Unter Wölfen
Es ist immer dieselbe Mutter, die da zur Mittagszeit auf ihren Sprössling wartet, hier vor der Schulpforte der Sophie-Barat-Schule in Hamburg, eine der besten des Landes. Die Frau ist kultiviert und nett, und sie trägt das Hanseaten-Outfit für Mädchen aus gutem Hause: Blazer, Bluse, Halstuch. Sie kaut auf der Lippe. Sie steht im Nieselregen und mustert die Horde, die aus dem Schultor strömt.
Dann entdeckt sie ihren Sprössling. Sie wischt ihm die Haare aus dem Gesicht, schaut ihn fragend an. Der Knirps lässt sich Zeit. »Mama«, sagt er schließlich, »entspann dich, ich hab 'ne Eins.«
Sie steigt mit ihm ins Auto, und man sieht eine Wischerbewegung lang: Glück. Doch dann kehrt der gehetzte Blick zurück. Sie hat keine Zeit zu verlieren. Ab nach Hause, ab an die Bücher. Die nächste Arbeit steht an. Im Fußball heißt das: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.
Überall gibt es sie. Gute Mütter, ängstliche Mütter, überbesorgte Mütter, die den Terminkalender der Kleinen organisieren wie die Chefsekretärin den eines Firmenvorstands.
Es sind ja auch tatsächlich Spitzenkräfte, die dort abgeholt werden. Sie sollen das Vaterland retten. Sie sind es, die voraussichtlich ab dem Jahr 2012 gesucht werden, und sie sind nicht genug. Millionen von ihnen werden auf lange Sicht fehlen, dann nämlich, wenn eine ganze Generation in Rente geht und die Positionen räumt.
Sie müssen es bringen, um jeden Preis. Sie werden mit privaten Englischlehrern und Hockey-Coaches auf ein Lebensmarathon vorbereitet, das überhaupt nur die Fittesten durchstehen. In Wahrheit sind sie Bilder des Jammers, denn sie verkörpern die letzte Hoffnung einer innerlich kaputten Gesellschaft, die sich irgendwann, Ende der sechziger Jahre, dazu entschlossen hat, den Nachwuchs auf ein Minimum zu drosseln.
Sie sind Exponenten der »Minimum«-Gesellschaft.
»Minimum« heißt das neue Buch des »FAZ«-Herausgebers Frank Schirrmacher, mit dem er seinen Demografie-Schocker und Bestseller »Das Methusalem-Komplott« weitergedacht hat*.
»Minimum« beschäftigt sich nicht mit den Alten, sondern mit den Jungen. »Mi-
nimum« beschreibt die seelischen und soziologischen Folgen einer Katastrophe, die längst eingetreten ist. »Wir haben an einem Programm herumgefingert«, so Schirrmacher, »und damit einen biologischen Gau ausgelöst, der sich noch gar nicht abschätzen lässt.«
Die Knirpse, die dort aus der Schulpforte treten, werden, so viel weiß man mittlerweile, nicht nur ihre eigenen Kinder ernähren und womöglich die eigenen Eltern unterstützen müssen, sondern viele, viele andere Alte auch. Es ist eine Last, die größer ist, als sie verkraften. In zehn Jahren, spätestens, ist es so weit.
Noch nie zuvor in der deutschen Geschichte hat sich der demografische Kegel derart verschoben. Irgendwann wird es mehr Alte als Junge geben, das war noch nicht einmal in den Zeiten der Pest so und auch nicht während und nach den Weltkriegen. Schirrmacher sieht unsere Gesellschaft, ähnlich den Pionieren im Wilden Westen, auf einem langgezogenen Treck. Auf dieser Reise in eine düstere Zukunft werden nach und nach die sozialen Netze reißen, Masche für Masche.
Man hört die Reißgeräusche mittlerweile täglich. »Bis zum Jahre 2016«, so eine Meldung von vergangener Woche, »wird es Nullrunden bei den Renten geben.« Die Kassen sind leer, sind ausgeräumt und verfrühstückt von jener Nachkriegsgeneration, die im Moment die dominante ist.
Besonders in Deutschland ist die demografische Situation eindeutig: In kaum einem anderen Land in Europa werden so wenig Kinder geboren wie bei uns, mit 1,3 pro Frau weniger als in Frankreich (1,9), in Großbritannien (1,7), erst recht in den USA (2,1). Schon jetzt gibt es Metropolenviertel, in denen die Jugendlichen mit Migrationshintergrund weit in der Überzahl sind.
