DEUTSCHLAND »Uns bleibt nur ein schmaler Korridor«
Müde und verwirrt, die Augen hinter einer dunkelblauen Brille verborgen, trat der alte Mann langsam vor das Portal des Palais Schaumburg. Um 11.05 Uhr am letzten Donnerstag, kurz bevor er Bonn den Rücken kehrte, reichte Alex Möller seinem Fahrer die schwarze Minister-Aktentasche zurück.
In ihr steckte das Rollenbuch für den letzten großen Auftritt des einstigen Finanzstars in Willy Brandts Regierung. In der dreiseitigen »Haushaltswirtschaftlichen Bilanz« hatte er den zur gleichen Stunde drinnen im Kabinettsaal versammelten Ministerkollegen die Schuld für seinen Rücktritt zuschieben wollen. Möllers Vorwurf: »Ungedeckte Forderungen« der einzelnen Ressorts für die Etats der nächsten vier Jahre in Höhe von 63 Milliarden Mark würden die Finanzkraft des Bundes überfordern.
Doch das Skript blieb unbenutzt. Der Bundeskanzler hatte Möller das dramatische Finale gestrichen. Willy Brandt wollte keinen Märtyrer schaffen; der neue Held der sozialliberalen Koalition war schon erkoren.
Nach Eingang von Alex Möllers Rücktrittsgesuch hatten am späten Mittwochnachmittag Kanzler Brandt und SPD-Zuchtmeister Herbert Wehner im Zwiegespräch die fatale Lage beraten. Zunächst erörterten die beiden Spitzengenossen, wer wohl Möller im Amt des Finanzministers ersetzen könne. Sie kamen auf den früheren Parlamentarischen Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium Klaus Dieter Arndt und auf den nordrhein-westfälischen Finanzminister Hans Wertz. Doch Brandt -- entscheidungswillig wie nie zuvor -- plädierte für die große Lösung: ein Superministerium aus Wirtschafts- und Finanzressort.
Der Reaktion seines kaum berechenbaren Gegenübers ungewiß, fragte der Kanzler zögernd: »Sollen wir"s nicht vielleicht mit Schiller versuchen?« Herbert Wehner, der eine Woche zuvor den streitbaren Schiller noch zu den »schmalbrüstigen Figuren« des Bonner Konjunkturtheaters gezählt hatte, lächelte: »Ich freue mich, daß in zwei parallel geschalteten Köpfen dieselben Gedanken sind.«
Die Symbolfigur für einen New Look der SPD/FDP-Regierung war gefunden. Wie vor der Bundestagswahl 1969 soll Karl August Schiller als Garant stabilen Geldes den Argwohn der Bundesbürger gegen die regierenden Sozialdemokraten zerstreuen. Regierungssprecher Conrad Ahlers paßte sich der neuen Machtlage an: »Jetzt habe ich zwei Kanzler.«
Aber was die Bundesregierung zu Beginn der zweiten Halbzeit als neue Politik ausgeben möchte, entpuppt sich als der verzweifelte und vielleicht letzte Versuch, die Bilanz der ersten Halbzeit aufzuhellen.
Es ist eine Bilanz der Mißerfolge:
* im Inflationsrhythmus steigende Preise und Löhne statt der versprochenen Stabilität;
* ein rücksichtsloser Wettlauf der Großressorts (Verteidigung, Verkehr und Bildung) um Steuermilliarden statt der verheißenen Solidität;
* ein technokratischer Planungswirrwarr unter sich zerstrittener Ressorts statt der ausgelobten Reformen von Staat und Gesellschaft;
* eine im Berlin-Junktim festgefahrene Ostpolitik statt der von Brandt erstrebten Entspannung und Aussöhnung.
Als die Bonner sich anschickten, der latenten Krise mit einem von Schiller entworfenen Stabilitätsprogramm Herr zu werden, fanden sie sich mit dem Rücken zur Wand, die »letzte Kugel im Lauf« ("Frankfurter Allgemeine"). Karl Schiller sieht klar: »Uns bleibt nur ein schmaler Korridor für die Schußbahn.«
Brandts Chance, mit dem Superminister für Wirtschaft und Finanzen der sozialliberalen Koalition doch noch eine günstige Ausgangsposition für die Bundestagswahlen 1973 herbeizuregieren, sind gering. Bereits des Kanzlers erste Entscheidung -- flexible Wechselkurse der Mark und Sparhaushalte der öffentlichen Hand -- schaffte Schiller zwar konjunkturpolitischen Handlungsspielraum, der Regierung aber auch neue und mehr Gegner.
