UNTERNEHMEN ARMBRUST
3. Fortsetzung
Ende Januar 1944 schätzten die britischen Stabschefs den vermutlichen Umfang der deutschen Fernoffensive gegen London ein. Sie kamen zu dem Schluß: zehnstündige Angriffe pro Tag. Das Luftfahrtministerium ordnete sofort eine neue Bildaufklärung von Nordfrankreich an.
Die neuen Photos stellten die Auswerter vor schwierige Fragen: Waren die »Ski-Stellen« nach den schweren alliierten Bombenangriffen repariert worden oder nicht? Bauten die Deutschen womöglich Attrappen? Würden sich weitere Angriffe lohnen?
Einige der Stellungen schienen nicht wieder instand gesetzt worden zu sein - andere schienen unter geradezu auffallender Geheimhaltung ausgebessert zu werden. Bauten, die auf den ersten Blick zerstört schienen, erwiesen sich bei näherer Prüfung als geschickt getarnt. Einige der nahezu zerstörten Stellungen waren plötzlich mit Flak ausgerüstet.
Die Alliierten waren ratlos: Sie beschlossen, die Angriffe fortzusetzen.
Am 25. Januar lachte Generalfeldmarschall Milch in Berlin: »Die Angriffe, die dort stattfinden, sind für uns Gold wert. Sonst hätten wir die Bomben anderswo hinbekommen!«
In den Wochen bis zum 12. Juni warfen alliierte Bomber 23 196 Tonnen Bomben auf Stellungen, die von den Deutschen als Abschußplätze für Flugbomben bereits im Januar aufgegeben worden waren.
Am 1. Februar schrieb General Spaatz, Befehlshaber der US-Fliegerverbände in Großbritannien, nach Washington, daß er die »Ski-Stellungen« noch immer für eine raffinierte deutsche Täuschung halte, um den alliierten Bombereinsatz von Vorbereitungsflügen für das Unternehmen »Overlord« (Deckname für die Invasion) abzulenken.
Zur gleichen Zeit präparierten die Deutschen neue Stellungen für die vereinfachten, vorfabrizierten »V 1«-Katapulte.
Anfang 1944 kamen die ersten »A 4« -Raketen vom laufenden Band in Nordhausen. Am ersten Tag des neuen Jahres fuhren die ersten drei Geräte aus dem Tunnel. Die Aufstellung der Werkzeugmaschinen war fast beendet, und etwa 10 000 KZ-Häftlinge und Strafgefangene waren im Mittelwerk an der Arbeit.
Die Sicherheitsmaßnahmen in Nordhausen waren die strengsten im Reich. SS-Sturmbannführer Förschner hatte eine Anweisung erlassen, die den persönlichen Verkehr zwischen den Häftlingen und dem deutschen Personal untersagte. Unter keinen Umständen sollte die Außenwelt erfahren, was in Nordhausen geschah.
Der Transport der Raketen zwischen Nordhausen, Peenemünde und Blizna erfolgte unter den gleichen strengen Sicherheitsmaßnahmen: Die Eisenbahntransporte von zehn bis zwanzig gut verpackten Raketen - paarweise auf Dreiergruppen von Flachwagen verladen, ohne Wagenklebezettel und Beförderungspapiere - wurden streng von besonderen Begleitkommandos bewacht, die sie auf der etwa einwöchigen Fahrt zwar begleiteten, ihre Bestimmung aber nicht kannten.
Das Höhlenwerk bei Nordhausen blieb der alliierten Abwehr tatsächlich unbekannt - bis es Ende August 1944 von einem Kriegsgefangenen verraten wurde.
In der dritten Februarwoche 1944 unternahm die SS den ersten ernsthaften Schritt, die Macht über die Raketenentwicklung in Deutschland zu ergreifen. Reichsführer SS Heinrich Himmler wußte längst, daß Professor Wernher von Braun eine Schlüsselfigur darstellte - er zitierte ihn in sein Feldquartier »Hochwald« und bot ihm an, zur SS überzutreten.