In den meisten Fällen wird bei uns das Mutterglück im Alter von 30 Jahren gesucht, und es ist oft organisiert wie ein Feldzug zwischen zwei Karrierestationen, denn mit Empfängnisverhütung und künstlichen Befruchtungen sind Kinder planbar
geworden wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit.
Noch 1980 waren die Mütter bei der Erstgeburt 25 Jahre alt und hatten biologisch Zeit für weitere Geburten. Die Kinder dagegen, die heute zur Welt kommen, müssen es bringen, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie Einzelkinder bleiben. Ihre Mütter, ihre Väter haben alles auf diese eine Karte gesetzt, und die soll nun gewinnen.
Dreißig Prozent aller Akademikerinnen entscheiden sich gegen das Abenteuer Kind. Bei älteren Männern sieht es ähnlich aus. Dem Gebärstreik folgte der Zeugungsstreik und der Ehestreik sowieso - die Risiken einer Scheidung vor dem Familiengericht will kaum noch einer auf sich nehmen.
Kinder werden als Beeinträchtigung der individuellen Lebensplanung empfunden. »In der Gruppe der dauerhaft Kinderlosen«, so heißt es in einer Broschüre des Familienministeriums, handele es sich oft um Personen, »die in überdurchschnittlichem Maß Wert auf Unabhängigkeit legen«.
Das Programm: jeder für sich, angetreten zur Anbetung des eigenen Bauchnabels! Und dieses Modell ist Leitkultur geworden. Nur logisch, dass dabei einiges auf der Strecke bleibt, was früher ganz selbstverständlich mit zur »Entfaltung der Persönlichkeit« gehörte. Eben die Familie.
Die Genussgeneration ist argumentativ flexibel: Sie sehe, so das Ministerium, »angesichts der Probleme dieser Welt keine Motivation, ein Kind zu bekommen« - ohne natürlich zu berücksichtigen, dass ihre Kinderlosigkeit mittlerweile ganz gewaltig zu den Problemen ihres Landes beiträgt. Mittlerweile, so die Broschüre, seien viele so weit, dass sie sich ohnehin »die Kindererziehung nicht zutrauen«.
Das heißt im Klartext, dass unsere Gesellschaft dabei ist, den Umgang mit Kindern zu verlernen. Wir vergöttern Kinder, und wir lassen sie verhungern wie das gemarterte Mädchen Jessica. Wir verhätscheln sie in absurdester Weise, und wir bemerken nicht, wenn eines zu Tode geschüttelt wird im Reihenhaus nebenan.
Im Jahr 2004 mussten insgesamt 45 200 Familien mit 101 100 Kindern und Jugendlichen durch sozialpädagogische Familienhilfe unterstützt werden - acht Prozent mehr Familien als im Vorjahr.
Die Zahl der Haushalte in Stuttgart etwa, bei denen der Allgemeine Soziale Dienst eingeschaltet wurde, nimmt jährlich um mehrere hundert zu. Ebenfalls steigend ist dort die Zahl der Familien mit Armutsproblematik und in einer »überforderten Lebenssituation«.
Doch auch am oberen Ende des sozialen Spektrums hat man Probleme mit dem Nachwuchs: Mütter des gehobenen Mittelstands wenden sich nach der Geburt um Rat an Einrichtungen wie den Hamburger »Dreiklang«, der im vornehmen Stadtteil Volksdorf »Beratung und Therapie rund um Schwangerschaft, Geburt und Kindheit« anbietet.
Therapeutin Sabine Kirsch weiß: »Die haben alles über Erziehung und Hirnforschung gelesen, wollen ganz viel für ihr Kind und stehen unter ungeheurer Anspannung.« Die Kinder, die heute zur Welt kommen, werden von der Umwelt und den Eltern beäugt wie Außerirdische.
Wie kommuniziert man mit ihnen?
Kommen sie in guter Absicht?
Ist alles in Ordnung mit ihnen?
Warum sprechen sie noch nicht?
Man will ja schließlich alles richtig machen.
Die Münchner Therapeutin Gabriela von Windau sieht den frühkindlichen Förderehrgeiz vieler Eltern durchaus mit Sorge. Eigentlich behandelt sie in ihrer psychotherapeutischen Praxis Erwachsene, doch immer häufiger bringen entnervte Mütter ihre kleinen Kinder »wie zur Reparatur«, so Windau - weil diese sich angeblich nicht entspannen könnten.