In Brüssel begehrten die EWG-Europäer, vor allem Frankreich, gegen die Bonner auf, denen sie Währungsnationalismus zugunsten der Mark und zu Lasten der Gemeinschaft vorwarfen. Westdeutschlands Bauern, Banker und Bosse protestierten gegen die Quasi-Aufwertung der Mark -- die Landwirtschaft, weil sie wegen des EWG-Agrarmarktes mit direkten Einkommenseinbußen rechnen mußte (siehe Kasten Seite 26), Großindustrie und Banken, weil sie knappere Gewinne im Auslandsgeschäft fürchten (Kasten Seite 25).
Kann die Rettung aus einer Flaute kommen?
In Frankfurt schließlich ging die Deutsche Bundesbank, auf deren Unterstützung Bonns neuer Batman Schiller angewiesen ist, auf Kollisionskurs, weil sie sich durch europäische Verpflichtungen gebunden fühlt und konjunkturpolitische Experimente mit dem Wechselkurs ablehnt.
Bei den Gewerkschaften, auf deren Goodwill Schiller in den Lohnrunden des zweiten Halbjahres zählen muß, und bei den einflußreichen Ressortministern des Kabinetts, ohne deren tätige Einsicht Stabilisator Schiller nichts gelingen kann, hat der neue Überminister kaum Freunde.
Bisher haben die Arbeitnehmer, mit Lohnzuwachs bis zu 18 Prozent bedacht, die Lust am Konsumieren nicht verloren, vor allem deshalb, weil die Preise ungehemmt mit einer Jahresrate von rund fünf Prozent weiterkletterten. Schillers Angebot eines »Stabilitätspaktes« zwischen Gewerkschaften, Unternehmern und Staat wurde von den Gewerkschaften nur reserviert zur Kenntnis genommen.
Obwohl die Regierung bereit war, den Arbeitnehmern die überschießenden Lohnforderungen mit staatlichen Zugeständnissen -- der flexiblen Altersgrenze bei der Rentenversicherung, einem Bonus für freiwillig länger festgelegte Konjunkturzuschläge und einer Beteiligung der Arbeitnehmer an den Gewinnen der Großindustrie --
* Am Donnerstag vergangener Woche beim Verlassen des Palais Schaumburg in Bonn.
abzuhandeln, schlugen die Gewerkschaften die Einladung von Regierungschef Brandt zu einem Stabilitätsessen auf dem Venusberg aus. Am vergangenen Mittwochabend entschuldigte sich der schlaue IG-Chemie-Vorsitzende Karl Hauenschild mit laufenden Tarifverhandlungen (Gewerkschaftsforderung: 13 Prozent). Auch IG- Metall-Chef Otto Brenner, den Schiller zu seinen engen Vertrauten zählt und mit dessen Erscheinen er noch Stunden vor dem Treffen gerechnet hatte, hielt sich von Bonn fern.
Die Gastgeber mußten sich mit dem Besuch der vergleichsweise machtlosen DGB-Spitze begnügen. Ein Teilnehmer nach der Nacht auf dem Venusberg: »Es ist nichts herausgekommen.«
Erst am Montag dieser Woche stellen sich die starken Männer der Arbeitnehmerorganisation ihren regierenden Parteifreunden in einer Sitzung des SPD-Gewerkschaftsrates in Bonns Erich-Ollenhauer-Haus. Dort muß Schiller sein erstes Kabinettstück als Superminister vorführen. Er will den Arbeitnehmern mit der Andeutung von Arbeitsplatzrisiken den Schneid für konjunkturpolitisch unerwünschte Lohnforderungen abkaufen. Der Sozialdemokrat kann es sich jedoch nicht leisten, offen mit einer gewollten Rezession zu drohen. Dies hatte nicht einmal die von Erhard geführte CDU-Regierung 1966 überstehen können.
