DDR / WIRTSCHAFT Untauglicher Versuch
Vor einem Jahr, im Dezember 1969 war sich die Ost-Berliner Einheitspartei der Sache ganz sicher. Der Volkswirtschaftsplan für das Jahr 1970, so ließ sie die Volkskammer einstimmig beschließen, sei »ein Plan schöpferischen Denkens« und »hoher Leistungen« -- Start ins »dritte Jahrzehnt der stabilen und kontinuierlichen Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik«.
Ein Jahr darauf, am Montag vorletzter Woche, war der Optimismus dahin. »Trotz aller Anstrengungen«, so gestand Gerhard Schürer, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, den Abgeordneten der DDR-Volkskammer, werde es »nicht möglich sein, den Volkswirtschaftsplan 1970 in allen Positionen zu erfüllen« -- in allen wichtigen Positionen.
Schürers Erkenntnis signalisierte, daß auch die DDR« bislang stabilste Wirtschaftsmacht Ost-Europas, ebenso wie andere Ostblockländer und allen voran der Nachbar Polen 1970 unter Entwicklungsstörungen zu leiden hatte: In der DDR blieb nicht nur die Arbeitsproduktivität der volkseigenen Industrie -- Kriterium der volkswirtschaftlichen Effektivität -- mit einem Wachstum von lediglich fünf Prozent unter dem Planziel von 9,4 Prozent. Auch die Industrie-Produktion stieg statt um 8,4 nur um sechs Prozent. Und 1970 investierte der Staat nicht (wie geplant) 11,4 Prozent, sondern lediglich sieben Prozent mehr als 1969. Die Bauwirtschaft schließlich, das traditionelle Sorgenkind der DDR-Planer, erzielte mit drei Prozent nicht einmal die Hälfte der vorgesehenen Leistungssteigerung von 8,6 Prozent.
Dieses Resultat bestätigt die pessimistischen Plan-Prognosen, die DDR-Manager noch vor Verabschiedung des »Gesetzes über den Volkswirtschaftsplan 1970« intern formuliert hatten. Dem Einwand der Ökonomen, die Steigerungsraten seien angesichts der unzureichenden Rationalisierung und Automatisierung der volkseigenen Wirtschaft unreal, war Günter Mittag, Wirtschafts-Chef im SED-Politbüro und damals noch Plan-Optimist, jedoch forsch entgegengetreten. Er nannte die Kritik den »untauglichen Versuch ... die staatlichen Normativen zu reduzieren«.
Schon im Frühjahr freilich -- nach dem »abnormsten Winter des Jahrhunderts« (DDR-Meteorologen) -- erkannte schließlich auch die Parteiführung, daß ihre hochgesteckten Ziele unerreichbar waren. Sie reduzierte die Produktionsauflagen und rief die Werktätigen zu freiwilliger Überstundenarbeit, um wenigstens einige der wichtigsten Planvorhaben zu erfüllen.
Doch bereits im Herbst erwies sich auch dieses Programm als unrealistisch. Gleichwohl drängte das Politbüro die Staatliche Plankommission, die Produktionsauflagen für 1971 wiederum möglichst hoch anzusetzen. Wortführer; Günter Mittag.
Erst die aus einer Analyse der Planpannen von 1970 erwachsene Einsicht, daß eine weitere Forderung des Entwicklungstempos die ohnehin nur mühsam ausbalancierte DDR-Wirtschaft in neue, möglicherweise krisenhafte Schwierigkeiten stürzen könnte, bewog die SED-Politbürokraten, anders als Ihre polnischen Kollegen, zu einem taktischen Rückzug. Sie stimmten den Vorschlägen ihres Plankommissars Gerhard Schürer zu und verabschiedeten Anfang Dezember eine vor allem auf Stabilisierung orientierte Plan-Richtlinie für das Jahr 1971. Im »festen Willen, von den Realitäten und materiellen Bedingungen auszugehen und ein Entwicklungstempo zugrunde zu legen, welches wir in den letzten Jahren tatsächlich erreicht haben« (Schürer), einigte sich die SED-Führung auf magere, aber womöglich erfüllbare Zuwachsraten und Verbesserungen des Strukturprogramms. Die Summe der geplanten Investitionen soll sogar um 1,5 Prozent unter dem 1970 erreichten Zuwachs liegen.
Erhöhte Investitionen sind aber im kommenden Jahr der permanent notleidenden Energiewirtschaft zugedacht; um zu verhindern, daß auch 1971 wieder die Braunkohlenkraftwerke nicht genügend Strom liefern, mithin wichtige Industriezweige In die roten Zahlen kommen und schließlich die gesamte Volkswirtschaft aus dem Plan-Rhythmus gerät.
Straffere Leitungs-Disziplin soll überdies dafür sorgen, daß dem mittlerweile profitorientierten Industrie-Management die Möglichkeit genommen wird, bestimmte Fertigungen auf eigene Faust ein- oder umzustellen und auf diese Weise die Versorgung der Bevölkerung zu gefährden.