Dass es deutschen Kindern nicht gut geht, ist inzwischen belegt: Eine wachsende Zahl von Kindern hat Bewegungs- und Motorikstörungen, zeigt Haltungsschäden und Koordinationsschwächen und leidet bereits im Vorschulalter unter Kopfschmerzen. Etwa 20 Prozent aller Kinder sind übergewichtig, rund 10 Prozent fettleibig, das sind mehr als doppelt so viele wie Ende der achtziger Jahre. Bis zu 27 Prozent der Kinder gelten als verhaltensauffällig, wie das »Deutsche Ärzteblatt« vermeldet.
Der hannoversche Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann spricht in seinem gleichnamigen Buch vom »Drama des modernen Kindes« und analysiert die Gründe für Hyperaktivität, Magersucht und Selbstverletzungen, Störungen bei Kindern, die, so Bergmann, rapide zunehmen. In seiner Praxis erlebt Bergmann geschminkte, herausgeputzte zehnjährige Mädchen, die bereits Diäten hinter sich haben und mit ihrem Körper in Feindschaft leben, sowie unruhige, aggressive Jungen, die sich auf nichts konzentrieren können.
Die deutsche Familie, konstatiert Bergmann, sei in schlechter Verfassung. Vor allem in der Ein-Kind-Familie forderten Eltern häufig eine enge, harmonische Einheit, und das Kind müsse »das Funktionieren« der »glücklichen Familie« nach außen hin dokumentieren. Es ist Kindesmisshandlung in guter Absicht, die da stattfindet, es ist die Wohlstandsvariante zur Verwahrlosung aus Ignoranz.
Unsere verunsicherte Gesellschaft scheint eine zu sein, die sich die Probleme ums Kind am liebsten im Fernsehen anschaut, in Sendungen wie »Super Nanny«, mit bis zu 5,6 Millionen Zuschauern ein Quotenrenner bei RTL.
Doch wo sie sich dann in der Wirklichkeit noch einfinden, die Kinder, gibt es Rätsel zu lösen. Rund 750 Millionen Euro haben die Deutschen im vorvergangenen Jahr für Erziehungsratgeber und Zeitschriften wie »Eltern for family« oder »Familie & Co.« ausgegeben. Und sie werden mit jedem Tag ratloser.
Eine alternde Gesellschaft versucht Wunderkinder auszubrüten, in dem traurigen Bewusstsein, dass irgendetwas fehlt, etwas Lebensentscheidendes, etwas, das irgendwann abhanden gekommen ist auf diesem langen Treck in die Zukunft. Und dann schaut sie hinaus, diese westliche Gesellschaft, auf türkische Stadtteile wie in Berlin-Kreuzberg und auf Grillwiesen wie im Tiergarten, und dann fällt ihr wieder ein, was es war: die Großfamilie.
Tatsächlich ist der Tanz ums begabte Kind evolutionsgeschichtlich und lebensgeschichtlich unsinnig, denn der bindungslose Einzelne, erzählt Schirrmacher in den wohl packendsten Kapiteln seines »Minimum«-Buchs, ist rettungslos verloren, schon immer, auf den eisigen Höhen des Donner-Passes damals in Nordkalifornien genauso wie beim Hotelbrand auf der Isle of Man - es waren stets die größeren Familienverbände, die sich retten konnten. Die Einzelnen, auch wenn sie noch so gut untereinander befreundet waren, kamen um.
Das Stammhirn sagt: Blut ist dicker als Wasser. Das Stammhirn sagt: Rette deine eigenen Leute. Das Stammhirn sagt: Die Familie
ist die erfolgreichste Formation, gerade in Krisenzeiten.
Ausgerechnet diese belastbarste Form für das Überleben der Gattung wurde von unserer Babyboomer-Gesellschaft, den in den fünfziger Jahren Geborenen, zertrümmert. Heute, wo man klarer sieht, sieht man: Wir haben uns die eigenen Lebensgrundlagen entzogen.