Die Unternehmer, um deren Freundschaft Schiller sich schon bislang stets bemühte, können darauf bauen, daß sie mit dem Segen des Sozialdemokraten Schiller mögliche Gewinneinbußen nach der Freigabe der Wechselkurse durch geringere Lohnzugeständnisse wettmachen können. Auf dem Venusberg. wo die Gewerkschaften ihn sitzenließen, glaubte er sich des augenzwinkernden Einverständnisses der Industrie sicher zu sein: Stahlmillionär Otto Wolff von Amerongen und Flick-Teilhaber Otto A. Friedrich gaben zu verstehen, daß sie gegen seinen neuen Stabilitätskurs nicht allzuviel einzuwenden hätten.
Auf dem Höhepunkt der Währungskrise hatte Alex Möller eine abgewandelte Stabilitätsstrategie entwickelt, die er dem SPD-Parteipräsidium empfehlen wollte. Kernpunkt der Möller-These, die vorzutragen ihm verwehrt wurde: »Politisch liegt ein Ausweg nur darin, jetzt sofort Maßnahmen zu ergreifen, die eine Abschwächung der Wirtschaftstätigkeit im Sinne einer »Flaute« (nicht Rezession) herbeiführen. Nur dann wäre die Regierung in der Lage, im Jahre 1973 auf einen durch Reformvorhaben unterstützten Wiederaufschwung der Konjunktur hinweisen zu können.«
Voraussetzung dafür ist ebenso wie das Wohlwollen der Gewerkschaften die Disziplin der Kollegen am Kabinettstisch. Doch am Ressort-Egoismus der Etat-Großverbraucher Schmidt (Verteidigung) und Leber (Verkehr und Post), Leussink (Bildung) und Strobel (Gesundheit) ist Schiller-Vorgänger Möller, den die Sozialdemokraten einst als Garanten von Stabilität und Solidität im Etat gefeiert hatten, gescheitert. Fünf Abteilungsleiter gefeuert, 1800 Bedienstete verschreckt.
Der erfolgreiche Top-Manager der Karlsruher Lebensversicherung war vor 19 Monaten als der starke Mann im Kabinett angetreten. Jetzt schied er als sensibles Opfer derjenigen. die stärker gewesen sind als der 68jährige Kabinettssenior.
Das Mißverständnis vom starken Mann hatte der großbürgerliche Sozialdemokrat »mit generaldirektorialer Attitüde« gepflegt, »wie es sie, so sagt man, nur noch in der Versicherungswirtschaft geben soll« ("Die Welt"). Autokratisch und stets etwas gallig, feuerte er schon in seinen ersten Amtstagen die beiden Finanz-Staatssekretäre und fünf von neun Abteilungsleitern. Den Rest der 1800 Untergebenen versetzte der Minister in Angst und Schrecken. Trotz seines rüden Umgangsstils und dem rührigen Dauereinsatz von drei persönlichen Referenten und drei Sekretärinnen aber gelang es ihm nicht, den schwerfälligen Mechanismus des konservativen Finanzministeriums zu mobilisieren.
In der Sache mißlang ihm viel. Er versteifte sich noch auf die von der Regierung versprochenen Steuersenkungen, als konjunkturpolitisch schon längst Steuererhöhungen geboten waren. Als die Regierung sich im Juli letzten Jahres zu einem ersten bescheidenen Dämpfungsprogramm mit Konjunkturzuschlägen zur Lohn- und Einkommensteuer durchrang, präsentierte er in derselben Woche den ersten 100-Milliarden-Haushalt der Bundesrepublik.
Mit der Industrie verdarb es Möller, als er unüberlegt und ohne die üblichen Interessenten-Heatings ein Steuerfluchtgesetz vorlegte, von dem ihm die Unternehmer-Lobby später Stück für Stück abhackte und das bis heute immer noch nicht im Bundestag eingebracht ist. Mit voreiligen und widersprüchlichen Ankündigungen verdarb er das Klima für die Steuerreform, die ihm den Namen eines großen deutschen Finanzpolitikers sichern sollte,
Im Kabinett stritten der eitle asthenische Möller und der nicht minder selbstgefällige asthenische Schiller um den Rang der Primadonna und blockierten mal für mal eine zügige Regierungsarbeit. Schiller über Möller: »Es ist halt schwer mit ihm.« Möller über Schiller: »Unerträglich.« Entwicklungshilfeminister Erhard Eppler analysierte das Wett- und Wegbeißen der Egozentriker: »Jeder von beiden braucht die Hälfte seiner Arbeitskraft, um sich mit dem anderen auseinanderzusetzen.«
Selbst als Kanzler Brandt die Herren vor Wochen auf einen Stabilitäts-Nenner bringen wollte, fühlte sich Möller gegenüber dem Rivalen schon bald wieder verkürzt. Den alten Mann grämte, daß der Kanzler seinen Wirtschaftsminister vorletzte Woche mit bindender Kanzlervollmacht für die Brüsseler Währungsberatungen ausstattete und ihm so Gelegenheit gab, sich als Retter der Mark feiern zu lassen. Möller selber jedoch mußte sich mit einer unverbindlichen Weisung für den Kampf gegen einen Inflationshaushalt 1972 zufriedengeben.