Doch der junge Professor erklärte: Seine Loyalität gelte ausschließlich dem deutschen Heer.
Himmler begriff, daß er zu groberen Mitteln greifen mußte, um von Braun aus dem Weg zu räumen.
Im März schien die Zeit gekommen.
Der SD hatte Agenten und V-Leute ins Personal von Peenemünde geschleust. Sie hatten herausgefunden, daß Dipl.-Ing. Riedel II, Dipl.-Ing. Gröttrup und Professor von Braun öffentlich »Äußerungen über schlechten Kriegsausgang« von sich gegeben hatten; die drei - so hieß es - wollten »ein Weltraumschiff, aber kein Mordinstrument schaffen«.
Jodl notierte über die Wissenschaftler: »Ein edelkommunistisches Nest.«
Am Morgen des 15. März 1944 wurden die drei führenden Experten in Peenemünde verhaftet und ins Stettiner Gestapo-Gefängnis geschafft. Haftgrund: »Sabotage«.
Generalmajor Dornberger sah das gesamte »A 4«-Programm zusammenbrechen und sprach bei Himmler vor doch der Reichsführer SS war nicht zu sprechen, er lag noch zu Bett.
Nach 14 Tagen gelang es Dornberger schließlich, eine einstweilige Freilassung der Wissenschaftler durchzusetzen.
Ob die Sicherheitsbehörden Grund hatten, die drei zu verhaften, ist schwer zu entscheiden. Da Wernher von Brauns Träume sich gewiß mehr auf den Mond und die Sterne als auf ein Ziel »1000 Meter ostwärts des Waterloo-Bahnhofs« in London richteten, hatte er möglicherweise tatsächlich vergessen, daß das deutsche OKH nicht Milliarden von Reichsmark für die Erforschung des Weltraums ausgeben wollte.
In den ersten Februartagen erörterten die Amerikaner den Plan, eine umfangreiche Gewaltaufklärung der französischen Küste an Ort und Stelle durchzuführen. Der Vorschlag wurde aufgegeben. Statt dessen prüften die britischen Stabschefs am 8. Februar einen Vorschlag des Kommandos für Sondereinsätze, Spezialeinheiten in Frankreich an Land zu setzen, um technisches Personal von den »Ski-Stellen« zu entführen. Andere rieten dazu, Fachleute von den großen Bunkern zu ergreifen.
Keiner dieser Pläne wurde in seiner ursprünglichen Form verwirklicht, doch wurden zahlreiche Kommando-Unternehmen in kleinerem Umfang durchgeführt. Die britische Abwehr setzte an mehreren Punkten gleichzeitig Agentengruppen an Land.
Einige dieser Gruppen wurden schnell gefaßt; außerdem erbeuteten die Deutschen mehr als tausend abgeworfene Versorgungstrommeln.
Im Gebiet von Beauvais machten die Deutschen einen besonders wertvollen Fund: 61 Trommeln voller Funkgeräte und persönlicher Ausrüstungen für Agenten. Bei einem der festgenommenen Agenten wurden Skizzen gefunden, die in allen Einzelheiten die Anlage von vier »Ski-Stellen« des Regiments Wachtel zeigten.
Generalfeldmarschall Milch wollte den Angriff auf London Ende April 1944 eröffnen. Er meinte, ein Ausstoß an Flugbomben von 1700 Stück im April und 2500 Stück im Mai - bei weiterer monatlicher Steigerung - würde diesen Termin rechtfertigen.
Generalleutnant von Axthelm, dem in seiner Eigenschaft als Inspekteur der Flakartillerie Wachtels Regiment 155 (W) unterstand, widersprach dem Generalfeldmarschall. Er wollte nicht glauben, daß die neuen Katapultstellungen - die die alten »Ski-Stellen« ersetzen sollten
- vor Juni fertig sein würden. Außerdem meinte er:
Auch Heinemann, der Kommandierende General des LXV. Armeekorps, stehe »auf dem richtigen Standpunkt, daß man nicht anfangen darf, wenn man nur drei Tage schießen kann. Man muß schon dieses sadistische Schießen durchführten können, das den Monat über reicht ...