Dabei geht es nicht nur um die knapp gewordene Ressource »Kind«, über die man nun heftiger und verzweifelter diskutiert als übers Erdöl. Es geht auch um die Ressource »Liebe«. Das ist wohl einer der erstaunlichsten Befunde in Schirrmachers Buch: »Eine Gesellschaft braucht auch ein Minimum an wachsenden Familien, damit die Selbstlosigkeit, die in Familien produziert wird, in der Gesellschaft spürbar wird.« Und: »Vielleicht sind wir im Begriff, eine Gesellschaft zu schaffen, in der immer mehr Menschen unfähig sind, Liebe und Fürsorge für Kinder und Verwandte aufzubringen.«
Und das ist nicht die Sprache der romantischen Illusion, sondern die der Selbsterhaltung, der Biologie! Eine Schöpfungsnotwendigkeit, an der wir herumgefummelt haben, bei Strafe unseres Untergangs.
Noch in den frühen sechziger Jahren waren drei und mehr Kinder fast der Normalfall. Doch Ende der Dekade war es mit dem Sozialprestige der Kinderreichen vorbei. Große Familien waren zunehmend passé. Sie werden seither mit Unterschicht und Verwahrlosung assoziiert.
Mondän und absolut nachahmenswert dagegen war das gutverdienende, kinderlose Pärchen mit der Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg oder Hamburg-Eppendorf, das nichts für die Zukunft irgendwelchen Nachwuchses zur Seite legen musste, sondern sehr kultiviert alles anschaffte, was gerade angesagt und in den Blick geraten war, und damit, selbstverständlich, den Wirtschaftsboom beförderte.
Für die jungen Deutschen, die Ende der sechziger Jahre das gesellschaftliche Klima prägten, war Kinderlosigkeit die verlockendste Option. Es ist die Altersgruppe zwischen 20 und 45, die Familien gründet. Oder auch nicht. Bei uns tat sie es immer weniger. Und sie gab ihr Modell der Kinderknappheit weiter an die nächste Generation, die nun noch weniger Kinder kriegt, denn das ist bewiesen: Es braucht Kinder, um zum Kinderkriegen zu ermutigen. Heute sind es proportional gesehen mehr junge Männer mit Migrantenhintergrund als Deutsche, die Familien gründen.
Der Kampf gegen die bürgerliche Familie ist bei uns im kulturellen Code fest verankert. In einem Interview zu seiner jüngsten Premiere an der Schaubühne in Berlin konstatierte der junge Regisseur Thomas Ostermeier: »Die bürgerliche Familie ist Ursache vieler Probleme, die wir haben.« Und er empfahl, das Wiedererstarken der »bürgerlichen Ehe« in manchen Milieus im Auge zu behalten, als handele es sich dabei um Untergruppen der NPD.
So tief hat sich ins Bewusstsein geätzt, was die Kommune 1 1967 verkündete: dass die bürgerliche Kleinfamilie Quelle allen Unglücks sei, die Bastion an Unterdrückung und Triebverleugnung und damit Brutstätte kleiner Nazis.
Sicher, das Kindergebären wurde durch alle Zeiten als Mittel der Aufrüstung missbraucht. Nationen brauchten Soldaten, brauchten Kanonenfutter. Auch unter deutschen Nazis war diese Art der Familienpolitik Bestandteil der Alltagspropaganda. Erich Kästner machte sich schon 1930 in einem Gedicht darüber lustig: »Hast du, was in der Zeitung steht, gelesen? / Der Landtag ist mal wieder sehr empört / von wegen dem Geburtenschwund gewesen. / Auch ein Minister fand es unerhört.«
Die Kommunarden um Rainer Langhans und Fritz Teufel zogen den falschen Schluss daraus. Sie sagten: Nie wieder Familie, nie wieder Deutschland! Sie waren durchaus kreativ und idealistisch. Sie wollten die Gesellschaft in ihrem innersten Bereich revolutionieren, wollten Eigentum und Egoismus bekämpfen und Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit leben.
Allerdings: Wie lebt man Brüderlichkeit ohne Brüder? Die Bewusstseinstrübung der Kommune 1 bestand in der Zertrümmerung der Familie, der Auflösung der Kernzellen unseres Lebens, unserer Menschwerdung. Das Grundbesteck aus Geben und Nehmen, aus Verantwortung, Selbstaufopferung und Hilfe lässt sich nur in der Familie lernen. Die Kommune 1 und alle anderen Wohngemeinschaften nach ihr bastelten am neuen Modell, nämlich an der »Neigungsfamilie«. Falls Kinder dazukamen und zwischen all den Nackten herumwimmelten, waren sie antiautoritär erzogen, und das war wichtig.
