ZEITGESCHICHTE Unter uns
Adolf Hitler war gerade 24 Stunden Reichskanzler, da versicherte in Breslau der Kommandeur des Reiterregiments 7, Oberst Theobald Graf von Seherr-Thoss, seinen Offizieren: »Meine Herren! Dieser Hitler ist meiner Ansicht nach kein Herr, sondern nur ein Kerl. Und daran wird seine Bewegung früher oder später zugrunde gehen.«
Dem stellvertretenden Regimentsadjutanten Oberleutnant Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff blieben diese Worte bis heute im Gedächtnis haften. Und wenn auch der Graf Seherr, wie Gersdorff selber meint, nicht gerade zu den großen Denkern der Reichswehr zählte, so hatte hier »ein politisch ungeschulter Soldat und Herr von Anfang an erkannt, wohin der am 30. 1. 1933 eingeschlagene Weg führen mußte« (Gersdorff).
Der politisch ebenso unterbelichtete Adjutant, der seine Freizeit damals hauptsächlich den Rennpferden widmete, wurde anfangs nur abgestoßen von den Manieren der laut und hemdsärmelig auftretenden neuen Machthaber. Erst die Verbrechen des Regimes trieben Gersdorff zum Widerstand.
Mit Verbitterung vermerkt er, daß der militärische Widerstand fast nur bei Ausländern uneingeschränkte Anerkennung fand, von Deutschen dagegen nach dem Kriege vielfach als ein Putschen des um seine Privilegien bangenden Adels betrachtet wurde.
Erst jetzt hat der 72jährige Edelmann seine Memoiren aufgezeichnet, in denen er widerspricht: »Wenn es je eine Bewährung des deutschen Adels gegeben hat, so ist sie im Widerstand gegen Hitler deutlich geworden*.«
Freilich liefert der Autor anstelle neuer Details über den Widerstand ein farbiges Sittenbild des deutschen Offizierskorps. Ungewollt stutzt er eher jene Version, die den militärischen Widerstand damit erklärt, (laß adelige Offiziere, denen allein der preußische Ehren- und Kasinokodex als Richt. schnur diente, den Diktator hauptsächlich als brutalen und hergelaufenen Parvenü abgelehnt hätten.
Für den Sohn eines Rittmeisters und Eskadronschefs ergab sich die Berufswahl schon aus der Familientradition. Mit 21 Jahren saß Gersdorff als Leutnant im prächtigen Kasino des feudalen Breslauer Reiterregiments »auf
* Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff: Soldat im Untergang. Verlag Ullstein, Frankfurt. Berlin. Wien; 224 Seiten; 36 Mark.
dem Stuhl, in dessen Lehne mein Familienwappen eingeschnitzt war, und ich konnte mit dem Silberbesteck essen, in das mein Vater unser Wappen hatte eingravieren lassen«.
Obgleich die Reichswehr damals kordial mit der Roten Armee zusammenarbeitete, waren Vertreter der sowjetischen Proletarier-Streitmacht in dem feinen Breslauer Kavallerieregiment nicht gelitten. Bei Manövern, an denen die Sowjets als Beobachter teilnahmen, ließ es sich jedoch nicht immer umgehen, die Roten auch im Kasino zu empfangen.
Leutnant von Gersdorff gelang es, den Kameraden diese unstandesgemäßen Gäste für alle Zeit vom Halse zu schaffen. Unter seiner Stabführung blies das Trompeterkorps im Kasino ein paar Takte der Zarenhymne, woraufhin die Sowjets nach »knapper Verbeugung« den Raum verließen ("Wir haben sie nie wiedergesehen"). Sein Kommandeur, so Gersdorff, habe ihm zugeprostet und anerkennend gerufen: »Das haben Sie gut gemacht. Jetzt sind wir wenigstens unter uns.«
Diese Kasino-Idylle inmitten der Weimarer Republik wurde von den großen Parteien oder gar von der Regierung nie ernstlich angetastet. Das änderte sich erst, als Hitlers braune Bewegung zur Macht drängte.
Die Breslauer Reiter freilich merkten noch immer nichts. Gersdorff: »Von unserem Standpunkt aus nahmen wir Hitler und seine Bewegung nicht ernst genug. Wir waren eher versucht, den Agitator aus Braunau lächerlich zu finden.«
Von dem Terror, mit dem die SA gerade seine schlesischen Landsleute drangsalierte, drang zunächst nahezu nichts »in unser soldatisches Getto«. Schlägereien zwischen Soldaten seines Regiments und SA- und SS-Männern waren für Gersdorff greifbarstes Indiz für »das pseudorevolutionäre Rowdytum ..., das sich in Schlesien durch den SA-Führer Heines und dessen Kamarilla in besonders widerlicher Form präsentierte«.
