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Schweiz Unheimlich gemütlich

Die bedächtigen Eidgenossen laufen Gefahr, von der Europa-Dynamik überrollt zu werden.
aus DER SPIEGEL 44/1991

Der Moderator des Schweizer Fernsehens wies seine Zuschauer auf den »möglicherweise historischen« Moment hin. In Luxemburg waren die zwölf EG-Länder und die sieben Staaten der Europäischen Freihandelszone (Efta) Anfang voriger Woche dabei, nach mühseligen Verhandlungen doch noch die Schaffung eines gemeinsamen »Europäischen Wirtschaftsraums« (EWR) vom Nordkap bis Sizilien zu vereinbaren.

Der Hinweis auf die Geschichtsträchtigkeit des Augenblicks weckte im Alpenland zwiespältige Gefühle. Denn der EWR-Vertrag wird den gemütlichen Eidgenossen große Umwälzungen im Schnelltempo bescheren. Und nichts entzweit die Schweizer zur Zeit so sehr wie die Aussicht, ihren sauberen, bequem gepolsterten Bummelzug zu verlassen und in die aus Brüssel ferngesteuerte Europa-Schnellbahn umzusteigen.

Der Ausgang der Parlamentswahl am vorvergangenen Sonntag bestätigte das Unbehagen, das viele Schweizer über den ihnen fremd und bedrohlich erscheinenden Koloß EG empfinden: Europapolitisch zerstritten, verloren die beiden großen bürgerlichen Regierungsparteien einen Teil ihrer Wähler an Gruppen, die Fremdenhaß, Isolationismus und die Freiheit des Autoverkehrs zu einem populistischen Programm vermengen.

Am linken Rand legten die Grünen zu, die sich Groß-Europa erst anschließen wollen, wenn die EG-Institutionen demokratisch, föderalistisch und ökologisch geworden sind. Die Sozialdemokraten, einzige Regierungspartei, die so rasch wie möglich in der EG mitreden will, stagnierten bei weniger als 20 Prozent. »Wir sind auf dem Weg in die politische Krise«, kommentierte die liberale Lausanner Zeitung Le Nouveau Quotidien das Ergebnis.

In einer Volksabstimmung werden die Schweizer Ende nächsten Jahres darüber befinden müssen, ob sie mit dem EWR-Vertrag einen ersten Schritt in Richtung EG-Vollmitgliedschaft tun wollen. Der Ausgang ist ungewiß.

Kaum waren die eidgenössischen Unterhändler, angeführt von drei Ministern, abgekämpft aber stolz über den »Durchbruch in der Europafrage« (Verkehrsminister Adolf Ogi) aus Luxemburg zurück, fielen Verbände und Parteien über sie her: Das letzte Wort über diesen Vertrag sei noch nicht gesprochen, meinten bürgerliche Parteistrategen. Das Werk sei noch schlimmer als befürchtet, schimpfte der Sprecher des Gewerbeverbands. Das Abkommen sei nur annehmbar, wenn sofort ein Beitrittsgesuch zur EG gestellt würde, mahnten die Sozialdemokraten.

An der Konfusion ist der Bundesrat selber schuld. In den zweieinhalb Jahren seit Beginn der Verhandlungen zwischen EG und Efta bot die Regierung ein klägliches Bild von Führungsschwäche.

Zunächst priesen die eidgenössischen Minister den EWR als risikolose Alternative zur EG-Mitgliedschaft. Jetzt müssen sie einräumen, daß der EWR nur noch zum Angewöhnen dienen soll, da es unlogisch ist, sich von Brüssel die Regeln diktieren zu lassen, ohne selbst mitbestimmen zu können. Die volle Integration sei unvermeidlich, sagt Außenminister Rene Felber. Schaudernd sah Wirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz in die Zukunft: »Eine monumentale Herausforderung.«

Mit dem EWR-Vertrag müssen die Schweizer das auf 10 000 Seiten kodifizierte bisherige EG-Recht in unzählige eigene Gesetze einbauen. Allein auf Bundesebene sind dann im Rekordtempo über 60 Gesetze zu ändern. Aber auch Kommunen und Kantone müssen ihre Bestimmungen europaverträglich machen.

Niemand weiß bisher, wie diese Anpassungen in angemessener Zeit vom betulichen Gesetzgebungsapparat der Eidgenossenschaft bewältigt werden können. Sicher ist aber jetzt schon, daß die Integration in die EG das Land einer politischen ebenso wie einer institutionellen Zerreißprobe aussetzt.

Vorbei sind nicht nur die Zeiten der strikten Neutralität, der schützenden Marktabsprachen und der Avantgarde-Rolle im Umweltschutz. Weil künftig in allen wichtigen Belangen mehr und mehr EG-Recht gilt, droht dem Brauchtum der direkten Demokratie das Ende: Volksbegehren für Verfassungszusätze und Referenden gegen Bundesgesetze werden nur noch in wenigen EG-freien Nischen erlaubt sein; selbst die Mitbestimmung in kantonalen Belangen wird eingeschränkt werden müssen.

Auch die Tage des heimeligen »Milizparlaments« mit seinen Amateur-Volksvertretern sind gezählt. Und das Konzept einer siebenköpfigen Kollegialregierung, die alle politische Verantwortung gemeinsam trägt, wird wohl ebenfalls nicht überleben.

Viele schöne Schweizer Traditionen aus dem 19. Jahrhundert müßten der europäischen Einigung geopfert werden. Seit Monaten erörtern deshalb Kommissionen Vorschläge für eine Regierungs- und Parlamentsreform. Doch mehr als eine Erhöhung der Abgeordneten-Diäten ist bisher nicht herausgekommen.

Der Bundesrat, der sich nach langem Lavieren vom Einigungsprozeß überrollen ließ, hat die Kontrolle über einen geordneten Weg zur EG-Mitgliedschaft schon weitgehend verloren.

Als erstes muß das Volk nächstes Jahr über viele Milliarden für Neubaustrecken durch Gotthard und Lötschberg entscheiden. Der Bau der »Neuen Eisenbahn-Alpentransversale« (Neat) ist eine Bedingung für das vorige Woche abgeschlossene Transitabkommen mit der EG, das die engen Gebirgstäler vom ständig wachsenden Schwerlaster-Verkehr verschonen soll. »Ohne Neat«, sagt Verkehrsminister Ogi, »gibt es auch keinen EG-Transitvertrag. Und damit möglicherweise auch keinen Europäischen Wirtschaftsraum für die Schweiz.«

Das ist genau das, worauf die Neinsager hoffen. Die »Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz« (Auns), ein Kampfverband rechtskonservativer Gruppen mit bereits 6000 Mitgliedern und einer Kriegskasse, die jetzt schon 750 000 Franken enthält, will »mit den letzten Reserven antreten«, um die Integration der Schweiz in EG-Europa zu verhindern.

Ohne Europa und fernab von Brüssel, beschrieb die Zürcher Sonntags-Zeitung die Gemütslage der Eidgenossen ironisch, sei es »unheimlich gemütlich«.

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