TÜRKEI Untergang des Morgenlandes
Istanbul und Ankara sind wie Antipoden: Die Weltstadt am Bosporus ist zwar nicht Hauptstadt, dafür aber das schillernde Schaufenster der Türkei. Ankara ist der Regierungssitz, im Herzen des bäuerlichen Hochlandes gelegen, doch trotz mancher Modernisierung bei weitem keine mondäne Metropole. Selten wurde das so deutlich wie am 1. Mai, dem Tag der Arbeit und der roten Fahnen.
Istanbuls Innenstadt versank im Tränengasnebel - Ankara verneigte sich würdevoll vor der ruhmreichen Vergangenheit.
In Istanbul ging die Polizei mit Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen Tausende Demonstranten vor - während vor dem Mausoleum des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk in Ankara eine Delegation des Staatsfernsehens in andächtiger Stille einen Kranz niederlegte.
Über dem Taksim-Platz in Istanbul kreisten und knatterten ohrenbetäubend Hubschrauber - 350 Kilometer weiter östlich strahlte der Himmel, salutierten Paradesoldaten, hallten Trompetenklänge.
Das türkische Doppelbild an diesem Tag ist kein Zufall: Die pompöse Gedenkstätte im Zentrum der Hauptstadt Ankara war ganz der Ort, um ein wenig die Turbulenzen der Tagespolitik zu verdrängen und zu vergessen. Die brachen sich im wilden Istanbul umso ungestümer Bahn. Hier tobte eine der gewalttätigsten Straßenschlachten der letzten Jahre.
Was ist los in diesem Land? Seit Wochen lähmt ein ominöser Verbotsantrag gegen die Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan das politische Leben. Scheinbar unversöhnlich stehen sich die Anhänger seiner islamischkonservativen AKP und säkulare Kemalisten in Justiz und Militär gegenüber.
Zudem führt die Armee noch immer Krieg gegen die Milizen der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK, nach ihrem Rückzug aus dem Nordirak jetzt vor allem im Inneren, und das bei gleichzeitig wachsender Unzufriedenheit der kurdischen Bevölkerung.
Schließlich verschärfen sich, nicht erst seit vorigem Donnerstag, die Proteste wütender Arbeitnehmer gegen die Erdogan-Regierung. Weil sie auf Druck des Internationalen Währungsfonds herbe soziale Einschnitte beschlossen hatte, wächst der Frust von Arbeitern und Beamten. »Ich habe Angst«, hat der sonst notorisch gut- gelaunte Fernsehmoderator Mehmet Ali Birand die Stimmung vor Millionen Zuschauern auf den Punkt gebracht. »Ich glaube zum ersten Mal, dass die Türkei in Gefahr ist, sich wirklich zu spalten.«
Inzwischen geht es nicht mehr allein um zwei sich feindlich gegenüberstehende Weltanschauungen, nämlich um eine streng säkulare und um eine reichlich fromme. Es stehen sich auch zwei ökonomische Lager gegenüber: das kemalistische Establishment, das um seine Privilegien fürchtet, und jene konservativen Muslime, die auch ohne Hilfe des Staates zu Geld gekommen sind und mehr Teilhabe an der Macht verlangen.
Ein drittes Lager kommt hinzu, das signalisiert die Wucht der Mai-Ausschreitungen. Es ist die enttäuschte Schicht der Arbeiter, die schon vergessen geglaubte türkische Linke.
Tufan Türenç, Kolumnist der Tageszeitung »Hürriyet«, hält diese Entwicklung für wünschenswert. Seiner Meinung nach wäre sie sogar ein Glücksfall für die türkische Demokratie: »Große Teile der Gewerkschaften haben sich bei den letzten Wahlen noch an die AKP gehalten. Doch gerade unter Erdogans wirtschaftsliberaler Agenda haben sich die sozialen Unterschiede verschärft.« Mit den Linken und Liberalen, glaubt Türenç, könne »der politische Wettbewerb wieder spannend werden«.
Indes, es fehlt ihnen an Führung. Die Linke hat kein Personal mit Charisma. Und so hat bislang immer die kemalistische Republikanische Volkspartei CHP mit einigem Erfolg für sich in Anspruch genommen, die Interessen der Lohnabhängigen zu vertreten. Niemand Geringeres als Übervater Atatürk persönlich hat sie 1923 gegründet.
