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»Unser Volk wird schon zu lange belogen ...«

Konservative CSSR-Kommunisten arbeiten am Sturz ihres Parteichefs: Gustáv Husák hatte nicht zu den 40 Unterzeichnern Jenes Briefes gehört, mit dem die Warschauer-Pakt-Staaten 1968 um »internationale Hilfe« gegen Dubceks Reformkommunismus gebeten wurden. Die Prager Konservativen agitieren im Auftrag des sowjetischen Geheimdienstes KGB auch im Apparat des CSSR Sicherheitsdienstes. Wie gefährlich ihre Tätigkeit für Husák ist, schildert ein Sicherheitsoffizier In einem Brief an den Parteichef, dem folgender Auszug entnommen ist.
aus DER SPIEGEL 21/1971

Geehrter Genosse Husák, ich schreibe Ihnen, weil ich meine, daß verschiedene Probleme existieren, von denen Sie erfahren müßten, namentlich vor dem (am 25. Mai beginnenden) 14. Parteitag. Ich habe mit Freude den Januar 1968 begrüßt, auch wenn ich nicht mit denen übereinstimme, die, anstatt die Fehler der Vergangenheit zu berichtigen, unsere sozialistische Ordnung schwächen wollten. Aber wie Sie selbst, Genosse Husák, war und bin ich bis heute überzeugt, daß wir voll in der Lage waren, solche Versuche abzuwehren. Der August 1968 war auch für mich ein Schock. Diese Ereignisse und das, was folgte, zwingen mich aber, mich jetzt an Sie zu wenden.

Das Dokument »Lehren"* will uns überzeugen, daß der tschechoslowakische Versuch eines demokratischen Sozialismus das Werk einer scharfsinnigen westlichen Verschwörung war ...

Es kann sein, daß es bei uns Leute gibt, ·die das glauben, um ihr eigenes Gewissen zu beschwichtigen. Das ist aber schwer für jemanden, der so nah wie ich den Demokratisierungsprozeß, die Invasion und die Periode der Normalisierung des tschechoslowakischen Staatssicherheitsdienstes erlebt hat.

Der ehemalige Innenminister Pavel** wurde als Opferlamm dafür ausgewählt, daß es dem CSSR-Geheimdienst im Jahre 1968 nicht gelang, überzeugende Beweise für eine antitschechoslowakische imperialistische Verschwörung zusammenzutragen. Aber wie konnte man Beweise für etwas sammeln, was gar nicht existierte? ... Was vielleicht auch Sie nicht wissen, Genosse Husäk, auch nach dem Fortgang Kudrnas blieb der Staatssicherheitsdienst als Ganzes unter dem Einfluß dogmatischer stalinistischer Mitarbeiter, die sich vor der Entdeckung ihrer antigesetzlichen Verbrechen aus früheren Jahren schützen wollten.

Im Innenministerium entstand im Frühjahr 1968 noch ein zweites Zentrum des CSSR-Sicherheitsdienstes. Es wurde von sowjetischen Beratern geleitet, die an der Inszenierung antitschechoslowakischer, sogenannter westlicher Provokationen teilnahmen -- in der Zeit vor der Invasion wie auch bei der Vorbereitung der Invasion selbst. Der Oberst Bokr, der Oberstleutnant Rypl oder der Oberst Houska könnten Ihnen darüber Informationen liefern, wenn der sowjetische Sicherheitsdienst sie nicht zum Schweigen verpflichtet hätte.

Der tschechoslowakische Sicherheitsdienst war seit dem Jahre 1948 nicht nur ein Organ der Klassenjustiz, deren Opfer ja auch Sie wurden, sondern hauptsächlich ein zuverlässiges Werkzeug des sowjetischen Sicherheitsdienstes. Die Sowjets waren stets vollkommen davon überzeugt, daß die Garantie für ihre Herrschaftsinteressen nicht so sehr in der KPC, sondern vielmehr beim Sicherheitsdienst der CSSR liege.