Daß er sich allein gegen die Übermacht der Großressorts nicht würde durchsetzen können, war dem Finanzminister erstmals am 25. Februar dieses Jahres klargeworden, als die Kabinettsberatung über den Haushalt 1972 und die mittelfristige Finanzplanung für die folgenden Jahre vor allem am Widerstand von Verteidigungsminister Helmut Schmidt, seinem früheren Freund und Verbündeten, scheiterte und auf den Herbst vertagt werden mußte. Schmidt wehrte ohne Ansehen der Sache, um die es ging, lautstark alle Spar-Vorschläge ab: »Keinen pfennig.«
Des Kanzlers moralische Unterstützung für Möller erschöpfte sich darin, daß er mit strenger Miene seine Brille abnahm und verärgert auf den Kabinettstisch warf.
Fortan wechselten Möller und Schmidt nur noch böse Briefe. Und im zweiten -- schriftlichen -- Durchgang des Bundeshaushalts 1972, über den der Finanzchef vergangenen Donnerstag eigentlich im Kabinett hätte berichten sollen, hatten die Ressorts statt zu sparen noch mehr Ansprüche geltend gemacht -- insgesamt 20 Milliarden Mark mehr als in diesem Jahr. Interne Schätzungen des Finanzministeriums ergaben, daß allein der Bund sich in der Regierungszeit Brandt (1969 bis 1973) mit 32 Milliarden Mark neu verschulden muß, das sind nur acht Milliarden Mark Schulden weniger, als die Vorgänger in zwanzig Jahren CDU-Regierung insgesamt gemacht haben.
Dennoch überraschte Möller mit seinem Rücktritt alle Kabinettskollegen. Zwar hatte der empfindsame Sozialdemokrat schon dreimal in seiner Amtszeit schriftlich die Demission eingereicht. Aber ebenso bereitwillig ließ er sich stets zum Bleiben überreden.
Als Möller am vergangenen Mittwochmittag sein viertes Rücktrittsgesuch aufsetzte, war ihm freilich nicht bekannt, wie Kanzler Brandt vor etwa drei Monaten Freunden gegenüber auf erste Meldungen über- eine Regierungsumbildung reagiert hatte: »Das Kabinett wird nur umgebildet, wenn einer seinen Abschied nehmen will. Und den nächsten Rücktritt nehme ich an:«
Möller war der nächste. Bei der Zeitungslektüre am Mittwochmorgen packte ihn der Zorn. Ohne den Finanzminister zu fragen, waren die Koalitionspartner in ihrem Plan einig, mehr Geld für die Ausbildungsförderung locker zu machen. Und ohne ihn zu informieren. hatte die Parteizentrale eine Stellungnahme der SPD-Steuerkommission zur Steuerreform veröffentlicht. Darin macht das von dem Juso-Sympathisanten Erhard Eppler geleitete Parteigremium Front gegen Möllers Steuerkonzept. Von einer Reform der Körperschaftsteuer wollten die sozialdemokratischen Kommissare nichts wissen, Im übrigen schlugen sie eine Erhöhung der Steuerlast-Quote vor.
Zeitungsleser Möller fühlte sich hintergangen. Der letzte Anstoß für seinen Rücktrittsentschluß war die »hauswirtschaftliche Bilanz«. die er sich zur Vorbereitung des für Donnerstag geplanten Kabinettsvortrags vorlegen ließ. Beim Studium der Zahlen sah der verbitterte Minister keinen Ausweg mehr.
Die Ressorts hatten die schriftliche Mahnung des Kanzlers von Anfang März ignoriert, endlich Vernunft anzunehmen und übertriebene Ausgabenwünsche zurückzustellen. Allein für den Bundeshaushalt 1972 waren zehn Milliarden Mark mehr angefordert worden, als Möller glaubte verantworten zu können. Und für die mittelfristige Finanzplanung der nächsten vier Jahre lagen die Ressortansprüche um 63 Milliarden Mark über Möllers Soliditätsgrenze.