Vor einer Woche erst wurde der Jurist Deniz Baykal, 69, als CHP-Vorsitzender wiedergewählt. Die Presse beschreibt ihn mal als farblos, mal als populistisch, und seinen letzten Wahlkampf hat er ganz auf die angebliche Gefahr eines Gottesstaates, auf die schleichende Islamisierung der Türkei ausgerichtet.
Von Sozialpolitik, Bildungsgerechtigkeit und anderen linken Themen findet sich bei der CHP kaum eine Spur. »Die Partei wird aus historischen und kulturellen Gründen gewählt«, glaubt der Sozialwissenschaftler Sencer Ayata. »Sie verteidigt am glaubhaftesten die Republik und die laizistischen Werte.«
Dennoch ist sie weiterhin Mitglied der Sozialistischen Internationalen. Sie selbst definiert sich als »selbstverständlich sozialdemokratisch« - und vor allem als die europäischste aller türkischen Parteien.
»Wir waren es, die den Weg nach Westen geebnet haben«, sagt ihr Vizechef Onur Öymen, 67. »Vertritt ein Mann wie Erdogan etwa europäische Werte? Jemand, der glaubt, dass ein Mörder nach islamischem Recht von der Opferfamilie begnadigt werden könnte?«
Er werde nicht müde, sagt Öymen, seinen Freunden in Europa zu erklären, wie wichtig der Laizismus vor ihrer Haustür sei. Und dass es keine »gemäßigten Islamisten« gebe - denn »wer an den Koran glaubt, glaubt nicht halb daran, sondern voll und ganz«.
Dass die Europäische Union die Dinge etwas anders sieht und Erdogans Experiment für gelungen hält, die gläubige Gesellschaft und den weltlichen Staat miteinander zu versöhnen, kränkt die CHP-Führer. Dabei ist das Verhältnis zwischen Brüssel und der Traditionspartei ohnehin belastet.
Im Falle eines juristischen Verbots der AKP, über das die säkulare Fraktion jubeln würde, drohte EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn bereits mit dem Abbruch der Beitrittsgespräche. Und dass sich die Kemalisten bis zuletzt dagegen wehrten, den berüchtigten Strafrechtsparagrafen 301 zu verändern, der die »Beleidigung des Türkentums« unter Strafe stellte, stärkt auch nicht eben das Vertrauen der Europäer.
Nach jahrelanger Kritik aus Brüssel hatte die Erdogan-Regierung das Gesetz vergangene Woche endlich abgeschwächt. Vor allem Journalisten und Schriftsteller wurden immer wieder vor Gericht gezerrt, weil sie Tabuthemen wie die Armenier- und Kurdenverfolgung antasteten. Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk gehörte ebenso dazu wie der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink, der 2007 in Istanbul ermordet wurde.
Künftig soll nur noch die Verunglimpfung der »türkischen Nation« geahndet und das Strafmaß von maximal drei auf zwei Jahre gesenkt werden. Für Menschenrechtler ist das kaum mehr als Kosmetik, doch die nationalistischen Oppositionsparteien sahen schon den Untergang des Morgenlandes heraufziehen: Der Beleidigung des türkischen Staates werde nun Tür und Tor geöffnet, schimpften Abgeordnete der CHP und ihrer ultrarechten Verbündeten.
Wie weit sich die so eindrücklich erwachte Linke ins politische Tagesgeschäft einbringen kann, ist allerdings noch nicht abzusehen.
Dass in Istanbul am 1. Mai der Ausnahmezustand herrschte, dass Touristen das beklemmende Gefühl hatten, mitten in einen »Krieg« geraten zu sein, zeugt aber von einer Enttäuschung und einem Frust, den die etablierten Parteien womöglich nicht mehr lange kanalisieren können, schon gar nicht mit Verboten oder mit Gewalt.
Die drei Gewerkschaftsdachverbände Disk, Türk Is und Kesk durften am Tag der Arbeit nicht in Istanbul demonstrieren. Ein martialisches Polizeiaufgebot verhinderte ihre Versuche, Aufmärsche zu formieren. Mit Tränengas rückte sie sogar bis in ein Gewerkschaftsgebäude vor.
Das war selbst der wenig gewerkschaftsfreundlichen CHP zu viel. Der Abgeordnete Ali Özpolat empörte sich: »So kann man nicht mit Menschen umgehen.« DANIEL STEINVORTH