Darauf Milch: »Man kann es auch ruhiger machen ...« Zudem müsse »man die Sorge haben, daß der Platz, auf dein man geschossen hat, Kampfgebiet wird. Deshalb können wir keinen Tag und keine Minute warten ...« Milch schwebte ein effektvoller Termin vor: 20. April - »Führers« Geburtstag.
Milch hatte Hitler eingeredet, daß ein »anhaltendes Tröpfeln« unbemannter Flugzeuge die »übelste Störung«, für eine Stadt sein könne. »Stellen Sie sich vor«, so beendete er seine Besprechung mit von Axthelm, »auf Berlin fällt alle halbe Stunde ein schwerer Schuß, und keiner weiß, wo er niedergehen wird. Nach zwanzig Tagen wackeln aber allen die Knochen!«
Am 29. März legte General Koller, Chef des Luftwaffen-Führungsstabs, seinen Plan für den Beginn der Flugbomben-Offensive gegen London am 20. April vor:
- Zwei Stunden vor Morgengrauen »Großes Wecken": Ein Feuerschlag von 300 Schuß mit größtmöglicher Feuergeschwindigkeit.
- Um die Mittagszeit »Salut": Ein Feuerschlag von 100 Schuß. (Ersatzweise tagsüber Störfeuer mit zwei, drei Schuß je Stunde.)
- Am Abend »Großer Zapfenstreich": Zusammengefaßter Feuerschlag mit größtmöglicher Feuergeschwindigkeit.
Der Plan wurde fallengelassen. Und erst Mitte Mai verkündete der »Führer«, welche Pläne er mit der Flugbombe im Sinn habe. Goebbels mußte später bekennen:
»Mir wurde bänglich, als sich die Termine für die Fertigstellung der ersten Vergeltungswaffe immer weiter hinausschoben. Wir hatten als ersten Termin den Dezember 1943 festgesetzt. Vielleicht zu Neujahr, hieß es, als der Dezember gekommen war. Im neuen Jahr stellten sich einige Mängel technischer Art heraus, die einen neuen Aufschub von zwei Monaten notwendig machten. Der März kam - und ging vorbei ... Am Führer -Geburtstag geht's los, war die neueste Parole. Auch er verstrich ergebnislos. Der Mai verging in unerträglicher Spannung. 'Die Vergeltung soll mit dem Beginn der Invasion gekoppelt werden',
sagte mir der Führer auf meine inständigen Vorhaltungen.«
Am 6. Juni 1944, dem Tag der alliierten Invasion, konnten aber noch immer keine Flugbomben abgeschossen werden.
Die entscheidende Stunde war verpaßt.
Bis zum Frühjahr 1944 war die Arbeit an der »V 3«, Deutschlands phantastischer dritter Geheimwaffe, weit fortgeschritten: Adolf Hitlers »Hochdruckpumpe« war ein weittragendes Geschütz, das von Frankreich aus auf London feuern sollte.
Von der Entwicklung dieser Waffe wußten selbst unter Ministern und Reichsleitern nur sehr wenige. Sogar General Leeb, der Chef des deutschen Heereswaffenamtes, erfuhr von dem Projekt nur durch Zufall, als er die französische Kanalküste inspizierte.
Die »Hochdruckpumpe« lag in Mimoyecques, knapp acht Kilometer von der Kanalküste und 152 Kilometer von der Londoner Stadtmitte entfernt Das Projekt war von Hitler kurz nach dem Angriff des Britischen Bomberkommandos auf Peenemünde im August 1943 endgültig genehmigt worden.
Ursprünglich waren zwei benachbarte Geschützstellungen geplant, jede mit 25 Rohren von 130 Meter Länge bestückt. In Batterien von je fünf Rohren sollten sie in betongefütterten Schächten tief im Kalkstein untergebracht und genau auf London ausgerichtet werden.