Mit diesen Leuten, die sich wie »asiatische Usurpatoren« aufführten und den Reitern daher »denkbar fremd und widerlich« vorkamen, hatte Gersdorff, wie er notiert, nur »außerdienstichen« Umgang -- etwa in einer Breslauer Bar. Dort verprügelten Gersdorff und ein anderer Offizier den Heines-Adjutanten, den sie wegen seiner sexuellen Neigungen »Fräulein Schmidt« nannten.
»Schließlich«, so Gersdorff, »kam es dann am 30. Juni 1934 zu Hitlers Entmachtung der SA, wobei Heines und Schmidt ermordet wurden.«
Die Mordwaffen für die Niederschlagung des sogenannten Röhm-Putsches in Schlesien -- 75 Pistolen des Typs 08 mit Munition aus der Waffenkammer des Breslauer Reiterregiments -- hatte der Regimentsadjutant von Gersdorff dem berüchtigten SS-Führer Udo von Woyrsch nichtsahnend geliefert.
Zu spät erkannte Gersdorff, wem er zu Diensten gewesen war: der SS und ihren Herrschaftsansprüchen, die nicht zuletzt auf eine Nazifizierung der Wehrmacht abzielten. Gersdorff und gleichgesinnte Kameraden stemmten sich gegen diese Entwicklung, wobei die gesellschaftlichen Vorurteile einer Klasse mitwirkten, die sich von den sozialrevolutionären Parolen des Nationalsozialismus in ihrer Existenz bedroht sah.
Gersdorff betrachtete es als seine Adjutanten-Aufgabe, die Truppe »gegen den neuen Zeitgeist abzuschirmen«. Zwei jüngere Offiziere, die trotz seiner Mühewaltung weiter mit den Nazis sympathisierten, wurden -- für einen Kavalleristen die schwerste Strafe -- zu einer motorisierten Einheit abgeschoben. Die Breslauer Reiter waren »wieder unter uns«.
Doch völlig konnten auch sie sich nicht abschirmen: 1935 mußten sie in ihrem Kasino ein Hitler-Bild aufhängen. Im Herbst 1938 ging dem Rittmeister von Gersdorff vollends auf, wie dubios sich inzwischen die Wehrmacht verändert hatte. In Breslau war davon noch nichts zu spüren, aber als er nach Berlin auf die Kriegsakademie entsandt wurde, war selbst für ihn die Veränderung offenkundig: »Die Mehrzahl der Ofiziere bestand aus Reaktivierten und ehemaligen Landespolizisten, die zum großen Teil begeisterte Nationalsozialisten waren.«
Mit diesen Kameraden, die nach »Stil und Auftreten ... nicht mehr dem Bild des preußischen Offiziers« entsprachen, wurde Gersdorff im März 1939 in die Reichskanzlei kommandiert.
An einem großen runden Tisch warteten Gersdorff und seine Mitakademiker auf ihren Oberbefehlshaber: »Dann erschien Hitler. Nach kurzem Gruß setzte er sich nachlässig auf einen Stuhl, zog in sichtlicher Verlegenheit an seinen Fingern und war zunächst unfähig, ein Gespräch zu eröffnen.«
Hitlers Heeres-Adjutant Schmundt rettete die Situation, indem er Hitler drängte, eine Rede zu halten.
Gersdorff: »Als er geendet hatte, wischte er sich den Schweiß von der Stirn und löffelte dann mit aufgelegten Armen hörbar eine Gemüsesuppe. Der ganze Eindruck, den ich von Hitler empfangen hatte, war der eines widerliehen, aufgeschwemmten Proleten.«
Nach dem Essen durften die Gäste die neue Reichskanzlei einschließlich Hitlers Arbeitszimmer besichtigen. Und dort »ereignete sich nun etwas unvergeßlich Widerliches: Zahlreiche Offiziere stürzten sich auf eine grüne Schreibtischunterlage, zerrissen sie und balgten sich um kleine Papierfetzen, die sie als Souvenir mitnehmen wollten. Mit einigen Freunden und Gleichgesinnten ging ich deprimiert und angewidert nach Hause
In der Tschechoslowakei, in Polen, in Frankreich, in Rußland marschierte Gersdorff mit; erst enragierte Hitler-Gegner im Stab der Heeresgruppe Mitte, geschart um den la, General Henning von Tresckow, bewogen ihn zum offenen Widerstand. Und als im Herbst 1941 bekannt wurde, daß die SS 12 000 Juden in einem im Heeresgruppenbereich gelegenen Getto ermordet hatte, waren »die letzten Hemmungen im Kampf gegen Hitler und sein Regime beseitigt« (Gersdorff). Er setzte durch, daß ins Kriegstagebuch (KTB) der Heeresgruppe Mitte eingetragen wurde: »Die Erschießungen werden als eine Verletzung der Ehre der deutschen Armee, insonderheit des Offizierskorps, betrachtet.«
Gersdorff heute: »Eine solche KTB-Eintragung grenzte damals an Hochverrat.«
Im Sommer 1942 war Tresckow entschlossen, Hitler mittels Sprengstoff zu beseitigen, und Gersdorff besorgte die Zutaten. Unter Erklärungen, die er selber »nicht für besonders glaubhaft« hielt, holte er immer häufiger brisante Pakete aus einem in seinem Befehlsbereich liegenden Sprengstofflager der Abwehr.