»Wir haben gewonnen«, sagt der Kommunarde Langhans bei einem Kaffee vergangene Woche in Hamburg, noch immer mit Lockenfrisur und Nickelbrille und zartem Lächeln. Er ist grau geworden, natürlich, und das Lächeln sieht nicht unbedingt nach Triumph aus, sondern es verrät einen großen Zweifel.
Es sieht nämlich ganz danach aus, als habe sich die Kommune 1 totgesiegt mit ihrem Postulat sofortiger Bedürfnisbefriedigung und elastischer Beziehungsgeflechte. Langhans und Co. haben die strengen Väter, die patriarchalischen Familienverbände auf breiter Front ersetzt, doch was aus ihren Neigungsfamilien wurde, ist bekannt: Sie zerfielen. Die Kommunarden, die den großen Truppenverband leben wollten, wurden zu Einzelkämpfern.
Die einen gingen nach Poona, die anderen in die Verweigerung, wieder andere wurden Terroristen und ließen ihre Kinder im Stich. Und die Familien zerfielen weiter und weiter, denn in Gesellschaften, in denen nur noch Neigungen zählen, sind langfristige Bindungen kaum noch möglich.
Die Gesellschaft atomisiert sich. Familie aber braucht vor allem eines: Langfristigkeit, denn nur sie garantiert das Urvertrauen in den anderen.
In der modernen deutschen Scheidungsgesellschaft lässt sich dieses wesentliche Bindungskapital kaum noch generieren. Wo alle Optionen immer gleichzeitig offenzubleiben haben, schafft es überhaupt nur noch jede zweite Großstadtehe zusammenzubleiben, womit eine ganze Menge Scheidungskinder in die Welt kommen, die zunehmend Sozialämter und Schulbehörden beschäftigen.
In der »Minimum«-Welt von heute ist Kindsein verdammt schwer geworden. Vom »Verschwinden der Kindheit« sprach einst der amerikanische Kulturkritiker Neil Postman. In einer entzauberten Welt erwachsener Verantwortlichkeiten könne die Kindheit nicht überleben.
Mehr als 20 Jahre später wirkt die Welt, die Postman schilderte, geradezu idyllisch. In der heutigen Scheidungsgesellschaft kommt das Kind immer öfter nur als Unterhaltsrisiko oder als Wirtschaftsgeisel vor. Bisher konnte sich der Staat noch als alimentierender Ersatzvater für alleinerziehende Mütter anbieten, doch auch diese Option wird zunehmend verbaut werden.
Scheidungskinder, das ist statistisch belegbar, sind lernschwächer, kontaktärmer, neigen öfter zu Drogenkonsum und kriminellen Delikten. Und da die meisten ohne ihren Vater aufwachsen, sind sie ohne Rollenmodelle und suchen sich diese auf der Straße. Die vaterlose Gesellschaft, das Sehnsuchtsziel der 68er, ist in Wahrheit eine der Verwahrlosung in beide Richtungen: in die hochspezialisierte Überforderung und in die soziale Verrohung.
Und längst haben die staatlich angestellten Sozialingenieure kapituliert. Jahrelang hatten sie versucht, sich den Zerfall der Familien schönzureden. Im Dezember 1997 noch brachte das Magazin »Familie & Co.« einen Artikel über Alleinerziehende. Dort, wo man Werbung für das eigene Titelprogramm vermuten würde, nämlich für die Familie, war Erstaunliches zu lesen. »Mutter und Kind(er) eine Familie? Und was ist mit dem Vater? Fehlt da nicht etwas? Wir meinen: nein!«
Denn: »Kinder ohne Väter werden selbständig, selbstbewusst und lebenstüchtig - sofern sie in einem liebevollen Umfeld mit einer Mutter aufwachsen, die ihre Situation als positive Herausforderung betrachtet.«
Mit Recht wunderte sich da der Laie. Das war, als würde man in der »ADAC-Motorwelt« lesen: »Braucht man für ein Auto die linken und die rechten Reifen? Wir meinen: nein! Die linken genügen. Hauptsache ist, dass die Situation als positive Herausforderung empfunden wird.«
Knapp zehn Jahre später ist es deutlich kälter geworden im Land, und der Weg, den die »Minimum«-Gesellschaft nun vor sich liegen sieht, ist steinig. Er führt durch unbekanntes Gelände. Kein schöner Anblick, weder für Erwachsene noch für Kinder. Doch noch immer hält unsere Gesellschaft reichlich Narkoseangebote bereit. All die TV-Ersatzfamilien sorgen dafür, dass wir uns nicht allein fühlen, auch wenn wir es sind: Wir haben Geschwister, Eltern, Kinder, wenn auch nur virtuelle.