Als in den Archiven des Innenministeriums Dokumente über die Mordtaten der Hlinka-Garden während des Krieges in der Slowakei entdeckt wurden, verschwand ihr wichtigster Teil wieder in den Tresoren des Stellvertretenden Innenministers Jaroslav Klima, und die Schuldigen blieben unbestraft. Denn nach dem Krieg wurden einige Leute aus den Hlinka-Garden geehrte Parteimitglieder, und viele von ihnen arbeiteten mit dem sowjetischen Geheimdienst zusammen, und das hätte die Partei kompromittieren können ... Die erschütternde Logik liegt leider darin, daß der tschechoslowakische Sicherheitsdienst dem sowjetischen Interesse deshalb bedingungslos dient, weil so viele seiner Führer Agenten der Gestapo waren, etwa die Obersten Prchal, Jerman, Heinrich (Jindrich) Kotal, Kavan usw., und nur die Kollaboration mit dem KGB konnte sie vor dem Volksgericht schützen.

Lubomir Strougal*** zögerte deshalb in seiner Zeit als Innenminister nicht, die Nazi-Dokumente, die vom sowjetischen Geheimdienst geliefert wurden, zur Provokation gegen die Bundesrepublik Deutschland zu benutzen, weil das dem außenpolitischen Interesse der Sowjet-Union nützte. Die Dokumente, die der UdSSR seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zur Verfügung standen, wurden 19 Jahre nicht zur Aufdeckung der Kriegsverbrechen genutzt, sondern nur zu dieser zweifelhaften Propaganda-Kampagne.

Die Tätigkeit der leitenden sowjetfreundlichen Mitarbeiter wie z. B. Kosnar, Spelina, Rypl, Houska, Bokr, Molnar und anderer in der Zeit der Invasion ist allgemein bekannt ... Vielleicht, Genosse Husák, sind Ihnen die Fakten über die Vergangenheit dieser Leute nicht bekannt, für die die Invasion der einzige Schutz war und die heute gänzlich vom Vertrauen der Partei leben. Sie täuschen sich, wenn Sie meinen, daß diese Leute für Sie eine zuverlässige Stütze seien.

Bohumil Molnár führte viele unschuldige Menschen ins Gefängnis. Er gab vor, ein Verteidiger der Nach-Januar-Entwicklung zu sein -- aber im August

* »Lehren aus der krisenhaften Entwicklung von Partei und Gesellschaft nach dem 13. Parteitag«, die am 12. Dezember vom Plenum des ZK der gesäuberten KPC gebilligt wurden.

** Josef Pavel war vom 8. April bis 31. August 1968 CSSR-Innenminister. Er löste Dr. Josef Kudrna ab,

*** Lubomir Strougal, von 1961 bis 1965 Innenminister, ist Seil Januar 1970 CSSR-Ministerpräsident.

1968 organisierte er die Gruppe, die den Genossen Dubcek verhaftete. Vielleicht wird er es auch einmal für vorteilhaft halten, zum Beispiel Gustav Husák zu verhaften oder gegen ihn auszusagen. Und wenn Sie im Sinn hätten, gegen diese Leute etwas zu unternehmen, würden die sowjetischen Freunde und Ihre eigenen Untergebenen im Apparat der Partei Sie daran hindern, angefangen bei Lubomir Strougal und endend bei Otakar Svercina*, einem alten Agenten des Sicherheitsdienstes.

Als erster hätten Sie, Genosse Husák, als Parteivorsitzender informiert werden müssen, aber Sie wurden über die Arbeit des Geheimdienstes offenbar nicht unterrichtet, der genauso wie der sowjetische ein aktiver Produzent politischer Aktionen im Ausland ist. Die meisten dieser Aktionen haben überhaupt nichts gemeinsam mit unserer Aufgabe, die Republik zu schützen. Ich verstehe überhaupt nicht, warum wir einen umfangreichen Apparat in einigen neutralen Ländern wie Tansania, Mexiko, Indonesien, Chile, VAR, Indien, Algerien oder Uruguay unterhalten, wo wir nicht nur Informationen sammeln, sondern auch Operationen durchführen, die nur dem sowjetischen Interesse nützen und gleichzeitig dem Ansehen der CSSR im Ausland schaden. Es ist schwer zu verstehen, warum der tschechoslowakische Geheimdienst im Jahre 1957 Madame Tremeaud, die Frau des Präfekten des Departements Bas-Rhin, in Straßburg ermordete.

