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Briefe

Unser Karlchen
aus DER SPIEGEL 30/1972

Unser Karlchen

(Nr. 28 und 29/1972, Schiller)

ist nun die Träne, die Schiller nachgeweint wird, der Tropfen auf den heißen Stein oder der Tropfen. der das Rücktritts-Faß zum überlaufen gebracht hat?

Schloß Ricklingen (Nieders.)

PETER BORNEBUSCH

Schiller ist gegangen. schade! Er war nicht nur ein Super-Minister, sondern er hat bewiesen, daß es sich mit einer Inflation sprich Wohlstandsinflation gut leben läßt. Die Löhne und Gehälter sind gestiegen. Es wäre gut. wenn bei der Wohlstandsinflation der Verbraucher sich noch verbrauchsbewußter verhalten würde, so kann der kleine Mann auch zu einem Wohlstand kommen, der sonst nur dem Mittelstand vorbehalten war.

Selm (Nrdrh.-Westf.) FRANZ VRATNY

Gaus schreibt klärende Worte in dem Trubel über Schillers Abgang. Es ging doch im Grund einfach zu: Schiller hatte versprochen, die Inflation wesentlich kleiner zu machen. Sie ist aber wesentlich größer geworden. Er hat also bei unserem Hauptproblem versagt. Sein Fehler war nicht, daß er es nicht geschafft hat, denn niemand -- CDU/CSU eingeschlossen -- hätte das schaffen können, sondern der, daß er behauptet hatte, er könne es. Er hätte schon früher zurücktreten sollen: keinesfalls hätte sein Rücktrittsgesuch abgelehnt werden dürfen. Ein weiterer wesentlicher Fehler war, daß er nichts für die Erhaltung der freien Marktwirtschaft getan hat, die an ihren Auswüchsen einzugehen droht, um nur einige zu nennen: riesige Subventionen und Steuerprivilegien für die Wirtschaft, Preisbindung der Zweiten Hand, nachzureichendes Kartellrecht. unbegreifliche Vermögensverteilung --

Köln CHRISTIAN HESS

Die Herren Leussink, Möller und nun auch Schiller gelten jetzt als. »Regierungskiller«, falls die nächste Bundestagswahl verlorengeht, »ist es für Herrn Bundeskanzler Brandt zu Spät«.

Wilhelmshaven JöRG RUFAND

Auf diesem finstren Zeitgrund malet sich ein Unternehmen kühnen Übermuts, und ein verwegener Charakter ab. Ihr kennet Ihn -- den Schöpfer kühner Financen, des Bundes Abgott und der Länder Geissel. Die Stütze und den Schrecken seines Kanzlers, des Glückes abenteuerlichen Sohn. der von der Zeiten Gunst emporgetragen, der Ehre höchste Staffeln rasch erstieg.

Und ungesättigt immer weiter strebend. der unbezähmten Ehrsucht zum Opfer fiel. Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt. schwankt sein Charakterbild in der Geschichte. Doch euren Augen soll ihn jetzt die Kunst. auch euren Herzen -- menschlich näherbringen. Denn jedes Äußerste führt sie, die alles begrenzt und bindet, zur Natur zurück. Sie sieht den Menschen in des Lebens Drang, und wälzt die Hälfte seiner Schuld den unglückseligen Gestirnen zu.

Halle (Nieders.) FRIEDRICH VON SCHILLER

Macht nur so weiter in der SPD/FDP. Ihr werdet ja im Herbst die Antwort der zehn Millionen Rentner erleben und nach der »verlorenen Schlacht« üblicherweise wieder zu spät über Eure Niederlage »nachdenken« und erkennen, was Ihr auch gegenüber dieser gewichtigen Wählergruppe falsch gemacht habt.

München DR. PHIL THEODOR VOGEL

Beim Verheizen von Schiller schmilzt viel Vertrauen von Mittelständlern zu dieser Regierung mit weg.

Klein-Zecher (Schl.-Holst.)

H. J. HILDEBRANDT

Endlich hat die Qual ein Ende! Monatelang wurden Kanzler und Kabinett von einem unentwegt, egoistisch, solotanzenden Professor hochgenommen.

Opladen (Nrdrh.-Westf.)

JOCHEN MACKENBACH

An der Reaktion auf schwadronierende Dollarmilliarden wird klar, wie schizophren der Begriff »soziale Marktwirtschaft« ist. Man kann nicht »sozial marktwirtschaftlich« reagieren, sondern entweder sozial oder marktwirtschaftlich. Die soziale und das heißt auch hier: dirigistische -- Lösung hat sieh bei uns vorerst durchgesetzt. Bei einem erneuten Floaten der D-Mark wäre nämlich der exportorientierte deutsche Unternehmer der Schwächere gewesen. Der Schwächere aber ruft stets nach sozialen Lösungen.

Kassel HEINZ A. GOLLHARDT

Mit Ihrem Herunterreißen von Schiller (Titel: Staatsbankrott) sind Sie am Komplott natürlich nicht unbeteiligt.

Kassel (Hessen) HARALD VOSS

Die CDU/CSU konnte diese Regierung nicht fertigmachen. Es waren die eigenen Leute, die die SPD aus der Regierung hinausfeuern wollen. Man muß sich wundern, daß das ein Bundeskanzler Brandt überhaupt noch verkraften kann.

Man hat den Eindruck, als wäre Karl Schiller gern noch eine Woche lang zurückgetreten. Der Duft der Weihrauchkerzen, die ihm seine Gegner jetzt an zünden, scheint ihn zu benebeln. August Bebel sagte einmal: »Wenn mich meine Gegner loben, frage ich mich, was ich für Fehler gemacht habe.« Aber Schiller sieht sich wohl wie die Mutter ihren Sohn beim Militär und erzählt, daß die ganze Kompanie im falschen Tritt marschierte; nur ihr Karlchen hätte den richtigen gehabt.

Kassel F. NAGEL

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