Im November 1943 griff die 9. amerikanische Luftflotte Mimoyecques an; kurz darauf wurde die eine Hälfte des Vorhabens aufgegeben. Doch auch die 25 verbleibenden Rohre hätten genügt, eine Feuergeschwindigkeit von einem Geschoß innerhalb von zwölf Sekunden auf London zu erzielen.
In dem Kalksteinberg war bereits - 30 Meter tief - ein Labyrinth von Schächten und Stollen ausgegraben worden, für Quartiere, Magazine und einen Gleisanschluß. 80 Meter tiefer war ein Stollen für die unteren Kammern der 25 Rohre angelegt.
Eine fünfeinhalb Meter dicke Betonplatte mit fünf schmalen Schlitzen schützte die Mündungen der Rohre. Krupp hatte Stahltüren produziert, um diese Schlitze so verschließen zu können, daß nur die Löcher für die Mündungen im Kaliber von 15 Zentimetern offenblieben.
Mehr als 5000 Facharbeiter von den Vereinigten Stahlwerken, Mannesmann, Krupp und der Gutehoffnungshütte sowie 430 Kumpel, aus dem Ruhrgebiet hatten bis zum Frühjahr 1944 einen großen Teil der gewaltigen unterirdischen Anlagen vollendet.
Bereits im Spätsommer 1944 sollte die »Hochdruckpumpe« das Feuer auf London eröffnen.
Das Projekt war wohl das phantasievollste, aber auch risikoreichste Spiel Hitlers - denn noch im Sommer 1943 vermochte niemand mit Sicherheit zu sagen, ob alle Probleme der »Hochdruckpumpe« gelöst werden konnten.
Ihr Erbauer - Oberingenieur August Coenders von den Röchlingschen Eisen - und Stahlwerken, der unabhängig von Waffeningenieuren arbeitete - empfahl für die Form des Geschosses eine Modifizierung der Standardform: Die mit Stabilisierungsflossen versehene Granate sollte etwa 140 Kilogramm wiegen; vier flexible Flossen waren zunächst um den Geschoßkörper geklappt, jedoch so konstruiert, daß sie sich öffneten, sobald die Granate die Rohrmündung verließ.
Mitte Oktober 1943 begannen in Hillersleben die Schießversuche in großem Maßstab. Dabei zeigte sich, daß die Röchling-Granaten sich bei niedrigen Geschwindigkeiten zwar einwandfrei verhielten, daß die Flossen sich jedoch bisweilen nicht gleichmäßig öffneten oder flatterten.
Dennoch wurde im Spätherbst die Massenproduktion der Granaten genehmigt; es schien, als brauchte man nur noch die Rohre, um losschlagen zu können.
Ein Versuchsrohr war in Misdroy auf Usedoms Nachbarinsel Wollin bereits gebaut worden. Außerdem stand eine Einheit von 1000 Mann unter Oberstleutnant Bortt-Scheller bereit, sich an der Waffe ausbilden zu lassen. Das Regiment in Mimoyecques sollte ein Oberst de Bouché führen.
Bei den Schießversuchen erreichten die ersten abgefeuerten Granaten Mündungsgeschwindigkeiten von 1100 Meter pro Sekunde - das waren etwa zwei Drittel der Geschwindigkeit, die erforderlich war, um die Geschosse von Mimoyecques nach London zu tragen. Coenders zweifelte nicht, daß die notwendige Reichweite
erzielt werden könnte, wenn nur die Konstruktion der Granate sowie das elektrische Zündsystem verbessert würden; das Zündsystem bestand aus weiteren Ladungen, die in Seitenkammern entlang des ganzen Rohres verteilt waren und das Geschoß beschleunigen sollten.
Am 22. März 1944, während eines verhängnisvollen Versuchsschießens in Gegenwart von General Leeb, zeigte sich, daß die massengefertigten Granaten bei den notwendigen Geschwindigkeiten ballistisch nicht stabil waren. Sie überschlugen sich.
