»Unterlagen, die den Weltfrieden gefährden«
Auf dem Weg nach München, kurz vor Nürnberg, hörte der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, 66, am Donnerstag vorletzter Woche im Autoradio einen uralten Vorwurf: Er werde beschuldigt, ein Stasi-Offizier im besonderen Einsatz (OibE) gewesen zu sein.
Vogel, seit Jahren mit Anwürfen dieser Art vertraut, reagierte sofort: »Ich rief den Chef der Bild-Zeitung an und ließ ein Dementi veröffentlichen.« Dann fuhr er nach Berlin zurück. Einen Tag später nahm ihn die Berliner Justiz wegen Fluchtgefahr fest - am Freitag, dem 13.
Grund des amtlichen Eifers war nicht nur der alte Vorwurf, Vogel habe ausreisewillige DDR-Bürger zum Verkauf ihrer Häuser und Grundstücke genötigt. Auch das Gerücht, er sei ein OibE des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gewesen, spielte, so Berlins Generalstaatsanwalt Dieter Neumann, »überhaupt keine Rolle«.
So plötzlich aktiv wurden die Strafverfolger vielmehr aufgrund von Aussagen des ehemaligen Ost-Berliner Militärstaatsanwalts Frank Michalak, 44, und einer bislang unbekannten »MfS-Akte ,Georg''«, wie es im Haftbefehl heißt. Die erhielt die Staatsanwaltschaft, als sie bei der Behörde des Stasi-Akten-Verwalters Joachim Gauck Unterlagen über Anwalt Vogel anforderte.
Die verstaubten Dokumente aus den fünfziger Jahren, die ein Suchtrupp der Gauck-Behörde im MfS-Archiv gefunden hat, belasten den Anwalt nach Meinung der Staatsanwälte schwer. Die Papiere belegen angeblich, daß *___Vogel bereits in den fünfziger Jahren unter dem ____Decknamen »Georg« Mitarbeiter des MfS gewesen sei; *___die Stasi seine Karriere vom Justizbeamten zum freien ____Anwalt mit Zulassung für Ost- und West-Berlin geplant ____und organisiert habe; *___die Kanzlei des auch in Bonn hochgeschätzten Advokaten ____nicht einem Organ der Rechtspflege gehört habe, sondern ____faktisch eine Außenstelle des MfS gewesen sei.
In Bonn wie in Berlin lösten die staatsanwaltschaftlichen Aktivitäten letzte Woche tiefe Irritation aus: War Vogel, der 31 775 Häftlingen und mindestens 250 000 weiteren DDR-Deutschen zu Freiheit und Ausreise verhalf, womöglich zu Unrecht als ehrlicher Makler eingeschätzt worden? Oder bahnt sich »ein Skandal für den Rechtsstaat« an, wie Vogels Anwältin Friederike Schulenburg behauptet?
Für eine Festnahme Vogels, soviel ist sicher, hätten die jetzt aufgetauchten Stasi-Dokumente nicht ausgereicht - MfS-Mitarbeit wäre kein Straftatbestand. Erst in Verbindung mit den Strafanzeigen ehemaliger Klienten, die sich von ihm um Haus und Hof geprellt fühlen, wurde Vogels Lage juristisch heikel.
Denn nun geriet die Vogel vorgeworfene MfS-Tätigkeit zu einem Indiz für den Verdacht, er habe Mandanten vorsätzlich ausgeplündert, »um dadurch Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit bzw. andere Begünstigte des Regimes mit Grundstücken bzw. Häusern zu versorgen« (Haftbefehl).
Den Verdacht, nicht nur der angehende, sondern auch der praktizierende Anwalt Vogel habe im Dienste der Stasi gestanden, weckte eine Aussage des Ex-Staatsanwalts Michalak. Der hatte zu Protokoll gegeben, der Stasi-Mitarbeiter »Georg« habe für seine langjährige Tätigkeit von der Stasi mindestens 1,5 Millionen West- und 2,5 Millionen Ost-Mark kassiert.
