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Medien Unselige Verquickung

aus DER SPIEGEL 34/1995

Der Kommentar der ARD-»Tagesthemen« ist gelegentlich eine Betroffenheitsveranstaltung erster Güte: ernste Mienen, staatstragende Stimme und stumpfe Sätze der Marke »Die Demokratie ist in Gefahr«. Spannender sind da oft die Ränkespiele hinter der Kamera, etwa beim aktuellen Thema »Leo Kirch und das Kruzifix«.

Michael Geyer, Chefredakteur bei Radio Bremen und ARD-Kommentator mit hohem Polarisationspotential, wollte dem Münchner Filmhändler danken: »Denn noch nie hat der Konzern-Häuptling so ungeniert und öffentlich zu Protokoll gegeben, wie er Pressefreiheit buchstabiert. Ein Chefredakteur, der eine andere Meinung als die Leo Kirchs zur Veröffentlichung freigibt, ist zu entlassen. Basta.« Der Journalist wollte Klartext reden: Kirch sei »inzwischen zu mächtig, als daß wir ihm die Auslegung unserer Grundrechte überlassen dürfen«.

Doch Geyers Meinung durfte am Montag vergangener Woche nicht den Nachrichten-Vortrag von Ulrich Wickert stören. Zwar beschloß die Schaltkonferenz der ARD-Oberen einen Kommentar »Kirch und das Kreuz«. Doch Deutschlands größte TV-Nachrichtenredaktion schaffte es nicht, bis 16 Uhr einen Beitrag zum Thema zu filmen, weshalb Präsentator Wickert sich dagegen sträubte, einen Kommentar ohne erklärenden Bericht zu senden: Er müsse sonst soviel in der Anmoderation erklären, das wirke langweilig.

Die Wickertsche Arbeitsbelastung in Grenzen zu halten, half Bernhard Wabnitz, zweiter Chefredakteur und Planungschef bei ARD-aktuell. Wabnitz, der seine unions- und kirchennahe Gesinnung als Chef der Abteilung Innenpolitik beim Bayerischen Rundfunk und als bayerischer ZDF-Landesstudioleiter schon öfter beweisen konnte, stoppte Kommentator Geyer und entschied sich für das Thema Ladenschluß. Offiziell erklärt die ARD-Redaktion die Wende mit »dramaturgischen und inhaltlichen Gründen«.

Geyer, der sich der Vorzensur beugen mußte, sendete seine Gedanken am nächsten Tag auf der Hörfunkwelle von Radio Bremen. Einen etwas sanfteren Kommentar zum innenpolitischen Aufreger der Woche erlaubte sich die ARD, deren Weihnachtshighlight ein von Kirch produziertes Bibelepos bildet, dann mit Verspätung.

Am Mittwoch verurteilte Nikolaus Brender vom WDR, diesmal inhaltlich und dramaturgisch korrekt, das »inszenierte Kesseltreiben« der Unionspolitiker - und fand auch ein paar Worte für Leo Kirch: Der Münchner Filmhändler verkörpere »die unselige Verquickung von politischem Einfluß und Medienmacht«.

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