Mittlerweile waren aber die 20 000 Geschosse vorgearbeitet worden, ehe überhaupt feststand, ob die Geschosse fliegen würden.
Noch am selben 22. März rügte Generalleutnant Schneider vom Heereswaffenamt, daß Fachleute für Ballistik nicht rechtzeitig zu Rate gezogen, worden seien: Wäre das Projekt eine Angelegenheit des Heereswaffenamtes - so Schneider -, hätte man es nach diesen Ergebnissen sofort abgebrochen.
Doch Hitler hatte der »Hochdruckpumpe« hohe Dringlichkeitseinstufung gegeben; die Kosten waren durch die aufwendigen Bauarbeiten in Mimoyecques enorm gestiegen; so durfte bei diesem Projekt von einem Fehlschlag um keinen Preis die Rede sein. Wer könnte wagen, dem »Führer« die Hiobsbotschaft zu überbringen?
So gingen die Schießversuche in Misdroy weiter. Neue Geschoßformen wurden konstruiert und erprobt. Die Anordnung, zunächst jene Modelle abzufeuern, bei denen es am wenigsten wahrscheinlich war, daß sie das. Rohr zum Bersten brachten, erwies sich als kluge Vorsichtsmaßnahme. Nach 25 Schüssen über die Ostsee hinaus explodierten zwei Zwischenstücke des Rohrs und machten weitere Versuche unmöglich.
Auf einer Massenbesprechung von etwa hundert an dem Projekt beteiligten Technikern am 4. Mai in Berlin wurde abermals die Möglichkeit diskutiert, das ganze Projekt einzustellen; doch wiederum schreckte man davor zurück, Hitler zu unterrichten.
Nahezu jeder Fachmann hatte erkannt, daß Coenders gegen »grundsätzliche aerodynamische Gesetze« verstoßen hatte; und Professor Walchner vom Göttinger Institut für Hochgeschwindigkeitsfragen meinte: »In der Entwicklung der Geschoßformen ist ja bisher nur Unsinn gemacht worden. Man muß bei dieser Sache mal ein bißchen die Vernunft einschalten.«
Professor W. Osenberg, Leiter des Planungsamts im Reichsforschungsrat der als maßgebender Wissenschaftler die gesamte wissenschaftliche Forschung in Deutschland leitete -, hielt es für dringlich, Hitler über die Resultate dieser unverantwortlichen Handhabung militärischer Projekte durch Amateure zu berichten. Leute, die nicht bereit waren, das beträchtliche wissenschaftliche Potential in Deutschland zu nutzen, mußten ausgeschaltet werden. Osenberg schrieb an den Chef von Hitlers Parteikanzlei, Reichsleiter Martin Bormann, einen langen und ungewöhnlich freimütigen Brief.
Gleichzeitig kümmerten Osenberg und Walchner sich um die Verbesserung der Seitenkammern und um aerodynamisch vertretbare Formen des Geschosses.
Tatsächlich wurden allmählich bessere Ergebnisse erzielt. Bei Versuchsschüssen im Mai 1944 wurden von dem kleinsten Geschoß immerhin Weiten bis zu 90 Kilometer zurückgelegt.
Inzwischen hatten mehrere Firmen Geschosse für die »Hochdruckpumpe«
entworfen und hergestellt, und dem Reichsminister Speer wurde versprochen, daß die Geschosse der Firma Witkowitz (entworfen von Dr. Athen aus dem Heereswaffenamt) die erforderlichen 150 Kilometer mit Sicherheit zurücklegen würden. Man sollte nur das nächste Probeschießen Anfang Juli abwarten; da würden sich erhebliche Verbesserungen zeigen.
Hitler äußerte den Wunsch, die Versuche mit dem »England-Geschütz« vorantreiben zu lassen.
Der »Berg« von Mimoyecques war den Engländern noch immer ein Rätsel. Ein Rüstungsexperte aus dem Versorgungsministerium vermutet in ihm »Raketenwerfer« - wie in den anderen gewaltigen Betonbunkern in Siracourt, Lottinghem, Sottevast und Martinvast.