Der französische Präfekt und seine Frau hatten mit der Tschechoslowakei nicht das geringste zu tun. Die UdSSR aber wollte damit die westeuropäische und besonders die französische Öffentlichkeit von der Gefahr des Neonazismus in der Bundesrepublik überzeugen. Und lag es etwa im Interesse der CSSR, in aufwendiger Weise den Mörder zu empfangen, der Trotzki erschlug, ihn nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis mit größter Umsicht nach Europa zu bringen und ihm Asyl bei uns zu verschaffen?

Der sowjetische Geheimdienst benutzt und mißbraucht seinen tschechoslowakischen Partner überall dort, wo es für ihn von Vorteil ist. Die tschechoslowakische Regierung hätte die Existenz einer sozialistischen Regierung in Chile aufrichtig begrüßen und ihre positiven Tätigkeiten nach Kräften unterstützen sollen. Aber statt dessen wurde in Chile der Wirkungskreis des tschechoslowakischen Geheimdienstes mit dem Ziel wesentlich ausgeweitet, Grundlagen für eine erfolgreiche sowjetische politische Einflußnahme zugunsten der prosowjetischen Elemente in der KP Chiles zu schaffen. Ähnlich ist es in Guinea, Mali, Tansania, VAR, Algerien und anderen sozialistisch orientierten Entwicklungsländern.

* Otakar Svencina war von 1964 bis 1969 CTK-Korrespondent in Bonn, wurde dort nach dem 21. August 1968 wegen Spionageverdachts verhört und ist seit November 1969 Generaldirektor der CSSR-Nachrichtenagentur.

In den letzten Monaten aktivierte der tschechoslowakische Geheimdienst seine Tätigkeit sowohl zu Hause als auch im Ausland gegen die Nach-August-Emigration. Unsere sowjetischen Berater würden sich schrecklich freuen, wenn sie wenigstens nachträglich Informationen zusammenbringen könnten, die die Version von der konterrevolutionären Verschwörung im Jahre 1968 stützten. Die Berater bestehen auch darauf, daß die Emigranten diskreditiert werden, und haben offensichtlich noch schlimmere Dinge im Sinn. Ich verstehe nicht, warum wir auf diese Art und Weise unsere eigentlichen Aufgaben vernachlässigen und uns zum Skandal in der Welt machen.

Das sind die Dinge, über die ich mit Ihnen, Genosse Husák, sprechen wollte, Probleme, über die Sie Bescheid wissen müßten. Weder ich noch meine Freunde wollen Ihre Richter sein, Genosse Husák. Im Gegenteil, wir verstehen Ihre schwierige Situation und Ihre aufrichtigen Bemühungen um die unglaublich komplizierten Verhältnisse. Ich glaube fest, daß die Entwicklung des Jahres 1968 und die damalige Rolle des Staatssicherheitsdienstes einer genau den Tatsachen entsprechenden und nicht diktierten Analyse unterworfen werden wird. Dann wird irgendein neues ZK neue »Lehren« herausgeben. Allerdings· bezweifle ich, ob dieses Dokument viel mit dem gemeinsam haben wird, das im Dezember gebilligt wurde. Sie werden hoffentlich, Genosse Husák, in dem Augenblick, in dem das geschieht, auf der Seite des Volkes stehen.

Mit Parteigruß, ein Sicherheitsoffizier

P.S. Ich werde mich bemühen, diesen Brief auf verschiedenen Wegen in Ihre Hände gelangen zu lassen. Ich bin mir klar bewußt, was ich riskiere, aber ich kann nicht anders, unser Volk wird schon zu lange belogen und betrogen.

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