LUFTFAHRTAMT Unter den Normen
Jeden Morgen, wenn Karl Kössler, 48, durch die Korridore des Luftfahrt-Bundesamtes (LBA) am alten Braunschweiger Flughafen in sein Chefbüro eilt, mahnt ihn ein Plakat: »Finger weg von schadhaftem Gerät.« Die Mahnung meint Tauchsieder und Bügeleisen, Steckdosen in Haushalt und Kontor.
Ob Regierungsbaudirektor Kösslers Amt auch die Finger von deutschen Luftfahrtgesellschaften gelassen hat, deren Zuverlässigkeit vom LBA überwacht werden soll, wird jetzt von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß des Bundestags geprüft. Anlaß ist die mißglückte Notlandung einer mit 115 Spanien-Urlaubern vollbesetzten Düsenmaschine der Münchner Chartergesellschaft Paninternational im September auf der Hamburg-Kieler Autobahn, bei der 22 Menschen ums Leben kamen.
Anfang vergangener Woche, bei ersten Zeugenvernehmungen in Bonn, sagte Joachim Kühnel, vorzeitig aus dem Dienst geschiedener Flugbetriebsleiter der (inzwischen in Konkurs gegangenen) Paninternational, vor den Parlamentariern aus, Flugsicherheit und Zuverlässigkeit seien bei dem Münchner Unternehmen von Anfang an »beeinträchtigt« gewesen. Als Gründe zählte Kühnel auf: »miserabler Stand der Technik, Voranstellung der kommerziellen Gesichtspunkte«.
Wohl war bei Inspektionen, so die LBA-Flugbetriebsprüfer Reinhold Wrede und Hartmut Holzapfel, auch von den LBA-Prüfern festgestellt worden, daß Ausbildung des Personals und Technik bei der Paninternational unter dem Standard anderer Unternehmen lagen. Auch waren den Münchnern daraufhin »Auflagen« erteilt worden, doch habe man sie nicht vollständig erfüllt.
Die Ausschuß-Untersuchung enthüllte einmal mehr das Dilemma, in dem die staatliche Überwachung der deutschen Fluggesellschaften steckt. Sie bleibt, so steht es schon in einem Bericht des ständigen Sicherheitsausschusses der Zivilluftfahrt über die Wirksamkeit des deutschen Überwachungssystems, »beachtlich unter den Normen« von »vergleichbaren Staaten« -- was sich »auf die Verkehrssicherheit ungünstig auswirken« könne.
Das Land mit der größten zivilen Luftflotte (rund 4000 Motor- und Segelflugzeuge) Europas, ja nach den USA und Kanada an dritter Stelle in der Welt, begnügt sich mit gelegentlichen Stichproben, wo ständige Inspektion ge-
* Vorn: Zeuge Reinhold Wrede, Flugbetriebsprüfer beim LBA.
boten wäre. LBA-Chef Kössler verfügt mit nur vier Millionen Mark über einen unzureichenden Jahresetat und kommandiert, Raumpflegerinnen eingeschlossen, eine vergleichsweise bescheidene Truppe von 140 Mitarbeitern -- »völlig unzureichend« (so LBA-Flugbetriebsprüfer Kim Lindberg vor dem Ausschuß des Bundestages) für die Kontrolle des Flugbetriebs bei der Deutschen Lufthansa und 13 deutschen Chartergesellschaften mit rund 130 Flugzeugen.
So kann Kössler für Aufgaben, die das englische Air Registration Board mit 450 Mann bewältigt, lediglich 50 Fachleute einsetzen. Und das reicht nicht am Boden und nicht in der Luft -- die Bruchlandung der Paninternational BAC 1-11 ist dafür, so Kössler-Vize Josef Matschego, »ein schlagender Beweis«.
Denn Ursache des Unglücks war ein krasser Wartungsfehler: Statt destillierten Wassers wurde beim Start reines Kerosin zusätzlich in beide Triebwerke eingespritzt. Der Treibstoff war, aus einem unbeschrifteten Behälter, irrtümlich in den Bord-Wassertank eingefüllt worden -- eine Panne, die nach Meinung der Fachleute bei exakter Aufsicht nicht hätte passieren dürfen.
Die Lufthansa schützt sich gegen derartige gefährliche Irrtümer mit Hilfe eines anscheinend narrensicheren Systems: Soll aus einem großen Lagertank, dessen Inhalt nach Füllung im Labor überprüft wird, beispielsweise eine kleinere Menge Öl abgefüllt werden, dann läßt sich der Tank nur mit einem Schlüssel öffnen, der sich unmittelbar am dazugehörigen Abfüllbehälter befindet. Dadurch wird gewährleistet, daß stets die richtige Flüssigkeit in das richtige Gefäß gelangt.
Um der deutschen Zivilluftfahrt Vorschriften-Frömmigkeit einzuimpfen, wurde bereits 1954 das »Gesetz über das Luftfahrt-Bundesamt« erlassen, das den Braunschweiger Aufsehern präzise und nahezu lückenlose Kontrollmöglichkeiten an die Hand gibt.
Nach einem 17-Punkte-Katalog sollen die Luftfahrtprüfer so diffizile Recherchen anstellen wie Untersuchung des »technischen und betrieblichen Zustandes und der finanziellen Leistungsfähigkeit« der Fluggesellschaften und Fliegerschulen oder wie die »Feststellung der Verkehrssicherheit des Luftfahrtgeräts«. Sie müssen Lizenzen für Berufsflugzeugführer, Navigatoren und Ingenieure, eventuell aber auch für »Führer von Luftschiffen« erteilen, Flugzeugmuster freigeben, Flugzeugunfälle untersuchen und Erlaubnisscheine für Fluglehrer ausstellen.