Nach dieser Vernehmung sah Haftrichterin Reisiger vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten Gefahr im Verzug: Wenn die neue Beweislage publik werde, sei damit zu rechnen, daß sich Vogel, wie zuvor sein Berufskollege Jürgen Wetzenstein-Ollenschläger, ins Ausland absetze. Geld genug habe er.
Richtig ist, daß Vogel im Westen wie im Osten gut verdient hat; manchem galt er als der reichste Mann der DDR. Bonn zahlte dem Ost-Berliner Anwalt für humanitäre Fragen zuletzt eine Jahres-Pauschale von etwa 320 000 D-Mark. Hinzu kamen stattliche Einkünfte durch den juristischen Beistand für DDR-Häftlinge - bis zu einer Million D-Mark jährlich, alles steuerfrei.
Ein zweiter Richter, Walter Jentsch, bestätigte vorletzte Woche den Haftbefehl, nachdem er die Argumente der Ankläger geprüft und Michalak vereidigt hatte. Der ehemalige Militärstaatsanwalt war durch Zufall an die Informationen über »Georg« gekommen.
Als Michalak am 12. Dezember 1989 in der Ost-Berliner Normannenstraße die Diensträume des Stasi-Ministers Erich Mielke zu versiegeln hatte, stieß er in einem Nebenzimmer auf einen Plastiksack voller Akten. »Hier gibt es Unterlagen, die den Weltfrieden gefährden«, warnte ihn in Gegenwart von Zeugen ein hoher MfS-Offizier.
Daraufhin habe er, berichtet Michalak, die Akten eingepackt und in einer verplombten Blechkiste in sein Dienstzimmer nach Berlin-Hohenschönhausen gebracht.
Erst Wochen später, Mitte Januar 1990, nachdem die Stasi-Zentrale gestürmt worden war, will Michalak auf Weisung seines Vorgesetzten Oberst Karlheinz Bösel das Material in der Kiste gesichtet haben: nicht nur Dokumente über den DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski, sondern auch über einen Stasi-Mitarbeiter »Georg«, bei dem es sich, wie Michalak beeidete, um Rechtsanwalt Vogel gehandelt habe. _(* Am Montag vergangener Woche. )
Zwar erinnere er sich nicht mehr an eine Verpflichtungserklärung oder an Berichte des MfS-Mitarbeiters, aber aus dem Zusammenhang verschiedener Dokumente mit Vogels Klarnamen sei die Akte einfach zu entschlüsseln gewesen.
»Aufgeregt und empört«, so ein Kollege, weihte er damals seinen Vorgesetzten Bösel ein: Vogel habe unter dem Decknamen »Georg« gearbeitet und dafür »vier Millionen bekommen«.
Die Strafverfolger in der Generalstaatsanwaltschaft waren sich sofort der Bedeutung der Dokumente bewußt. Nur ein kleiner Kreis erhielt von dem Vorgang Kenntnis, darunter - neben Bösel - Behörden-Chef Hans-Jürgen Joseph und dessen Stellvertreter Günter Seidel und Lothar Reuter.
Aber niemand von den angeblich Eingeweihten will sich heute noch an diesen Teil der Akte »Georg« erinnern, der offensichtlich im MfS bereits zur Vernichtung vorgesehen war. Nachdem die Papiere in die Hände der Staatsanwälte gelangt waren, verschwanden sie spurlos - im Gegensatz zu den archivierten Vorgängen aus den fünfziger Jahren, die sich in der Gauck-Behörde fanden.
»Ich kenne solche Akten nicht«, erklärt Ex-Generalstaatsanwalt Joseph zu dem Michalak-Fund. »Ich habe mich nie dafür interessiert«, behauptet nun in Leipzig Josephs damaliger Stellvertreter Reuter. Bösel, immerhin, will nicht ausschließen, daß es die »Georg«-Akten gab.