Oft sind dabei die im Fernsehen gezeigten Vorbildfamilien die einzigen, die noch halbwegs alle Tassen im Schrank haben. Die Rollenbilder in der Wirklichkeit, etwa die der Popwelt, sind da um einiges schriller. Madonna, die Ikone der modernen Frau, turnte vor, dass Väter zur Aufzucht von Kindern zunächst einmal nicht mehr erforderlich sind - sie ließ sich ihr erstes Kind von einem Fitness-Coach zeugen, der mit einem siebenstelligen Dollarbetrag abgefunden wurde.
Michael Jackson machte es umgekehrt. Er bezahlte eine Leihmutter für seine Babys. Eines davon hielt er aus dem Fenster des Hotels Adlon, wie eine Barbiepuppe: Kinder als Spielzeug, als unverzichtbare Accessoires für Leute, die schon alles haben.
Auch da, wo es schließlich zu Familien kommt im Showbusiness, kann man nur mitleiden mit den Knirpsen. Da ist dann die Familie nur noch eine Karikatur von neureichen Aufsteigern, etwa die von Ex-Spice-Girl Victoria und Fußballer David Beckham, die ihren Kindern auf ihrem Anwesen in der Grafschaft Hertfordshire eine eigene Ritterburg mit angeschlossenem Spielhaus errichteten.
Als Taufpaten übrigens, also als spirituelle Vorbilder und Begleiter für ihre Kinder, hatten die beiden überdrehten Glitterati
die nicht minder überdrehten alternden Showdiven Elton John und Liz Hurley verpflichtet.
Was sollen die nun den Kindern beibringen? Kosmetiktipps? Und: Wie schafft man es, sich da nicht schiefzulachen?
So produziert man Freaks. Und jede Menge dekadenten Stoff für die Predigten der Imame dieser Welt, für alle islamischen Familienoberhäupter. Eine eigene Ritterburg! Und nachmittags? Und das sind noch die, denen es gut geht.
Was aber ist mit den anderen? Was ist mit einem wie Michael, der aus Berlin-Zehlendorf kommt und im Dschungel Neuköllns gelandet ist, wo er ums Überleben kämpft? Michaels sozialer Abstieg geht rasend schnell - er dauert nur einen Filmschnitt lang. Michael ist die Hauptfigur aus Detlev Bucks neuem Sozialkrimi »Knallhart«, der diese Woche in die Kinos kommt.
Er beginnt mit einer geradezu typischen Szene unserer »Neigungsgesellschaft«. Miriam, um die 30, wird mit ihrem 15-jährigen Sohn von ihrem reichen Freund, einem Dr. Peters, auf die Straße gesetzt. Warum? Er hat die Nase voll von ihr. Miriams bisheriges Leben verlief genauso: immer wieder Trennungen, mal ging sie, mal der andere, nachdem sie eine Weile Spaß hatten. Sie war 15, als sie Michael bekam.
Nun ändert sich ihr Leben wieder einmal, von einem Tag auf den anderen. Von einer Luxusvilla im vornehmen Berliner Stadtteil Zehlendorf in eine gammelige Sozialwohnung im Ghettokiez Neukölln, einem der ärmsten Viertel Deutschlands und notorischen Spitzenreiter in Gewaltstatistiken.
Die Patchworkfamilie, in der teure Geschenke fehlende Zuneigung ersetzten, verwandelt sich so in eine Bedarfsgemeinschaft nach Hartz IV: eine alleinstehende Arbeitslose mit minderjährigem Sohn.
Das ist zu wenig Familie für Neukölln, wo, in Bucks Film genauso wie in der rauen Wirklichkeit, türkische und arabische Jugendbanden durch die Straßen ziehen und jeden terrorisieren, der vermeintlich schwächer ist als sie selbst. Auch Michael wird gleich am ersten Tag in der neuen Umgebung zusammengeschlagen und »abgezogen": Die jugendlichen Täter rauben ihm die Schuhe und fordern eine Art Schutzgeld, 50 Euro.