Der Finanzminister resignierte: »Da gibt es keine Brücke mehr.« Er beorderte seinen Ministerialdirigenten Joachim Hiehle zu sich und diktierte in dessen Anwesenheit seine Dokumentation des Ressort-Egoismus, die er seinem Rücktrittsgesuch beilegte.
In seinem Rücktritts-Schreiben, das Kanzler Brandt vergangenen Mittwochnachmittag in eine Sitzung des SPD-Präsidiums nachgeschickt wurde, lamentierte der Finanzminister, er sei von den Kollegen zu 18 Prozent Mehrausgaben des Bundes im ersten Quartal 1971 genötigt worden, ihre Uneinsichtigkeit lasse eine »solide« Haushaltsführung in den nächsten Jahren unmöglich erscheinen.
Der Kanzler »fackelte nicht lange« (Kanzleramtsminister Horst Ehmke). Schon zwei Stunden später war Möller Finanzminister außer Diensten.
In der Nacht zum Donnerstag mühte sich SPD-Schatzmeister Alfred Nau als Vermittler zwischen Brandt und Möller um eine Formel, mit der die Krise vor der Öffentlichkeit kaschiert werden sollte. Nau versuchte Möller zu überreden, die Demission allein mit Gesundheitsrücksichten zu begründen. Doch Möller sperrte sich: Sollte diese Version verbreitet werden, würde er sich öffentlich dagegen wehren.
Unterdes akzeptierte Schiller, den der Kanzler um 18 Uhr eingeweiht hatte, Willy Brandts Angebot, das Mammut-Ressort zu übernehmen. Nachdem die Entscheidung gefallen und mit den Koalitionspartnern abgesprochen war, ergingen sich Brandt, Schiller, Ehmke und die FDP-Minister Hans-Dietrich Genscher und Walter Scheel in der lauen Maiennacht gegen zwei Uhr im Garten der Kanzlerresidenz auf dem Bonner Venusberg. Nachtwandler Schiller: »Wie ruhig es noch ist.«
Das gab sich am nächsten Morgen. Gegen 8.30 Uhr rief der Regierungschef die führenden Sozialdemokraten zu sich ins Palais: Herbert Wehner, Helmut Schmidt, Georg Leber und Karl Schiller. Brandt lag daran, vor allem das Einverständnis von Schmidt und Leber zu der großen Lösung und dem doppelten Schiller einzuholen. Schmidt, zu dessen Gunsten Abgänger Möller noch Anfang des Jahres ein solches Superministerium gefordert hatte und dessen Hoffnungen nun durch Brandts Schiller-Wahl zunichte wurden, blieb nichts anderes übrig, als der Brandt-Entscheidung »institutionell« zuzustimmen. Über die Besetzung schwieg er sich aus. Leber vermied vollends ein eindeutiges Votum.
Kurz vor der für 11 Uhr angesetzten Kabinettsitzung bat der Kanzler den demissionierten Finanzminister in sein Arbeitszimmer. Erstmals warnte Möller vor einer Fusion der beiden Schlüsselressorts, insbesondere aber vor einem übermächtigen Superminister Schiller.
Erleichtert schilderte er dem Kanzler die erste Annehmlichkeit seines politischen Ruhestandes: »Seit einem dreiviertel Jahr habe ich letzte Nacht zum erstenmal wieder durchgeschlafen.« Kanzler-Gehilfe Horst Ehmke kennt Möllers Verjüngungsrezept: »Der Alex legt sich jetzt hin und schläft 14 Tage. Dann ist er wieder da.«
Im Kabinettsaal konnte Möller die Fassung nur mühsam wahren. Auch hier die Augen von der dunklen Brille verdeckt, seufzte der abgedankte Minister, ehe er seine Abschiedsrede begann. Möllers düstere Prognose: »Ich sehe keine Chance für eine Einigung mit den Ressorts und einen soliden Haushalt 1972 angesichts der Anforderung der Ministerien.«
Anschließend ging er, »den Tränen nahe« (ein Kabinettsmitglied), langsam um den ovalen Beratungstisch und drückte allen seinen bisherigen Kollegen reihum die Hand. Mit den meisten wechselte er einige Dankesworte. Bei einem aber blieb er stumm -- bei Karl Schiller.