Als »typisches Beispiel dafür« nannte Politbüro-Mitglied Paul Verner auf der letzten Tagung des SED-Zentralkomitees die Verlagerung der gesamten Produktion synthetischer Zahnbürsten-Borsten aus dem Chemie-Kombinat Wolfen zum Chemiefaserwerk Guben. Die Folge, laut Verner: »Aufgrund ungenügender technologischer Vorbereitung in diesem Betrieb traten erhebliche Qualitätsmängel auf, wodurch Auslieferungsrückstände entstanden.« Jede derartige Umstellung bedarf deshalb fortan der Zustimmung des zuständigen Ministeriums.
Außerdem will die Partei die Preispolitik künftig besser kontrollieren, damit nicht, wie bisher, jede Qualitätsverbesserung einer Ware als Vorwand für einen höheren Preis benutzt werden kann und Waren unterer Preisklassen, wie Paul Verner klagte, einfach »vom Markt verschwinden«.
Mit dieser Stärkung der zentralistischen Elemente der ostdeutschen Planwirtschaft modifizierte die Parteiführung ein weiteres Mal das von ihr vor sieben Jahren verkündete »Neue ökonomische System« (Nös) und schränkte ein, was sie seinerzeit als Fortschritt gewertet hatte: den vergrößerten Entscheidungsspielraum des Managements.
Die orthodoxe Quintessenz formulierte der ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen Anfang Dezember vor dem ZK-Plenum. Günter Mittag, den westdeutsche Ostforscher gern einem liberalen SED-Flügel zurechnen: »Bestimmender Grundzug der Regelungen für 1971 ist die Verstärkung des demokratischen Zentralismus.«
Allein Franz Dahlem, 78, Kommunist seit 50 Jahren, 1953 wegen »politischer Blindheit« aus dem Politbüro verstoßen, 1956 rehabilitiert und seit 1957 wieder Mitglied des Zentralkomitees, ermahnte seine ZK-Kollegen zu differenzierterer Betrachtungsweise. Er suchte die Schuld für Versäumnisse nicht einfach im Mangel an Zentralismus, sondern gab statt dessen zu bedenken, daß auch die Zentrale nicht frei von Fehlern sei. So konstatierte er Schwächen im Informations-System der Partei, verlangte »klare, offene Antworten« der Führung auf Klagen aus dem Volk über Versorgungsschwierigkeiten und forderte schließlich mehr Mut zur Demokratie.
Der Altkommunist: »Die Hauptsache aber ist, daß überall die Meinungen der Produzierenden ... gehört werden, daß ihre Kritiken, ihre Gedanken, ihre Vorschläge geprüft und berücksichtigt werden, mit einem Wort, daß tatsächlich die Aufforderung der Partei verwirklicht wird, daß alle mitdenken, mitplanen« mitarbeiten und mitregieren sollen.«
Nur Tage bevor die Preispolitik der polnischen Kommunisten im Nachbarland den Aufruhr provozierte, versprach die SED 1,7 Millionen DDR-Werktätigen -- durch Anhebung der Mindestlöhne von 300 auf 350 Mark wie durch Gehaltsaufbesserungen für bislang zu kurz gekommene Beschäftigungsgruppen -- Lohnerhöhungen, hob den Zinssatz für Spareinlagen von drei auf 31/4 Prozent und forderte die Bürger auf, in den Betrieben allen »noch vorhandenen Erscheinungen des Selbstlaufs den Kampf anzusagen« (Günter Mittag).
Zugleich ließen Politbüro wie Zentralkomitee keinen Zweifel daran, daß mit Entwicklungshilfe von außen nicht gerechnet werden dürfe -- schon gar nicht von der Bundesrepublik. Im Gegenteil: »Alles Gerede westdeutscher Unternehmer, der DDR »unter die Arme' zu greifen«, dämpfte Mittag »Illusionen im Denken der (DDR-) Menschen«, sei »Teil der imperialistischen Global-Strategie.
Gegen diese auf Zersetzung des Sozialismus zielende Variante des Klassenkampfes aber, darin war sich das Zentralkomitee im Dezember einig, gäbe es ein sicheres Mittel: »den deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat politisch, ökonomisch, kulturell und militärisch weiter zu stärken und ihn von der imperialistischen Bundesrepublik vollständig abzugrenzen«.
Und der Vollständigkeit halber beschloß nun auch die DDR-Staatsbank, zum 1. Januar 1971 alle 1-, 5- und 10-Pfennig-Münzen aus dem Verkehr zu ziehen, die sie bis 1953 emissiert hatte. Denn diese Münzen tragen statt der seither geprägten Herkunftsbezeichnung »Deutsche Demokratische Republik« noch immer die Umschrift »Deutschland«.