Wenn zum Beispiel ein neues Luftcharter-Unternehmen um Betriebsgenehmigung einkommt, setzt das LBA drei sogenannte Flugbetriebsprüfer zu einer 30-Tage-Inspektion an. Dabei wird unter anderem ermittelt, ob »Räumlichkeiten und Einrichtungen« einen »geordneten Flugbetrieb« gewährleisten und der Flugbetriebsleiter qualifiziert ist. Handbücher und Dienstanweisungen, zum Beispiel über Flugdienst- und Ruhezeiten, werden ebenso gecheckt wie Maschinen und ihre Ausrüstung, Bodengeräte, Ausbildungsstand der Flieger und des Wartungspersonals.
So weit reichen die Kräfte der Braunschweiger Bundesbeamten gerade noch, wenn sie dabei auch nur langsam vorankommen. So warten zur Zeit beim LBA 14 Neuanträge auf Erledigung, teils von Finanz-Abenteurern, teils auch von Unternehmen wie dem Hamburger Verlagshaus Gruner + Jahr, das eine Fluggesellschaft mit einem Fan Jet Falcon gründen will.
Ist die begehrte Genehmigung erst einmal erteilt, verliert das LBA indessen die Fluggesellschaften weitgehend aus den Augen: Längst hat die kleine Inspektorentruppe vor dem technischen Fortschritt und dem Luftreiseboom kapituliert und die ständige Kontrolle von Mensch und Material den Unternehmern selbst überlassen -- ein Verfahren, das auf der »trügerischen Hoffnung« (Kössler) beruht, die Branche stelle Sicherheit allemal vor Gewinn.
So nehmen seit rund vier Jahren vom LBA lizenzierte Angestellte der Luftfahrt-Unternehmen, abhängig vom Arbeitgeber und oft genug auch ihm zu Willen, jene Kontrollfunktionen an Bord und in der Werkstatt wahr, die ursprünglich unabhängigen Bundesbediensteten zugedacht waren. Die Bundeskontrolleure beschränken sich seitdem darauf, die Prüfer zu prüfen, und das auch nur in Stichproben. »Daß wir in den Hangar gehen«, so Kössler-Vize Matschego, »ist sowieso nicht drin.«
Statt in der Flugzeughalle zu inspizieren, haken die Braunschweiger Unterschriften auf Prüfpapieren ab, die auch einmal Falsches beglaubigen können. Zum Beispiel muß jeder Geräte-Ausfall in den Bordbüchern vermerkt werden; zu den »typischen Dingen, die bei jeder Gesellschaft vorkommen können« (Kössler), aber gehört, daß derlei Vorfälle auf einen späteren Zeitpunkt terminiert werden, um so zu vertuschen, daß etwa ein Flugkapitän mit einem ausgefallenen Navigationsgerät gestartet ist -- in der Hoffnung, das zweite werde schon intakt bleiben.
Kenntnis von der Qualifikation der Piloten, deren fliegerisches Können laut LBA-Dienstanweisung »ständig« überprüft werden soll, erlangt das Bundesamt auch nur aus zweiter Hand: Die Ausbildung der Flugkapitäne ist privaten Instituten überlassen, Prüfungen finden vor einem (vom LBA berufenen) Gremium privater Sachverständiger statt, und das Braunschweiger Amt fungiert dabei, so der Sicherheitsausschuß, »mehr oder weniger nur als Stempelbehörde«.
Und wenn ein deutscher Flieger seine Navigationsprüfung ablegen will, wird er manchmal von Kollegen aus der eigenen Firma getestet. Aus Braunschweig kommt allenfalls eine Verwaltungsangestellte angereist, die aufpaßt, daß keiner mogelt. »Fachlich«, so Kössler, »weiß die gar nichts.«
So kann von einem »gut ausgewogenen Verhältnis zwischen staatlicher Aufsicht und Eigenverantwortung des Unternehmers«, wie es der Bonner Ministerialrat Herbert Huck in einer LBA-Analyse fordert, denn auch nicht die Rede sein. Vielmehr verschiebt es sich immer stärker zuungunsten der staatlichen Stempelbehörde, die weitgehend dem Urteil oft firmenabhängiger Gutachter vertrauen muß, wenn es um die Gewissenhaftigkeit der Unternehmer und die Sicherheit der Fluggäste geht.
Die Ungewißheit, wie lange dieses System noch ohne Bruch praktiziert werden kann, wird ständig großer. In seiner Analyse kommt Huck zu dem Ergebnis, daß die Spitzengarnitur der Braunschweiger auf mindestens zwölf Flugkapitäne mit gültigen Fliegerlizenzen, zwei Navigationsexperten, drei Flugingenieure, sieben technische Betriebsprüfer und zwei Wirtschaftsfachleute verstärkt werden müßte.
Derzeitiger Stand: vier Flugbetriebsprüfer, die selbst nicht mehr fliegen dürfen, ein technischer und ein Wirtschaftsprüfer -- Navigatoren stehen zur Zeit überhaupt nicht auf der LBA-Personalliste.
Angesichts des anhaltenden Booms und der 14 Unternehmer, die auch noch ins Luftreisegeschäft einsteigen wollen, sieht der LBA-Chef beklommen in die Zukunft: »Das Netz unserer Überwachung wird lockerer und lockerer.«
Kössler-Vize Matschego, der es noch schwärzer sieht, spricht in Bildern: »Auch im Kraftfahrzeugwesen ist der Halter allein verantwortlich. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie unsere Autos aussähen, wenn sie nur alle zehn Jahre zum TÜV müßten.«