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PILGER Unsichtbare Wunder

Halb Wallfahrt, halb Tourismus: Pilgerreisen sind gefragt wie nie. *
aus DER SPIEGEL 32/1985

Zweimal die Woche, montags und donnerstags, fällt am Flughafen München-Riem eine Reisegesellschaft völlig aus dem Rahmen. Es sind vorwiegend bäuerliche Menschen, ohne modisches Reisezubehör und erkennbar nicht für Sand, Strand, Sonne gerüstet.

Ganz bestimmt ist bei jedem einzelnen ein Rosenkranz im Handgepäck und manchmal auch ein Fünfliterkanister für Weihwasser. Es sind Jet-Pilger.

Wallfahrten sind gefragt wie nie zuvor. Die Gläubigen zieht es nicht nur nach Altötting im Oberbayrischen, wo im vergangenen Jahr Rekord mit 800000 Besuchern verzeichnet wurde, oder zu den heiligen Stätten ins Bistum Münster, die gar eine Million zählten. Jetzt sind es die Hits im Ausland, die, das ergab ein Kongreß von 350 Pilgerleitern aus 13 europäischen Ländern, »wachsendes Interesse« finden: Lourdes, Rom, Jerusalem, Fatima, Santiago de Compostela.

Dem neuzeitlichen »Dienst am Peregrinus«, am Pilger, hat sich vor allem ein Münchner Reiseunternehmen verschrieben. Das sechzig Jahre alte Bayerische Pilgerbüro, Kircheneigentum und gemeinnützig, ist der größte Veranstalter für Religionstourismus (20 Millionen Mark Jahresumsatz). Auch ohne spezielle Boomzeiten wie Heiligsprechungen, Heilige Jahre und Jahrhundertfeiern von Marien-Erscheinungen verzeichnet das

Unternehmen ein »überdurchschnittlich hohes Ansteigen« der Nachfrage.

Eine 1970 eingerichtete Chartertour nach Lourdes entwickelte sich von anfänglich vier Flugterminen auf knapp 90 im Jahr. Viermal jede Woche starten zwischen Ostern und Oktober Maschinen des Typs Boeing 737 ab Nürnberg und München - 10000 Personen jährlich. 15000 weitere Pilger werden im Linienflugverkehr und in Sonderzügen befördert. Für die Reise »Mit Kranken nach Lourdes« werden Lazarettzüge der französischen Armee angemietet.

Mit Bavarian-Pilger-Tours fahren norddeutsche Protestanten wie südländische Atheisten, indische Schwestern aus Münchner Krankenhäusern wie Bundeswehrangehörige, für die eine jährliche Soldatenwallfahrt obligat ist. Neuerdings ist auch die Münchner Polizei dabei. »Es war schon sehr eindrucksvoll«, heißt es im Beamtenblatt »Polizei intern« vom Juni, »als in diesem gewaltigen unterirdischen Friedhof mitten in Rom alle zum Abschluß die Bayernhymne sangen.«

Wallfahrten, weiß der Münchner Weihbischof Franz Schwarzenböck, werden »zunehmend auch wieder als geistliche Übung angenommen«. Der Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, überlegt schon, wie das verstärkte und »offenkundige Verlangen« der Gläubigen noch besser befriedigt werden könne. Wallfahrten jedenfalls lägen im Trend der Zeit, denn sie seien »im wahrsten Sinne des Wortes progressiv«.

Was da in alle Himmelsrichtungen düst, hat allerdings nicht mehr viel gemein mit den Glaubensreisen von einst.

Aus den Büßern von gestern sind mittlerweile Touristen geworden, auch Dauerpilger, die im Pensionsalter alle Jahre eine andere Heiligkeit aufsuchen. »Es wird zwar viel gebetet«, beschreibt ein Pilgervater die reformierten Riten, »aber die äußere Frömmigkeit ist nicht mehr so gefragt.« Der Homo viator, der Mensch unterwegs, verlangt nach der Wallfahrt im Fluge, risikolos und bequem.

Der Stab des Bayerischen Pilgerbüros, 14 feste und 250 freie Mitarbeiter, organisiert jährlich 350 dieser »zeitgemäßen Wallfahrten« und bietet ein »ausgewogenes religiöses Programm, das in römischen kirchlichen Kreisen immer wieder volle Anerkennung fand« (Direktor Georg Black). Immer »im Preis eingeschlossen« sind nicht nur Vollpension, sondern auch »geistliche Betreuung während der gesamten Fahrt«.

Die Veranstaltungen führen dabei im Heiligen Land ("für jeden Christen ein Höhepunkt seines Lebens") auf die »Spuren des Herrn« (Preis: 1800 Mark), in Rom zur »Generalaudienz des Heiligen Vaters« (980 Mark). In Fatima kann der Reisende »teilhaben an dem großen Wallfahrtsgeschehen«, das sich »neuerdings auch an jedem Sonntag bei der Erscheinungskirche vollzieht« (1450 Mark). Im türkischen Meryem Ana lernt er eine Ruine kennen, die »glaubwürdiger Überlieferung zufolge als das Wohn- und Sterbehaus der Gottesmutter betrachtet werden« darf (2000 Mark).

Die Attraktion des Angebots, auch Hauptanziehungspunkt der im Schnitt 55 Jahre alten, vorwiegend weiblichen Pilger, ist Lourdes, der südfranzösische Gnadenort, an dem 1858 die 14jährige Bernadette Soubirous achtzehn Marien-Visionen gehabt haben will.

Vier Millionen Menschen besuchen inzwischen jährlich die kleine Stadt, angezogen von einer »Atmosphäre freudiger Erregtheit«, der Faszination des Massenkults und wohl noch mehr vom ständig genährten Glauben an Wunderheilungen. »In Lourdes«, verspricht auch das Pilgerbüro in einem Reisebüchlein, »geschehen nicht nur sichtbare Wunder! Es gibt vor allem die unsichtbaren Wunder an den Seelen.«

Der Münchner Kardinal und Erzbischof Friedrich Wetter erklärt »die vielen Wallfahrten« mit einer »tiefen Sehnsucht des Menschen nach Heil«, es gehe auch darum, »von der Unheilsmacht der Sünde befreit zu werden«.

Der Würzburger Volkskundler Wolfgang Brückner hingegen wittert im Pilgerstrom eine Parallele zu »sportlichen Moden unserer Freizeitgesellschaft«. Wenigstens tageweise, so Brückner, werde eine »religiöse Alternative zum Streß des modernen Alltags« gesucht.

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