Michalak selber hätte den Vorgang nur zu gern vergessen; er fühlte sich monatelang bedroht. Einer seiner Freunde erklärte dem SPIEGEL, der Ex-Staatsanwalt habe ihm eröffnet: »Ich möchte nicht plötzlich einen Unfall haben.«
Zuerst wollte Michalak gegenüber seinen Vernehmern gar nichts sagen. Auch als die Staatsanwälte der Berliner Arbeitsgruppe »Regierungskriminalität« ihm das von ihm selber am 12. Dezember 1989 gefertigte und unterschriebene »Übernahmeprotokoll« zeigten, verweigerte er die Aussage.
Dann verlangte er eine Aussagegenehmigung des Generalbundesanwalts und verwies auf »erhebliche Sicherheitsinteressen der BRD«. Erst als die Strafverfolger ihm mit Beugehaft drohten, wurde er gesprächig.
Vogel erklärte letzte Woche, er sehe sich durch die Michalak-Aussagen »verleumdet«. Seine Verteidigerin Schulenburg sprach von einem »Racheakt": Es sei unerhört, wenn »jemand, der früher Unschuldige eingesperrt hat, jetzt als Kronzeuge gegen einen Mann fungiert, der Hunderttausenden zur Freiheit verhalf«.
Mit dem Zeugen Michalak, so Vogel vor dem Haftrichter, habe er einst ständig Auseinandersetzungen gehabt, als der noch Militärstaatsanwalt in der MfS-Untersuchungsabteilung gewesen sei. Vogel will zehn Geheimprozesse dieser Abteilung aufgedeckt und dem Stasi-Minister Mielke gemeldet haben; daraufhin habe der MfS-Chef die Freilassung der betroffenen Häftlinge verfügt. Die Korrespondenz mit Mielke befinde sich bei den beschlagnahmten Unterlagen.
Michalak bestreitet diese Darstellung. Er habe, versichert er, vor der Wende »weder dienstlich noch privat jemals etwas mit Vogel zu tun gehabt«. Im übrigen sei er gar nicht in der MfS-Untersuchungsabteilung gewesen.
Irritierend, aber letztlich nicht schlüssig ist die auf ein einziges Dokument gestützte Annahme, »Georg« sei gar nicht Vogel gewesen, sondern der schwedische Ost-West-Vermittler Carl-Gustaf Svingel (siehe Seite 88).
Zwar existiert ein Bericht eines »Geheimen Mitarbeiters« (GM) »Georg«, in dem ein Gespräch wiedergegeben wird, das »am 11. 6. 1968 in der Zeit zwischen 21.00 und 1.00 Uhr« zwischen diesem »Georg« und dem damaligen Gesamtdeutschen Minister Herbert Wehner (SPD) stattfand. Darin ging es unter anderem um die Freilassung des Pullacher Agenten Heinz Felfe.
An diesem Tag war nicht Vogel, sondern Svingel bei dem Minister. Aber Vogels Schlußfolgerung, er selber könne schon aus diesem Grund nicht »Georg« sein, ist nicht zwingend: Über sein Gespräch bei Wehner hat Svingel detailliert seinem Mit-Unterhändler Vogel und dessen Stasi-Partner Heinz Volpert berichtet.
Die alten »Georg«-Unterlagen aus dem Gauck-Archiv, die den Staatsanwälten vorliegen, beschreiben detailliert, wie ein Jurist aus dem DDR-Ministerium für Justiz in den frühen fünfziger Jahren von der Stasi zielgerichtet zum freien Anwalt aufgebaut wurde - nach Ansicht der Staatsanwälte bezieht sich diese MfS-Akte eindeutig auf Vogel.
Sie beginnt 1954 und endet 1957 mit Hinweisen, daß auf »Georg« neue Aufgaben warteten. 1957 erhielt Vogel seine Anwaltszulassung in West-Berlin. Und aus der gleichen Zeit datieren die ersten Eintragungen der neuen Akte, die Michalak vorlag.
Der Stasi-Offizier Volpert war in Mielkes Apparat über drei Jahrzehnte lang, bis zu seinem Tode, Vogels engster Vertrauter - als dessen Partner beim »Verkauf _(* Auf der Glienicker Brücke in Berlin ) _(1985. ) von Menschen«, wie ein ehemaliger Mitarbeiter des MfS dem Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im Juni 1991 berichtete.