Michael unterläuft ein fast tödlicher Fehler. Er redet mit der Polizei. Dafür wird er ein weiteres Mal verprügelt, denn diese Gesellschaft hier unten, die Parallelgesellschaft, regelt Konflikte unter sich. Sie hat ihre eigenen Gesetze, ihre eigenen Machtzentren. Michael wird gefesselt, dann wird ihm ein Eimer über den Kopf gestülpt. Und dann drischt einer mit dem Baseballschläger darauf ein.
Bucks Film riskiert Blicke nicht nur in den sozialen Abgrund, sondern in eine fremde Welt. In manchen Gegenden Neuköllns wird nur Türkisch gesprochen. Die Familien sind um Patriarchen herum organisiert, Frauen sind meist verschleiert und bleiben zu Hause. Junge heiratsfähige Frauen lässt man über die großen Verwandtschaftsnetzwerke aus der Heimat kommen. Sie werden nicht Deutsch sprechen und müssen es auch nicht. Es ist schließlich für alles gesorgt: für Geburten, Ehen, Nachkommenschaft, Erben. Es ist ein autarker alter Kosmos in der neuen Welt. Und er bindet.
»Für mich ist das auch ein Film über Familie«, sagt Regisseur Buck. »Ein Jugendlicher aus einer arabischen Familie kriegt vielleicht nicht auf die Fresse, weil die 200 Mitglieder hat, aber der Sohn einer alleinerziehenden Mutter natürlich.«
Bucks Filmheld Michael verkriecht sich gedemütigt bei zwei neuen Freunden, deren Eltern nirgendwo zu sehen sind. Auf seine Art findet auch er Beschäftigung. Er verdingt sich als Kurier eines mächtigen arabischen Drogendealers, der ihn vor Erol, dem brutalen Anführer der Türkengang, beschützt.
Selbst Erol, »ein menschlicher Pitbull im Ballonseidentrainingsanzug« und »Alptraum aller Integrationsbeauftragten« ("Die Zeit"), hat, obwohl offenbar noch schulpflichtig, bereits eine eigene Familie: In einer Szene pöbelt ihn seine Freundin
an, er solle endlich auch mal einkaufen gehen, in einer anderen schiebt er einen Kinderwagen mit Zwillingen. Als er damit hilflos vor einer Treppe steht, hilft ihm ausgerechnet sein Opfer Michael beim Tragen.
Hinter den Kulissen bekam Buck den Zusammenhalt ausländischer Großfamilien zu spüren. »Gut, dass du mich engagiert hast«, sagte ihm der in Beirut geborene Schauspieler Kida Khodr Ramadan, der in »Knallhart« einen Dealer spielt. Jetzt kämen »300 Zuschauer mehr": Ramadans ganze Familie.
Bucks eigene Familie ist etwas kleiner: Mit seiner Lebensgefährtin hat er drei Töchter, 4, 6 und 18 Jahre alt. Als sich das erste Kind ankündigte, studierte Buck noch, »ausgerechnet Film, also nichts Solides«. Offenbar jedoch gehört er nicht zu den überängstlichen Typen. »Irgendwann war das Kind halt da«, sagt der Regisseur. Er habe nie große Lebenspläne geschmiedet, doch seine Partnerin habe ihm immer versichert: »Wir kriegen das hin.«
Heute wohnt die Familie auf dem Land in Schleswig-Holstein, Buck selbst hat auch eine Wohnung in Berlin und Büros in Berlin und Hamburg. Es ist ein Zigeunerleben. »Ich sitze oft im Zug«, sagt Buck. Dennoch, die Familie hält zusammen, gibt Kraft.
Im Sommer will der Regisseur einen Kinderfilm drehen, »Hände weg von Mississippi«, nach einem Roman der Bestsellerautorin Cornelia Funke. Seine Töchter hätten ihn darauf gebracht, die außerdem große Fans der »Kinder aus Bullerbü« seien. Astrid Lindgren beschwor in diesen Geschichten eine schwedische Landidylle voller intakter Familien, vieler Kinder, vieler Tiere.
Kinder haben eben, was unsere bindungsschwache Neigungsgesellschaft angeht, einen extravaganten Geschmack.
Sie wollen Familie. So groß wie möglich.
