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AUSSENPOLITIK Ungute Winke

aus DER SPIEGEL 50/1957

Als Bundesaußenminister Heinrich von Brentano am Dienstagabend letzter Woche vor dem Auswärtigen Amt in sein Auto stieg, um nach Hause zu fahren, schaute er erwartungsvoll in den regnerischen Dezemberabend und sagte: »Wenn doch morgen nur Nebel wäre, dann brauchte ich nicht nach London zu fliegen.« Der Minister wünschte sich Nebel, wie Schulkinder sich eine Erkältung wünschen, wenn sie eine schwierige Klassenarbeit schreiben sollen.

Londoner Unannehmlichkeiten hatten sich nämlich bereits abzuzeichnen begonnen, als die englische Regierung inoffiziell wissen ließ (SPIEGEL 46/1957), daß sie auch für das kommende Haushaltsjahr Stationierungskosten für ihre Truppen in Deutschland fordern werde. Vor vierzehn Tagen gab die englische Botschaft im Bonner Außenamt dann einen Brief ab, in dem von der Bundesregierung offiziell rund 50 Millionen Pfund (560 Millionen Deutsche Mark) verlangt wurden.

Westdeutsche Regierungspolitiker und Diplomaten erbitterte daran am meisten, daß die Engländer ihre neuen Geldforderungen nicht etwa mit der Zusage koppelten, nun keine Truppen mehr aus der Bundesrepublik zurückzuziehen.

Im Gegenteil: Bei allen Gesprächen ließen sie durchblicken, daß man, wie geplant, insgesamt 27 000 Mann (13 500 davon sind schon weg) abziehen wolle. London wäre zwar eventuell bereit, dafür 5000 Mann seiner strategischen Reserve nach Deutschland zu legen; aber von dieser Idee hält der militärische Führungsstab der Bundeswehr nichts, weil jedermann glaubt, die Engländer würden diese »Feuerwehr« im Ernstfall überall, nur nicht in Europa einsetzen.

In zwei Kabinettssitzungen - einmal mit, einmal ohne den kranken Kanzler - und in einer Sitzung des Bundesverteidigungsrates am Dienstag letzter Woche wurden die britischen Geldforderungen besprochen. Die Minister wurden sich schnell einig, daß der Bundeshaushalt, der durch die eigene Aufrüstung stark strapaziert wird, keine weiteren Zahlungen an die westlichen Verbündeten zulasse.

In einer gemeinsamen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses des Bundestages am Dienstag letzter Woche erfreute Außenminister von Brentano die Abgeordneten mit der Feststellung, daß die Bundesregierung keinerlei Stationierungskosten mehr zahlen werde, weder an England noch an die anderen Besatzungsmächte.

Diese Geste der Stärke wurde allerdings schon wenig später auf eine schwere Belastungsprobe gestellt, als auch die amerikanische Regierung in Gestalt des Gesandten Trimble vorstellig wurde und erklärte, sie verlange ebenfalls Geld.

Zunächst einmal riefen die Amerikaner die zweite Hälfte der ihnen für das laufende Haushaltsjahr zugestandenen 650 Millionen Mark ab. Optimisten im Auswärtigen Amt hatten schon gehofft, daß Amerika darauf verzichten werde, nachdem diese zweite Rate bislang nicht eingefordert worden war. Der gerade aus Amerika zurückgekehrte Botschafter Bruce ließ jedoch keinen Zweifel daran, daß die Vereinigten Staaten genau wie die Engländer auch für das nächste Haushaltsjahr eine Unterstützung beanspruchen würden.

Die Bundesregierung beschloß, einstweilen hart zu bleiben. Heinrich von Brentano erhielt entsprechende Instruktionen für seine Besprechungen in London. Der Bundesaußenminister ließ den Engländern deshalb schon vorweg bestellen, er habe nicht die Absicht, bei seinem Aufenthalt in England über Stationierungskosten zu verhandeln.