Volpert stieg in Mielkes Ministerium zum »Offizier für Sonderaufgaben« auf, der dem Chef direkt unterstellt war. Und auch das KoKo-Imperium Schalcks war offenbar seine Erfindung.
Volpert, so berichtete Mielkes langjähriger Büroleiter Hans Carlsohn vorletzte Woche dem Untersuchungsausschuß des Parlaments, sei der Führungsoffizier des OibE Schalck gewesen und habe diesen erst mit Mielke zusammengebracht. Seit 1983, so Carlsohn, sei Schalck von Mielke selbst geführt worden. Mit Vogel teilte Volpert nicht nur die Leidenschaft fürs Skifahren, sondern auch den Sinn fürs Ost-West-Geschäft: Getauscht wurden Agenten gegen Agenten und Häftlinge gegen Devisen oder gegen Ware, zum Beispiel Apfelsinen. Der MfS-Überläufer gab dem Kölner BfV zu Protokoll: _____« Jeder wußte, was man von dem anderen zu halten hatte. » _____« Man verstand sich im Laufe der Zeit auf Zuruf. Vogel war » _____« immer darum bemüht, die Wünsche und Forderungen von » _____« Volpert und dessen »Meister« (MIELKE) zu erfüllen. Die » _____« Zusammenarbeit seitens Vogel war sehr kreativ. Viele » _____« Ideen brachte er ein und berichtete sorgfältigst über » _____« seine Gespräche mit der »anderen Seite«, wer immer das » _____« auch war. Es gab im Laufe der Jahrzehnte verschiedene, » _____« auch spektakuläre und historisch bedeutsame » _____« Austauschverfahren, die alle die Handschrift » _____« VOLPERT/VOGEL trugen: Abel, Powers, Felfe und Guillaume. »
Nach außen hielt sich der MfS-Mann Volpert im Hintergrund. Wenn Vogel zum Häftlings- oder Agentenaustausch über die innerdeutsche Grenze fuhr, spielte Volpert den Fahrer. Bald aber merkten die westdeutschen Verhandlungspartner, daß der Chauffeur der Chef war. »Er war der einzige, der Vogel Weisungen erteilen durfte«, sagt Ministerialrat Klaus Plewa, in den siebziger Jahren im Innerdeutschen Ministerium für Häftlingsfragen zuständig.
Wie vertraut Volpert und Vogel miteinander umgingen, zeigte sich nach Volperts überraschendem Tod 1986. Monatelang beherbergte Vogel die Witwe des Freundes bei sich zu Hause; er beschäftigte sie auch »mit gelegentlichen Übersetzungsarbeiten« (Vogel).
Nachfolger Volperts wurde Generalmajor Gerhard Niebling, Chef der für Ausreisen und Häftlingsfreikäufe zuständigen Zentralen Koordinierungsgruppe im MfS. Niebling, der - ebenso wie die Schwiegereltern seines Stellvertreters Manfred Flader und Vogels Kollege Wetzenstein-Ollenschläger - durch Vermittlung des Anwalts das Haus eines Ausgereisten erwarb, gab Vogel im Juni 1990 schriftlich, »daß er (Vogel) weder offizieller noch inoffizieller Mitarbeiter des MfS war«.
Vogel selber erklärte nach dem Bekanntwerden der Stasi-Verdächtigungen, es sei in Ost-Berlin nie ein Geheimnis gewesen, daß er bei Austausch- und Freikauf-Aktionen mit Volpert und Niebling habe zusammenarbeiten müssen: »Das waren keine grauen Eminenzen, keine dunklen Gestalten.«
Und die Millionenbeträge aus den Stasi-Kassen seien nicht für ihn persönlich, sondern zur Weiterleitung an Dritte bestimmt gewesen - für die Verteidigung von enttarnten DDR-Spionen im Ausland.
Vogel wenige Stunden vor seiner Festnahme über Funktelefon zum SPIEGEL: »Ich habe ein reines Gewissen.«
* Am Montag vergangener Woche.* Auf der Glienicker Brücke in Berlin 1985.