Der notorische Einzelgänger Schiller. zu dessen Selbstverständnis die Überzeugung gehört, alles besser zu können als andere, glaubt auf den Zuspruch seines Vorgängers verzichten zu können. Er hält sich für den geborenen Superminister -- jetzt Herr über drei Ressorts (Wirtschaft, Finanzen und das dem Finanzressort bereits angegliederte Schatzministerium), sechs Staatssekretäre, 17 Abteilungen, 50 000 Beschäftigte, Herr über ein industrielles Bundesvermögen mit über 160 000 Beschäftigten und 15 Milliarden Umsatz, eine Galerie ausgewählter NS-Kunst sowie über ein Zoll-Museum und eine Zollmusikkapelle.
»Der Strauß kann das gar nicht.«
Zum Tonangeber hält er nur sich für geeignet. Als der CSU-Vize Werner Dollinger den neu ernannten Superminister als »Statthalter von Franz Josef Strauß« begrüßte, wehrte Schiller ab: »Das kann der gar nicht.«
Spontan entschloß er sich, den französischen Minister für Wirtschaft und Finanzen Giscard d'Estaing, seinen EWG-Gegner, endlich von gleich zu gleich nach Bonn einzuladen. Schiller witzelte nicht ganz ohne Neid: »Nur in einem ist Giscard mir noch voraus. Er hat auch die Notenbank unter sich.«
Der gefährlichste Widerstand gegen sein Stabilitätsprogramm, das Überlebenskonzept der Regierung, erwuchs Karl Schiller ausgerechnet vom Chef der autonomen deutschen Notenbank, seinem Parteifreund Karl Klasen. Der Präsident der Bundesbank weigert sich seit Freigabe des Wechselkurses am vergangenen Montag, mit Dollarangeboten am freien Devisenmarkt der Aufwertungstendenz der Mark nachzuhelfen.
Auf das Mitziehen der Frankfurter ist Schiller angewiesen, weil nur ein durch Bundesbank-Interventionen hinaufmanipulierter Mark-Kurs.
* die Spekulations-Milliarden, die wegen der Dollarkrise in den vergangenen zwölf Monaten aus dem Aus. land in die Kassen von deutschen Banken und Unternehmen geflossen waren, wieder abziehen läßt und neues Spekulationsgeld fernhält;
* die Importe nachhaltig verbilligt und deutsche Unternehmer stärker der Preiskonkurrenz aus dem Ausland aussetzt:
* die Exporte der deutschen Industrie, eine Quelle der überbordenden Konjunktur, verringert.
Doch tatenlos sahen die Notenbanker zu, wie an den Kurstafeln der deutschen Devisenbörsen die Dollar-Notierung nur um höchstens drei Prozent unter den alten Tiefstkurs von 3,63 Mark sackte, obgleich Schiller eine Verbilligung des Dollars um etwa fünf Prozent anvisiert hatte. Der Chef-Devisenhändler der Deutschen Bundesbank, Direktor Johannes Tüngeler, vertrieb sich am vergangenen Montag in der Frankfurter Devisenbörse die Zeit mit Pfeiferauchen. Ein Makler frotzelte: »Sie von der Bundesbank da haben wohl gar nichts mehr zu sagen.« Tüngeler darauf: »Doch, Mahlzeit!«
Gegen die von Schiller beabsichtigte De-facto-Aufwertung auf dem Schleichpfad der freien Wechselkurse sperrte sich der bankenfreundliche Währungshüter und ehemalige Sprecher der Deutschen Bank unter dem Vorwand europäischer Solidarität entschieden. Klasen, der seine Statements gelegentlich mit der Fehlfloskel: »Die Deutsche Bank, äh, Bundesbank« einleitet, ließ sogar durchblicken, daß er nicht einmal eingreifen würde, wenn der Dollarkurs auf über 3,63, die alte Marke, steigen würde.
Vor dem offenen Konflikt mit der Bundesbank?