Die britische Regierung meldete ihre finanziellen Forderungen an Deutschland daraufhin nicht nur in Bonn, sondern auch bei der Nato und der Westeuropäischen Union an. England beruft sich dabei auf den Artikel 3 des Nordatlantikpaktes: Er sieht vor, daß sich die Nato-Mitgliedstaaten im Interesse der gemeinsamen Verteidigung gegenseitig unterstützen. Die unterstützungsbedürftigen Engländer wiesen auch auf eine Resolution der Nato hin, in der allen Ländern ausdrücklich Hilfe zugesagt wird, die Truppen in

anderen Nato-Ländern stationiert halten und dadurch in finanzielle Schwierigkeiten geraten.

Unverhüllt drohte das Foreign Office in einer Publikation: Sollten die Nato-Staaten

- sprich: die Deutschen - Großbritannien

keine Hilfe gewähren, und sollte es deshalb zu einem weiteren Truppenabzug kommen, dann würde dies »die Gefahr einer Strategie an der Peripherie mit sich bringen«.

Derart ungute Winke mit dem Zaunpfahl machten Heinrich von Brentanos Wunsch verständlich, um den London-Flug herumzukommen. Aber der Nebel über Nordrhein-Westfalen war nicht so dick, daß ein Start unmöglich gewesen wäre. So kletterte Brentano am Mittwoch letzter Woche in Düsseldorf samt Staatssekretär Hallstein und Pressechef von Eckardt in eine Lufthansa-Maschine.

Über England aber lag dicker Nebel. Oberst Hans von Ploetz, der deutsche Luftwaffen-Attache in London, rief stundenlang bei allen möglichen Behörden an, um festzustellen, wo die Lufthansa-Maschine aus Düsseldorf mit Brentano an Bord landen würde. »Es Ist wie im Kriege«, erinnerte sich ein Offizier der Royal Air Force im englischen Luftfahrtministerium: »Wo und wann kommen die Deutschen?«

Dem Obersten von Ploetz wurde schließlich bedeutet, es bestünden Aussichten, daß Brentano auf dem Flugplatz Blackbushe englischen Boden betreten werde. Eilends fuhr Botschafter Hans von Herwarth im schwarzen Mercedes gen Südwesten, um seinen Minister zu begrüßen. Während das Botschafter-Auto sich im dicken Nebel auf die Rollbahn des Flugplatzes Blackbushe verirrte, was zu einer Katastrophe hätte führen können, falls wirklich Brentanos Flugzeug gelandet wäre, wurde die Lufthansa-Maschine nach Manston umdirigiert, einem amerikanischen Militärflugplatz Im östlichen Zipfel Südenglands. Ein einsamer Amerikaner, der Kommandant des Flugplatzes, entbot dem deutschen Außenminister den ersten Gruß auf britischem Boden. In Polizeiautos fuhr die Bonner Reisegesellschaft nach London zur deutschen Botschaft.

Das Mittagessen, das Außenminister Selwyn Lloyd für die deutsche Delegation

angesetzt hatte, war längst verpaßt. Heinrich von Brentano erklärte, er wolle sich ein Stündchen verschnaufen, sei aber bereit, danach noch vor dem geplanten Abendessen bei Macmillan zu einer kurzen Arbeitssitzung nach Downing Street 10, dem Sitz des Premiers, zu fahren. Das aber lehnten die Engländer ab. Sie schlugen vor, die Konferenz auf den nächsten Tag, den Donnerstag, zu verschieben.

Dem Außenminister von Brentano blieben also vor dem Essen unerwartet einige Stunden Zeit, nicht nur, um sich gründlich zu verschnaufen, sondern auch um noch einmal mit seiner Begleitung Rat zu halten, was Premierminister Macmillan und Außenminister Selwyn Lloyd wohl alles zur Sprache bringen würden.

Tatsächlich hatte der britische Premier eine besondere Idee: Seit Eisenhowers Schlaganfall hat sich im Hirn des ehrgeizigen Macmillan der Gedanke festgesetzt, angesichts der Führerlosigkeit Amerikas sei er dazu berufen, bei der vorweihnachtlichen Nato-Konferenz in Paris als neuer Führer des Westens aufzutreten.