Der Bunker von Wizernes beunruhigte die Abwehr-Experten ganz besonders, da er offensichtlich nicht auf
eine Stadt in Europa gerichtet war. Ein Auswerter entdeckte, daß die Stirnseite des Bauwerks innerhalb eines halben Grades mit dem genau nach New York führenden Großkreis zusammenfiel. Ob diese Tatsache Zufall oder reiner Mutwille war, blieb ungeklärt; jedenfalls bestritt Albert Speer nach dem Kriege, daß je die Absicht bestanden hätte, aus dem Bunker von Wizernes Raketen nach New York abzufeuern.
Die britischen Stabschefs alarmierten General Eisenhower. Sie gaben ihm zu verstehen, daß die deutschen Bunkerstellungen bald fertig und gegen Luftangriffe sodann unverletzlich sein würden. Eisenhower sollte schwere Angriffe auf diese Ziele fliegen lassen.
Doch ehe Eisenhower diesen Antrag prüfen konnte, nahm die Kriegsgeschichte bereits ihre entscheidende Wendung:
Eine Woche bevor Hitlers geplante Flugbomben-Offensive gegen London beginnen konnte, stürmten alliierte Truppen die Küsten der Normandie.
Anfang Mai 1944 warteten die deutschen Strategen auf die ersten einsatzbereiten Raketen »A 4«. Der Bunker in Wizernes machte befriedigende Fortschritte, zahlreiche kleinere Abschußstellen in Frankreich waren vorbereitet, auch eine
Raketenabteilung
stand bereit - nur die Entwicklung der Rakete selbst war noch immer nicht beendet. Zahlreiche Änderungen an den Bauzeichnungen hatten einen hohen Ausstoß einstweilen unmöglich gemacht.
Speer gab zu: »Wir gingen gleich von der Konstruktionszeichnung in die Serienfertigung. Wir gingen das Risiko ein ... Aber damit habe ich anderthalb Jahre gespart.«
Generalmajor Dornberger, der Beauftragte des Heeres für das Raketenprogramm, rang in Blizna in Polen noch immer mit dem Problem der »Luftzerleger«. Im Mai 1944 erklärte er:
»Hauptproblem ist insbesondere das unzerlegte Ankommen der Geräte am Ziel. Dieses Problem ist noch nicht gelöst. Das Aufsteigen des Gerätes ist einwandfrei gelungen, aber nicht das Erreichen des Zieles.«
Gegen Ende der Flugbahn schien mit den Raketen etwas Unerklärliches zu geschehen: Sie explodierten, während sie noch mehr als 1000 Meter hoch in der Luft waren.
Das Problem der »Luftzerleger« überschattete, weiter das ganze Versuchsprogramm. Schließlich richtete Dornberger eine Anzahl von Beobachtungsstellen im Zielgebiet ein und konnte alsbald den Vorschlag zu einer entscheidenden Änderung machen, die die Explosion endlich ausschaltete.
Mitte Mai 1944 schien es, als ob von den drei »Geheimwaffen« lediglich die Flugbombe sich ihrer Einsatzreife näherte. Oberst Wachtels Regiment war nun bereit zuzuschlagen.
Am 16. Mai gab Generalfeldmarschall Keitel den Führerbefehl »betreffend Einsatz der Fernwaffen gegen England« heraus: Die V-Waffen-Offensive sollte mit einem Angriff bemannter Bomber, dem Abwurf der Flugbombe durch He-111-Maschinen und durch Fernartilleriebeschuß in einer Juni -Nacht beginnen. Danach sollte Störfeuer während der Nacht beibehalten werden, »durchmischt mit Feuerschlägen von wechselnder Dauer und Stärke«.
Vier Tage später befahl Oberst Wachtel seinen Abteilungen, ihre Mannschaften in das gut getarnte System der neuen Stellungen zwischen Seine-Mündung und dem Pas de Calais zu verlegen. Die alten »Ski-Stellen« wurden vollends aufgegeben und vermint - sie hatten ihren Zweck als Zielscheibe für alliierte Bombenwürfe gut erfüllt.