Als Alibi weisen die Notenbankiers auf ein Fernschreiben hin, das aus dem Bundeswirtschaftsministerium am vorletzten Sonntag an den »sehr geehrten Herrn Klasen« gesandt worden sei. Darin soll Schiller die Notenbank angewiesen haben, »die bisherigen Interventionen einzustellen«. Die künftige Interventionspolitik zugunsten der Mark möge mit ihm, Schiller, »kontinuierlich« abgestimmt werden. Da solche Anweisungen aus Bonn nicht eintrafen, blieben die Herren der Bundesbank untätig. Schiller freilich kann sich an nichts erinnern: »Ich habe kein Fernschreiben abgeschickt.«
Fahren die Währungshüter in ihrem Bummelstreik fort, die stabilitätspolitische Basis des Kabinetts Brandt zu unterhöhlen, soll der Superminister nach dem Rat seiner engsten Berater gar den offenen Konflikt riskieren. Ihre Empfehlung an den Minister, der auf der Zentralbankratssitzung an diesem Dienstag einen letzten Einigungsversuch bei Klasen unternehmen will: die Wechselkursfreigabe wieder aufzuheben und die Kurse dann Woche für Woche nach Schillers Willen vom Kabinett festlegen zu lassen, eine Maßnahme, auf die Klasens Bundesbank keinen Einfluß hat.
Konflikten ist Schiller nie aus dem Weg gegangen. Er stritt sich mit Strauß und Kiesinger über die Aufwertung der Mark, geriet mit Möller und der gesamten SPD-Fraktion wegen seiner steuerlichen Konjunkturdämpfungspläne über Kreuz. Mit Kanzleramtsminister Ehmke zankte er über den Vorrang in der Wirtschaftspolitik, mit Verkehrsminister Leber über die Erhöhung von Bahn- und Postgebühren, mit Wissenschaftsminister Leussink über die zu kostspieligen Bildungspläne.
Vor der SPD-Fraktion erklärte Herbert Wehner nach der Ernennung Schillers zum Doppelminister, jetzt sei der Professor der »Atlas«, der die Bürde der sozialliberalen Koalition trage. Und Atlas Schiller weiß, was ihm Stützkraft gibt: »Eine Regierung kann sich nicht zum zweitenmal den Rücktritt ihres Finanzministers leisten.«
So stark seine Stellung im Kabinett sein mag, so viel Gegenwind hat der Nationalökonom in der Partei zu fürchten. Kraft seines neuen Amtes als Finanzminister muß sich der rechte Flügelmann stärker noch als Vorgänger Möller auf Auseinandersetzungen mit linken Gesellschaftsreformen gefaßt machen. Auf dem SPD-Sonderparteitag über Steuern und Vermögen im Herbst muß er Möllers gemäßigten Steuerreform-Nachlaß, von dem er nach eigenem Bekunden bisher wenig Ahnung hat, gegen die auf Einkommens- und Vermögensumverteilung programmierte Linke verteidigen. Neigt er nach links, bringt er die Industrie gegen sich auf, die er als Wirtschaftsminister braucht, tendiert er nach rechts, verdirbt er es mit der Parteibasis.
Der strengste Kritiker des neuen Finanzministers erholt sich zur Zeit am »Alex-Möller-Weg« zu Karlsruhe. Nach Pfingsten will der »physisch abgenutzte« (FDP-Innenminister Genscher) Bundestagsabgeordnete Alex Möller in Bonn »frisch und munter« (Möller) antreten.
Denn seinen Rücktritt empfindet der 68jährige »nicht als Akt der Resignation, sondern als einen Symbolakt«. Er ist davon überzeugt: »Wenn sich jetzt die Kollegen nicht fangen, dann ist alles vorbei. Ich habe jetzt meinem Nachfolger die große Chance gegeben.«
Nur mühsam hält sich der ins Karlsruher Refugium retirierte Staatspensionär, der seinem Kanzler in Bonn beim Abschied Loyalität durch Stillschweigen gelobt hatte, zurück. Nachdem er vor dem Fernsehen die Schiller-Show verfolgt hatte, murrte er unwirsch: »Ich hätte viel mehr Öffentlichkeitswirkung erzielen können, als das Herr Schiller versucht hat.« Dennoch glaubt er, gegenüber dem Rivalen und seinen anderen Widersachern nichts versäumt zu haben: »Wenn ich wieder in Bonn bin, geht es hau ruck los.«
Superminister Karl Schiller, der weiß, wie gering seine Erfolgschance ist, wird von Vorahnungen geplagt. Schiller: »Gratulieren Sie mir nicht, kondolieren Sie mir lieber.«
* Bei seinem 60. Geburtstag am 24. April.