Jedesmal bescheinigte er den Empfang des detailliert aufgeführten Materials mit seinem Namenszug im Quittungsbuch des Lager-Feldwebels und fragte sich beim Unterschreiben, »ob ich mein eigenes Todesurteil unterzeichne«.
Denn Tresckow bereitete den Tyrannenmord mit preußischer Pedanterie vor. Er wollte keine Fehlzündung riskieren und veranstaltete daher eine lange Versuchsreihe von Probesprengungen samt wissenschaftlich geführten Tabellen.
Trotzdem versagte der Zünder der Bombe, die von den Verschwörern im März 1943 in Hitlers Flugzeug geschmuggelt worden war. Eine Woche später scheiterte auch Gersdorff, der Hitler (und sich selber) im Berliner Zeughaus durch eine Bombe töten wollte. Hitler hatte das Gebäude programmwidrig früh verlassen, Gersdorff konnte den schon eingestellten Zeitzünder gerade noch rechtzeitig verschwinden lassen (SPIEGEL 15/1976).
Der Sprengstoff der Ladung, die Graf Stauffenberg am 20. Juli 1944 im Führerhauptquartier hochgehen ließ, stammte ebenfalls aus Gersdorffs Lieferungen. Doch die Gestapo kam dem Lieferanten nie auf die Spur.
Aus dem Widerständler wurde wieder der unpolitische Kavallerist, der Husarenstücke vollbrachte und sich in Gesellschaft von alten Haudegen wie Sepp Dietrich und Paul Hausser wohl fühlte -- obwohl beide hohe SS-Ränge bekleideten.
Der Freiherr führte nun Krieg nach Gutsherrenart. Selbst auf der Flucht und schon weit im eigenen Land waren ihm Kriegserlebnisse vergönnt, wie sie Kavaliere der alten Schule zu schätzen wissen. So tafelte er einmal als Gast eines Generals auf dem Neroberg bei Wiesbaden:
Bei schönem Frühlingswetter saßen wir auf dem Balkon, und neben jedem Gedeck lag ein Fernglas, durch das man die Panzerkämpfe auf der westlichen Rheinseite beobachten konnte. Der Gastgeber hatte dabei eine Telephonverbindung mit der bekannten Turnierreiterin Irmgard v. Opel in Westerberg. Sie war bereits von den Amerikanern überrollt und meldete nun Zahlen und Typen der vorbeifahrenden Feindpanzer.
* Mit SS-Oberstgruppenführer Dietrich und Generalfeldmarschall Model.
Stilvoll schließlich begab sich Gersdorff in US-Gefangenschaft, nachdem er die Front einer »amerikanischen Ehrenformation« abgeschritten hatte. Sein Vorsatz: »Vor allem kam es mir darauf an, die soldatische Grundhaltung auch in der Gefangenschaft beizubehalten.«
Doch als sich im Offizierslager herumsprach, daß Gersdorff am Widerstand teilgenommen hatte, wurde er »von der überwiegenden Mehrheit aller Lagerinsassen geschnitten«. Eine Abordnung der Generalität überraschte den deutschen Lagerkommandanten mit der Forderung, der Verschwörer solle aus dem Lager entfernt werden, andernfalls würden die Generale ihn von SS-Leuten »totschlagen« lassen.
Vermittlungsversuche scheiterten. Ein Duell, das der Freiherr schon erwog, ließ sich mit dem dazu gebotenen Zeremoniell im Gefangenenlager nicht bewerkstelligen. Mithin war »eine Regelung auf dem Ehrenweg ausgeschlossen«.
Nun endlich dämmerte dem Widerständler, wie untauglich das reaktionäre Preußentum war, als es sich gegen die NS-Herrscher wandte.
»Zwar hatte ich mich«, resigniert der Memoirenschreiber, »nie der Illusion hingegeben, daß unsere Verschwörung allgemein gutgeheißen werden würde. Ich hatte aber fest damit gerechnet, bei der Mehrheit des Volkes und besonders der Soldaten auf Verständnis zu stoßen, wenn erst einmal das ganze Ausmaß der Verbrechen und der Katastrophe des Kriegsausgangs bekanntgeworden sei.«