Zunehmend schauen die politischen Häuptlinge genauer hin, ins Tal, auf diesen unendlichen Treck, der da der untergehenden Sonne entgegenzieht, und sie verschließen die Augen nicht mehr vor der Tatsache, dass da immer mehr Ältere und Gebrechliche sind und dazwischen ein paar jüngere Stärkere und immer weniger Kinder.
Noch zu seinem Regierungsbeginn hatte der damalige Kanzler Gerhard Schröder Familienpolitik als »Gedöns« bezeichnet. Nun, nach Ende seiner Amtszeit, kann er nicht verstehen, »warum wir in den letzten 40 Jahren dieses Problem ignoriert haben«.
Familie scheint auch bei der SPD nicht mehr die repressive bürgerliche Hölle zu sein, die »aufgeknackt« werden muss, sondern ein durchaus wünschenswerter Zustand, besonders dort, wo der Staat seine Versorgungsversprechungen nicht mehr halten kann. Familien, in denen Kinder großgezogen werden, Familien auch, die ihre Alten pflegen.
Kinder braucht das Land! Kinder sind plötzlich ein populäres Argument. Und da ist der nächste Missbrauchsfall nicht weit - der politische. Man hat sich daran gewöhnt, wenn im Wahlkampf Kinderköpfe getätschelt werden. Jetzt macht man Tarifpolitik mit ihnen. Die Gewerkschaft Ver.di brachte es fertig, ihren Kampf für Arbeitszeitverkürzung mit dem Motto »18 Minuten mehr für Papi« zu verkaufen.
Nun versuchen alle Parteien gleichzeitig, Familienpolitik zu betreiben, und es ist durchaus ermutigend, dass es eine CDU-Familienministerin gibt, die sieben Kinder hat und trotzdem Beifall von all diesen kinderlosen 35-jährigen Medientanten und Medienonkels bekommt, die bislang das Hohelied auf die grenzenlose Entfaltung der immer nur eigenen Persönlichkeit sangen.
Der einzige Haken dabei: Sie ist Superfrau. Sie hat Kinder mit Lämmern vor Bücherregalen. Wer hat das schon? Wer ist Minister und kann sieben Kinder aufziehen, Schularbeiten kontrollieren, Fieber messen? Lebt die im Kino? Sie lebt auf alle Fälle ein unerreichbares Modell vor, lächelnd. Sie ist die personifizierte Überforderung.
Doch es geht nur über Leitbilder, unter denen die CDU-Ministerin ein sichtlich sympathisches ist. Auch sie hat bereits erfahren, dass die Steuerungsmöglichkeiten der Politik begrenzt sind. Sowieso. Sonst würde Deutschland demografisch im internationalen Vergleich nicht hinterherhinken, obwohl es eine vergleichsweise sehr hohe Familienförderquote hat.
In den USA gibt es kaum Förderung. Trotzdem ist hier die Nachwuchsquote eine der höchsten der Industrienationen. Besonders geburtenstark ist der religiöse Mittelwesten - offenbar ist das Gottvertrauen eine wirkungsvollere Stimulanz als hundert Euro mehr im Monat.
Tatsächlich: Wer lässt sich schon wegen eines größeren Steuerfreibetrags auf das Abenteuer Kind ein? Wichtiger sind da die gezielte Investition in Kindertagesstätten und Ganztagsschulen, die sicher mit für die Geburtenquote im Nachbarland Frankreich verantwortlich ist.
Viel mehr als bisher, so »Minimum«-Autor Schirrmacher in einem Ausblick auf die Zukunft, wird es auf die Frauen ankommen. Es sind die Frauen, die die Kinder in die Welt setzen. Gleichzeitig sind es hochqualifizierte Frauen, ohne die auch der Arbeitsmarkt nicht auskommen wird. Frauen werden gebraucht als sozialer Kitt, als Organisatoren und einfach als widerstandsfähigeres Geschlecht - auf der Katastrophenreise des Donner-Trecks, der auf dem eisigen Pass strandete, waren es die Frauen, die das Überleben organisierten.
Und es waren die Frauen, die Erfolg damit hatten, weil sie die Gabe der Selbstlosigkeit und Aufopferungsfähigkeit besaßen. Sie sind es wahrscheinlich auch, die unseren Kindern Mut machen könnten, selbst wieder Kinder in die Welt zu setzen.
ANGELA GATTERBURG, MATTHIAS MATUSSEK,
MARTIN WOLF
* Frank Schirrmacher: »Minimum«. Karl Blessing Verlag, München; 192 Seiten; 16 Euro.