Unter die Lupe
(Nr. 22-25/1980, Sozialstaat: SPIEGEL-Redakteurin Renate Merklein über soziele Gerechtigkeit und ihre Folgen)
Es gibt längst eine »Sozialillusion«, die Täuschung darüber, vom Staat etwas kostenlos zu erhalten, während doch -cum grano salis -- insgesamt die Masse der Berechtigten identisch mit der Masse der Belasteten ist. Sie erhalten effektiv weniger, wegen der Verwaltungskosten, als sie bei unmittelbarem Kauf der vielfältigen Dienstleistungen des Staates aufzubringen hätten.
Krasses Beispiel: Der vielfältige Kündigungsschutz läßt insbesondere ältere Arbeitnehmer draußen vor der Beschäftigungstür stehen] Hinzu kommt, daß gerade die besonders wendigen, gemeint cleveren Bürger sich im Dickicht des sozialen Vergünstigungsgeflechts zurechtfinden, mithin überproportional davon profitieren. Die wirklich Benachteiligten vermögen in der Regel nur sehr partiell den Sozialstaat zu schröpfen. Aber der gut bezahlte Staatsdiener erhält von seinem Dienstherrn noch einen zinsbilligen Kredit zum Kauf einer Eigentumswohnung.
Hälings, wie man hier sagt, sind wir längst zum Trott in den totalen Versorgungsstaat unterwegs.
Stuttgart PROF. DR. PETER SCHADE
Das Dümmste ist dabei die Story vom unzutreffenden »Nullsummenspiel« -nach dem Motto, ob dem Bauern die Kühe verrecken, interessiert mich nicht, ich kaufe meine Milch bei Tengelmann; -- oder glaubt die Verfasserin, die Spieler Flick, Finck und wie die ganz großen Tiere alle heißen mögen, hätten ihre Überschüsse durch unermüdlichen Eifer von täglich zehntausend Stunden Mühe und Plage eigenhändig erzeugt?
Man könnte meinen, die Verfasserin stamme aus dem »Wackersteiner Ländchen« (Degenhardt).
Jork (Niedersachsen) KARL H. BÜCHNER
Ich habe nie allein von der einkommensbezogenen Armut gesprochen, aber nachgewiesen, daß knapp 20 Prozent aller Arbeitnehmerfamilien nur dadurch ein »durchschnittliches Einkommen« beziehen, weil die Ehefrauen, trotz zu versorgender Kinder, gezwungen sind mitzuarbeiten.
Tatsächlich kommt man auf die Zahl von 26 Prozent Armen, wenn man auch andere Indikatoren in das Armutsraster einbezieht. Insbesondere die Wohnungsbedingungen, Gesundheitsbedingungen, Bildungsbedingungen und die Arbeitsbedingungen (Akkord, Fließband, gesundheitliche Beeinträchtigungen). Erst aus diesem Indikatorensystem heraus wird Armut in einer hochindustrialisierten Gesellschaft interpretiert.
Wenn dann behauptet wird, daß die 800 000 Obdachlosen nicht in Armut leben (die bei Frau Merklein einfach vergessen werden) oder auch die knapp 2,3 Millionen Sozialhilfeempfänger relativ gut leben, dann ist das den Betroffenen gegenüber ein dreister Zynismus. Aber Frau Merklein hat ja nicht einmal die SPIEGEL-Veröffentlichungen zwischen 70 und 73 gelesen. Damals wurden acht Reports über die »Unterprivilegierten« S.8 veröffentlicht, die es nach Frau Merklein auf einmal nicht mehr gibt.
Frau Merklein sollte in Zukunft direkt für die Unternehmerverbände schreiben.
Frankfurt JÜRGEN ROTH Buchautor »Armut in der BRD«
Bei der Frage nach den Ursachen für das Verschwinden der Armut verkommt die ahistorische und auf den Common Nonsense vertrauende Argumentation zur Geschichts- und Gegenwartsfälschung:
Die Auswirkungen des hemmungslosen Konkurrenzkapitalismus im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt bei Marx anschaulich beschrieben, die erbitterten und erfolgreichen Kämpfe der organisierten Arbeiterschaft seither, das unbeschreibliche Elend in Ländern der Dritten Welt mit oder in Abhängigkeit von kapitalistischen Wirtschaftsordnungen.
Hirngespinste? Offenbar. Denn Merklein belehrt uns: »Der Kapitalismus hat das größte Verdienst an der Ausrottung der Not.«
Wer mit solcher Hemmungslosigkeit und Borniertheit seinen Hymnus auf »den Kapitalismus« trompetet, ruft keinen zu den Fahnen, der nicht eh'' schon aufs Signal gedrillt ist.
Breisach (Bad.-Württ.) PROF. DR. WOLFGANG WURM
Daß Auswüchse des Sozialstaats und unzureichende Sozialerhebungen unter die Lupe genommen werden, ist sicher richtig. S.9
Es hinterläßt aber einen faden Geschmack, wenn diejenige, die Sozialhilfeempfänger gut versorgt sieht, das Fünf- oder Zehnfache von diesen zum Leben hat. Man fragt auch nach den Maßstäben, wenn in der Bundesrepublik nur 106 000 Haushalte (4,5 Promille) wirklich arm sein sollen.
Natürlich braucht heute niemand mehr zu hungern oder zu frieren, und wer es tut, ist selber schuld. Aber das sind Armutskriterien der Gesellschaft des vergangenen Jahrhunderts.
Heute kommt es auf die kulturelle Armut an, wer an dem Massenkonsum nicht oder nur unvollkommen teilhaben kann. Das sind natürlich die Sozialhilfeempfänger und die meisten Haushalte ungelernter Arbeiter mit mehr als einem Kleinkind.