Für diese Rolle, so meinte Macmillan, brauche er einen Sekundanten auf dem Festland. Wegen der Schwäche Frankreichs schien ihm Konrad Adenauer der geeignete Mann. Als des Kanzlers Besuch im letzten Augenblick krankheitshalber abgesagt wurde, empfand Macmillan das als einen schweren Schlag. Nun mußte er sehen, mit Brentano zurechtzukommen.

Aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung hielt es das englische Kabinett allerdings auch für ratsam, die Finanzfrage in den Besprechungen mit Brentano nicht völlig zu übergehen, obgleich sie eigentlich schon bei der Nato in Paris anhängig war. Der Bundesaußenminister erfuhr das schon am Mittwochabend nach dem Dinner in Downing Street 10, wo er zum ersten Mal während seines Besuchs mit seinen Gastgebern zusammentraf.

Nachdem die Tafel um halb zehn aufgehoben war, schlich sich Macmillans Privatsekretär zu sechzehn der vierundzwanzig versammelten Gäste und flüsterte ihnen zu, der Ministerpräsident fühle sich etwas müde. Sie verstanden den Wink und verschwanden. Macmillan blieb mit einigen Kabinettskollegen und den Deutschen allein.

Deutschland, so ließ er sich vernehmen, könnte es sich durchaus leisten, die geforderten Stationierungskosten zu zahlen. Brentano erwiderte, die deutsche Prosperität werde im Ausland leicht überschätzt. Da meinte der englische Premier sehnsüchtig: »Ich glaube, unser Finanzminister Peter Thorneycroft würde doch lieber in Professor Erhards Schuhen stecken!«

Während der Beratungen, die in London am nächsten Tag - dem Donnerstag letzter Woche - folgten, schlug Macmillan vor, ein ständiges Militärkomitee der Nato zu schaffen, das die wissenschaftliche Forschung und die Waffenproduktion rationalisieren solle. Es solle auch untersuchen, ob sich die fünfzehn Mitglieder der Nato nicht auf bestimmte Verteidigungsaufgaben spezialisieren könnten.

Den Engländern ist die Aufgabe, die ihnen in der Nato-Wehrmacht der Zukunft zufallen soll, schon klar. Sie gedenken, ihre Truppen vom Kontinent völlig zurückzuziehen und ihren Teil für die Verteidigung Europas durch Raketen-Waffen mit Wasserstoff- und Atom-Köpfen zu leisten. Ihre in den Pariser Verträgen akzeptierte Verbundenheit mit dem Kontinent, die gegenwärtig durch die Rheinarmee manifestiert wird, soll in der Freihandelszone einen hinreichenden Ausdruck finden.

Mit derartigen Hinweisen auf ihre Militärpläne konnten die Engländer das Unbehagen der Bonner Delegation über Großbritanniens Politik, das schon durch die neuen Geldforderungen entstanden war, nur verstärken. Westdeutschlands CDU -Prominenz argwöhnt seit EVG-Zeiten, daß England - ob sozialistisch oder konservativ regiert - den europäischen Zusammenschluß zu torpedieren sucht, um seine Stellung als dritte Weltmacht neben Amerika und der Sowjet-Union zu behaupten.

Die sogenannte Einheit des Westens, die eigentlich auf der bevorstehenden großen Atlantik-Konferenz in Paris demonstriert werden sollte, ist nun durch den leidigen Streit ums Geld noch brüchiger geworden, als sie es ohnehin schon war. Statt die westliche Einheit zu stärken, wird die Konferenz sich jetzt damit beschäftigen müssen, die vielfältigen Risse zu kitten.

Heinrich von Brentano aber gab sich nach seiner Londoner Reise wieder tiefbefriedigt. »In bezug auf die Gipfelkonferenz haben wir in allen Einzelheiten bis auf Nuancen Übereinstimmung erzielt«, resümierte er. Die englisch-deutschen Beziehungen, fügte er hinzu, »sind vielleicht seit Jahrhunderten nicht so gut gewesen«.

London-Reisender von Brentano (M.), Begleiter von Eckardt, Hallstein: Wenn doch nur Nebel wäre!

Evening Standard, London

Brentano: »Wir stellen den Oberbefehlshaber, General Speidel; Sie stellen die Armee, und die Kosten werden wir uns teilen. - Speidel werden wir bezahlen.«

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