ENGLAND Unter die Röcke
Sie arbeiten gern, wenn der Bürger ruht.
Vorletzten Sonnabend besetzten Detektive der britischen Special Branch die Redaktionsräume des linken Londoner Magazins »New Statesman«. Am folgenden Sonntag durchsuchten sie die Wohnungen des Reporters Duncan Campbell und eines Redaktionsassistenten.
Die Beamten fahndeten nach Unterlagen zur Titelstory des »New Statesman« vom 23. Januar. Unter der Schlagzeile »Spy in the Sky« (Spion am Himmel) hatte Reporter Campbell Sensationelles enthüllt:
Mit einem Kostenaufwand von 500 Millionen Pfund hat England unter dem Kodenamen »Zircon« einen Spionage-Satelliten entwickelt. »Zircon« soll nun bald über der Sowjet-Union im All stationiert werden und die Thatcher-Regierung mit Informationen aus dem Ostblock versorgen.
Daß eine angesehene Publikation das Staatsgeheimnis enthüllte, erschien vielen Briten als Abgrund von Landesverrat. »Jede kommunistische Botschaft«, entsetzte sich der rechte »Daily Express«, »hat inzwischen ''New Statesman''-Exemplare per Diplomatenpost in die Heimat geschickt.« Generalstaatsanwalt Sir Michael Havers läßt wegen des vermeintlichen Verrats ermitteln. Er ordnete die Razzia gegen den »New Statesman« an.
Die »Statesman«-Journalisten sehen den Skandal ganz anders: Geheimnisverrat liege nicht vor, weil der Abhörsatellit vor den Russen ohnehin nicht zu verstecken sei. Das Luft- und Raumfahrtunternehmen British Aerospace, Hauptauftragnehmer des Satellitenprojekts, hatte sogar schon in Pressemitteilungen den Standort von »Zircon« im All preisgegeben. Vor den Briten aber hätte die Regierung »Zircon« gar nicht geheimhalten dürfen. Seit 1982 muß sie das Parlament über militärische Projekte unterrichten, die mehr als 200 Millionen Pfund kosten.
Der liberale »Guardian« kam dem »Statesman« zu Hilfe: »Unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit« rechtfertige der Staat »wieder einmal seine Geheimhaltungs-Besessenheit«. Im Unterhaus aber sah sich der »New Statesman« von der Opposition im Stich gelassen - obschon der »New Statesman« als Labour-Blatt gilt.
Enttäuschende Umfrageergebnisse im Wahljahr 1987 veranlaßten den Labour-Chef Neil Kinnock, sich als Patriot zu beweisen und zu der Zeitschrift auf Distanz zu gehen. Linke Labour-Leute beklagten das als »Flucht unter die Röcke von Frau Thatcher«. Die »Times« aber lobte Kinnock als verantwortungsbewußten Staatsmann.
Tatsächlich ist in England mit der Enthüllung von Staatsgeheimnissen weniger zu gewinnen als in anderen westlichen Demokratien. Denn in der Heimat der Magna Charta und dem Mutterland der Demokratie herrschen in dieser Hinsicht eigenartige Sitten.
Da gelten schon Banalitäten wie die Zahl der Kabinettsausschüsse und die Namen ihrer Mitglieder als streng geheim. Da kontrolliert kein Unterhaus-Komitee die Geheimdienste, etwa die Auslandsaufklärung MI6.
Die Vorstellung, daß Minister von Parlamentariern gegrillt werden wie in den USA bei der Irangate-Affäre, scheint den Regierenden absurd. Lästige Frager werden mit dem Hinweis »Staatsgeheimnis« abgeschmettert.
Liberalen-Chef David Steel brandmarkt denn auch die Geheimhaltungs-Obsession als »Teil der englischen Krankheit«. Viele Mitbürger aber finden den Zustand stinknormal.
Denn »Geheimhaltung« so der Politologe Peter Hennessy, »ist genauso ein Teil der englischen Landschaft wie die (grünen Hügel) der Cotswolds«. Ein Leitartikler des »Daily Telegraph« erklärt »unsere Akzeptanz offizieller Geheimhaltung«
als »Begeisterung unserer Gesellschaft für Heimlichkeit«.
My home is my castle - so wie der Bürger selbst in Ruhe leben und mit seinen kleinen Geheimnissen unbehelligt sein will, gesteht er auch dem Staat sein Recht auf Heimlichkeit zu.
»Gewohnheit und Instinkt« der Briten für Geheimhaltung werden legalisiert durch den Official Secrets Act aus dem Jahre 1911. Das Geheimhaltungsgesetz war während der deutschen Flottenaufrüstung als Abwehrmaßnahme gegen Spione des Kaisers verabschiedet worden und gilt bis heute.
Danach muß der Bürger im Dienst der Öffentlichkeit, gleich ob gewählt oder berufen, in Uniform oder Zivil, alle während seiner Tätigkeit erhaltenen Informationen als vertraulich behandeln.
Folge: Beamte klassifizierten Studien über die Sicherheit von Fahrrädern und über den Zusammenhang von Diät und Gewichtsabnahme als »geheim« - Schildbürgerstreiche auf englisch.
So kommt es, daß britische Umweltschützer Untersuchungen ihrer eigenen Atomenergie-Behörde zum Thema Reaktorsicherheit in den Protokollen amerikanischer Kongreßausschüsse suchen müssen.
Vergehen gegen das amtliche Geheimhaltungsgesetz können mit Gefängnis geahndet werden. Normalerweise aber funktioniert das System auch ohne Sanktionen. Ungebrochenes Staatsbewußtsein erzeugt Zurückhaltung bis hin zur Selbstzensur.
Das Verhältnis zwischen Regierung und Journalisten regelt in Großbritannien das sogenannte Lobby-System. Margaret Thatchers Sprecher Bernard Ingham unterrichtet täglich eine Gruppe von Journalisten, die sich verpflichtet hat, ihre Quelle nie zu nennen.
»New Statesman«-Reporter Duncan Campbell, 34, will dagegen »die Demokratie stärken«, wenn er Staatsgeheimnisse enthüllt. Er mußte sich vor zehn Jahren vor Gericht verantworten, weil er über einen britischen Horchposten auf Zypern berichtet hatte. Später erfuhr das Land von ihm, daß in Wiltshire für die Regierungsspitze ein atombombensicherer Unterschlupf bereitsteht, der Maggiebunker«.
Über den Spionage-Satelliten »Zircon« hatte Campbell einen Film im Auftrag der BBC produziert. Er bereitete das Thema erst für den »New Statesman« auf, nachdem das Fernsehen die Dokumentation abgesetzt hatte.
Die Regierung wußte von Campbells Projekt seit vergangenem Oktober, denn der Journalist hatte offizielle Stellen um Informationen gebeten. Dennoch war sie schockiert, als der »Zircon«-Bericht vorletzte Woche erschien.
Oppositionsführer Kinnock griff jedenfalls die Thatcher-Regierung im Parlament nur mit staatstragenden Argumenten an, die den Geheimhaltungssinn der Briten nicht verletzten: »Weshalb hat die Regierung vier Monate lang nichts getan und dann ... die Polizei in die Zeitschriftenbüros geschickt?«
Ende voriger Woche schlossen die Behörden mit dem »New Statesman« einen englischen Kompromiß: Schluß mit den Durchsuchungen, aber auch Schluß mit den Enthüllungen zum Fall »Zircon«. _(Sie dringen gewaltsam in die Wohnung des ) _("New Statesman«-Reporters Campbell ein. )
Sie dringen gewaltsam in die Wohnung des »New Statesman«-ReportersCampbell ein.