zieglers Verfassungsbeschwerde aus formalen Gründen teils für unzulässig (weil verspätet), teils für nicht erfolgversprechend: Es handele sich um eine »bloße Übergangsregelung«; erst »nach rechtskräftiger Scheidung« könne man weitersehen. Ziegler, der schon fast zwei Jahre lang zahlt, sarkastisch: »Wie soll denn das übergangsweise Verhungern meines Kindes aussehen?«
Auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof konnte keinen Verstoß gegen Verfassungsgrundsätze erkennen. Nur wenn das Gericht sich »von willkürlichen, d. h. objektiv sachfremden Erwägungen hätte leiten lassen und sich so »außerhalb jeder Rechtsanwendung überhaupt gestellt« hätte, wäre Zieglers Beschwerde erfolgreich. Das neunköpfige Gericht belastete den Beschwerdeführer mit einer Gebühr in Höhe von 300 Mark.
Den mittlerweile auf 25 000 Mark gehäuften Schuldenberg Zieglers bezeichnete der »Bayerische Rundfunk« als »Zinseszins einer zerrütteten Ehe«; das bislang vergebliche rechtliche Manöver des Hausmannes bewertete der Sender als Beispiel für »Emanzipationsversuche von geschiedenen oder getrennt lebenden Vätern«.
Der Bayern-Sender knüpfte an die Schilderung des Falles Ziegler die Frage, »ob die Worte Gleichberechtigung und Emanzipation extremistischen Frauenbündlerinnen überlassen bleiben oder Gleichberechtigung und Emanzipation auch in bürgerliche Familien einziehen dürfen«.
Auch das neue Eherecht, das vom 1. Juli dieses Jahres an gilt, wird der mal so, mal so ungleichen Gleichheit zwischen Mann und Frau nicht abhelfen. Zwar ist dort ganz geschlechtsneutral nur noch vom »Elternteil« oder »Ehegatten« die Rede; dem einen wird nicht mehr die Rolle der Hausfrau, dem andern nicht mehr die Rolle des Geldverdieners zugewiesen.
Aber solange die Gesellschaft die überkommenen Rollenbilder in der Praxis nicht selber verändert, verhindert auch das neue Recht nicht Urteile wie die der Richter am Münchner Oberlandesgericht, die für Ziegler »scheinbar noch im vorigen Jahrhundert leben«. Zieglers Anwalt Hermann Hohenester: »Das ist so ein Atavismus: Die Frau wurde unter die Haube gebracht, die Ehe war ein lebenslanges Versorgungsinstitut.«
Ganz so schlimm freilich scheint es gar nicht mehr: Kurz vor Weihnachten erwirkte Ziegler für seinen Sohn Martin einen Unterhaltsanspruch gegen die Mutter -- 180 Mark im Monat. Für Vater Ziegler haben diese Alimente vorerst aber »nur einen theoretischen Wert": Er darf die zugebilligten 180 Mark nicht von den 700 Mark abziehen, die er seiner Frau nach wie vor überweisen muß.