Sobald Wachtel vom LXV. Armeekorps das Stichwort »Rumpelkammer« gefunkt werden würde, sollte es nur noch sechs Tage dauern, um die Katapulte auf den neuen vereinfachten Abschußstellen zu montieren.
Am 2. Juni 1944 vertraute Wachtel seinem Tagebuch an: »Werden wir zuerst schießen? Oder kommt der Gegner vorher über den Kanal?« Jeder Mann des Regiments, so meinte Wachtel, sei der festen Zuversicht, daß die Flugbombe - einst »Kieselstein«, dann »Kirschkern« und nun auch »Maikäfer« genannt - »eher drüben ist als Ami und Tommy bei uns«.
Ende März 1944 hatten die britischen Stabschefs prophezeit, daß bis Ende April praktisch alle deutschen »Ski -Stellen« außer Gefecht sein würden. Ende April zeigten Aufklärerphotos aber neue Startgeräte von erheblich einfacherer Konstruktion. Anfang Mai wies Lord Cherwell darauf hin, daß die Deutschen die alten »Ski-Stellen« nach Luftangriffen nicht mehr reparierten.
Überaus beunruhigt ordnete das Luftfahrtministerium an, ganz Nordfrankreich zum viertenmal photographieren zu lassen.
Die Ausführung dieser Anordnung brachte Ergebnisse von höchster Bedeutung für die alliierte Luftoffensive und das ganze Unternehmen »Overlord«. Am 13. Mai konnte der Generalstab der Luftwaffe mitteilen, daß die Deutschen offensichtlich ein neues Programm von Startstellungen für unbemannte Flugzeuge begonnen hätten.
Die Stabschefs wollten nicht glauben, daß die mächtigen Bombereinsätze gegen die »Ski-Stellen« vergeblich gewesen sein sollten. Commodore Pelly, seit November Leiter der Maßnahmen gegen die deutschen Stellungen, hatte seinen Posten als Leiter der Operationen (Sonderunternehmen) bereits aufgegeben, weil er glaubte, das »Crossbow«-Gespenst sei endlich gebannt. Sein Nachfolger war Commodore Grierson. Er sollte die weitere Beobachtung der Flugbombenstellungen übernehmen, und ihn erwartete eine zermürbende Prüfung: Plötzlich brach der angeblich erloschene »Vulkan« aus, und Oberst Wachtels Geschosse - mit denen überhaupt nicht mehr gerechnet wurde - explodierten in London.
Für den Generalstab der britischen Luftstreitkräfte war es gewiß hart, zugeben zu müssen, so erfolgreich getäuscht worden zu sein.
Am 5. Juni, dem Vorabend der alliierten Invasion in Frankreich, fand eine Konferenz der mit »Crossbow« beschäftigten Abwehrstellen statt. Ihre Teilnehmer kamen zu dem (richtigen) Ergebnis, daß die Hauptteile der neuen, vereinfachten deutschen Stellungen vermutlich vorfabriziert seien und in wenigen Tagen zusammengebaut werden könnten: »Deshalb ist es von entscheidender Wichtigkeit, daß Bildauswerter auf die ersten Anzeichen eines allgemeinen Versuchs achten, die fehlenden Einrichtungen zu montieren.«
Diesen Auftrag erhielt die Zentralauswertungseinheit am 6. Juni. Drei Tage später konnte sie melden, daß die neuen Photos die Existenz von mindestens 61 »vereinfachten« Stellungen zeigten. Dennoch schätzte der Generalstab der Luftstreitkräfte, daß ein Angriff unbenannter deutscher Flugzeuge in größerem Ausmaß innerhalb der nächsten vierzehn Tage nicht erwartet zu werden brauche.
Doch zu diesem Zeitpunkt arbeitete Wachteis Flugbomben-Regiment bereits seit drei Tagen an der Aufrichtung seiner Katapulte in den »vereinfachten« Stellungen.