Die einseitige, apologetische »soziale« Sicht von Renate Merklein hätte besser in die »FAZ« gepaßt. Deren Mitherausgeber Jürgen Eick zeigt in seinen Büchern sogar noch mehr soziales Verständnis. Leider wird ja die Reihe so weitergehen -- Franz Josef Strauß zur Freude. Verärgert, Ihr
Bonn THEO RASEHORN
( Dr. Theo Rasehorn ist Vorsitzender ) ( Richter am Oberlandesgericht ) ( Frankfurt. )
Frau Merklein denkt, daß eine Familie von den Sozialhilfesätzen recht gut leben kann. Es wird ja für alles gesorgt und auch noch die Miete bezahlt. Bis zur »Würde des Menschen«, wie es das Bundessozialhilfegesetz vorschreibt, reicht es garantiert nicht.
Der Artikel leistet den plattesten Vorurteilen Vorschub, die über Armut existieren. S.10 Das gesellschaftliche Ärgernis ist dabei weniger, daß Frau Merklein willkürlich, unvollständig und verzerrend Daten präsentiert, sondern das Postulat, das damit gestützt werden soll:
Armut gehört in den »Promillebereich«, sie kann es im deutschen Wohlstand gar nicht geben. Des Menschen Natur verlangt nach Ungleichheit, und dafür müssen halt ein paar hunderttausend in Armut leben.
Frankfurt HELGA CREMER-SCHÄFER, UDO NOUVERTNE Arbeitsgruppe Armutsforschung Universität Frankfurt HELMUT HARTMANN, MARIA KRÖGER Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik E. V., Köln
Sie selbst -- die Gründer, wie M. Friedman, G. S. Becker unter anderen -- nennen sich »neoliberale Ökonomen«, die ausgezogen sind, gegen Sozialstaatlichkeit das Credo »Mehr Markt« zu setzen. In der Entstaatlichungskampagne der CSU/CDU schimmern die Argumente dieser »Chicago boys« gelegentlich durch. Kurt Biedenkopf hat mit seinem Hausinstitut diese neokonservativen Gedanken auf die Behandlung der Arbeitslosigkeit, des sozialen Wohnungsbaus sowie der Staatsverschuldung teilweise angewandt. Die Reprivatisierung sozialer und ökonomischer Risiken wird zu Lasten der Betroffenen durchgespielt.
Die Sehnsucht nach einer Transformation der Politik in einen marktradikalen Machtstaat, die sich mit der Serie abzeichnet, ist die beste Hilfe im »Grundsätzlichen«, die der SPIEGEL der CDU/CSU in der Phase des Wahlkampfs angedeihen lassen konnte und wird sicherlich dort zur Pflichtlektüre. Was aus parteipolitischer Rücksichtnahme etwa den »Sozialausschüssen« gegenüber nicht so deutlich angesprochen werden kann, legt diese Serie offen:
Krisenursachen werden nur dort aufgespürt, wo sich die Betroffenen politisch gegen die ihnen aufgebürdeten Krisenlasten wehren. Die monopolisierte Privatwirtschaft erfährt einen totalen Freispruch von jeder Schuld an Wirtschaftskrisen. Milton Friedmans Kampfschrift »Kapitalismus und Freiheit« (1962; in deutsch 1971) liegt nach Abschluß der Serie in Kurzfassung für bundesrepublikanische Verhältnisse vor.
Jetzt steht endlich die richtige Alternative auf der Tagesordnung:
»Kapitalismus und statt oder Freiheit«.
Bremen PROF. DR. RUDOLF HICKEL
Renate Merklein hat die von mir 1975 veröffentlichte Studie über die Armut im Wohlfahrtsstaat angegriffen.
Für weite Teile der SPIEGEL-Serie gilt, daß nicht sein kann, was nicht sein darf: Die Leute werden reich gerechnet.
Renate Merklein hielt es für richtig, Leuten mit geringen Einkommen miserable Wohnungen mit geringem Mietzins zuzumuten, anstatt für diese Bürger, wie ich es getan habe, einen angemessenen Mietzins für zumutbare Wohnungen in die Rechnung aufzunehmen.
Aber hauptsächlich kommt es mir auf etwas anderes an. Was heißt »arm«?
Als »arm« habe ich diejenigen bezeichnet, die über ein geringeres Einkommen verfügen, als ihnen nach dem Bundessozialhilfegesetz als notwendiger S.9 Lebensunterhalt von der Gesellschaft eigentlich zugebilligt wird.
Im Jahr 1974 waren das zum Beispiel 534 DM/Monat für einen Rentner oder 1251 DM/Monat für ein Ehepaar mit zwei Kindern.
Nun ist klar, daß die Zahl der »Armen« um so größer ist, je höher das »Armutsniveau« angesetzt wird. Die »Armen« des 19. Jahrhunderts oder auch der Entwicklungsländer, aber auch vieler »sozialistischer« Länder wären froh, wenn sie über das Einkommen unserer Armen verfügten. Bei uns muß keiner verhungern. Jede Armutsdefinition muß jedoch relativ sein, bezogen auf die jeweilige Gesellschaft.
Unsere Armen sind nicht in Indien und nicht in der Sowjet-Union, sie sind auch nicht im 19. Jahrhundert arm, sie sind es hier und jetzt, in der Bundesrepublik Deutschland, im 20. Jahrhundert.
Im Verhältnis zur übrigen Gesellschaft sind sie Entrechtete, und dies vor allem im Hinblick darauf, was bei einer richtigen Politik hätte erreicht werden können.
Bonn DR. HEINER GEISSLER Generalsekretär der CDU
S.9Dr. Theo Rasehorn ist Vorsitzender Richter am OberlandesgerichtFrankfurt.*