Am 16. Mai hatte Hitler festgelegt, daß die Fernbeschießung Londons Mitte Juni beginnen sollte. Axt 4. Juni, fragte das LXV. Armeekorps bei Wachtels Nachschubführer an, ob das Regiment trotz der chaotischen Transportsituation in Frankreich wohl in der Lage sei, das Feuer bereits am 10. Juni zu eröffnen. Wachtels Nachschubführer Hauptmann Schwennesen erwiderte: »Nicht vor dem 20. Juni 1944.«
Am 6. Juni, nachts 1.30 Uhr, wurde dem Flakregiment 155 (W) von einer Infanterie-Division fernmündlich mitgeteilt, daß die Invasion der Alliierten begonnen habe. Fünfzehn Minuten später gingen Meldungen ein, daß feindliche Fallschirmjäger im Raum Von Caen abgesetzt worden seien. Das Regiment empfing während des ganzen Tages Nachrichten über Fallschirmjäger, Bombenangriffe und die Bewegung der alliierten Invasionsflotte.
Am gleichen Tag, 17.45 Uhr, gab das LXV. Armeekorps Wachtel den Befehl »Rumpelkammer": Die letzten Pechs Tage der unwiderruflichen Vorbereitungen für die Bombardierung der britischen Hauptstadt durch unbemannte Flugzeuge sollten beginnen.
Oberst Wachtels Stab zog endlich die gelbbraunen Uniformen der Organisation Todt aus und legte die wahre Farbe an, die taubenblaue Feldbluse der Luftwaffe mit den roten Spiegeln der Flakartillerie.
Nun hing alles davon ab, wie glatt Unternehmen »Rumpelkammer« verlief;
Wachtel hoffte immer noch, daß Montage und Erprobung der ersten 64 »vereinfachten« Stellungen bis zum Abend des 12. Juni beendet sein würden, als er die Zwischenunterkunft des Regimentsstabs in Château Merlemont verließ. Im Kriegstagebuch des Flakregiments 155 (W) heißt es:
»Mit dem 9. Juni dämmert ein wolkenverhangener, regenschwerer Tag herauf. Für den Feind bedeutet das: Lähmung der Fliegertätigkeit und damit für uns günstige Möglichkeit eines Stellungswechsels. Kurz entschlossen wird die Verlegung des Regimentsstabs in den Einsatzgefechtsstand Sâleux bei Amiens befohlen ... Der Regimentsgefechtsstand Sâleux ist unter äußerst günstiger Ausnutzung des Geländes angelegt ... Mit Feldbahnen wird das Kreidegestein, das durch Sprengung aus dem Berg gebrochen wird, aus Notausgängen am Fuße des Abhanges abgefahren. Rund 150 bis 200 KZ-Gefangene, Kriegsgefangene, Russen und Sträflinge sind bei diesen Arbeiten unter der Anleitung der OT eingesetzt. Bei der Heranführung dieses 'gemischten Haufens' - zum größten Teil asoziale Elemente - waren abwehrmäßige Gesichtspunkte ausschlaggebend.«
Als Oberst Wachtels Regimentsstab sich in dem neuen Gefechtsstand einrichtete, waren die Häftlinge noch überall am Werk.
Am 11. Juni erteilte das Generalkommando des LXV. Armeekorps Oberst Wachtel den Befehl für den Feuerbeginn in der Nacht vom 12. zum 13. Juni. Das Ziel war London. Die Feuerschläge sollten um 23.40 Uhr und um 0.40 Uhr erfolgen.
Trotz der fast unmöglichen Aufgabe, so schnell zu funktionieren, gelang es Wachteis Männern, die Geräte zum befohlenen Termin in die Stellungen zu bringen; allerdings reichte die Zeit nicht mehr für Prüfung und Ortung.
In den frühen Morgenstunden des 12. Juni versammelten sich die Abteilungskommandeure in Wachtels unterirdischem Befehlsstand in Sâleux, wo der Regimentskommandeur ihnen eine Ansprache hielt. In der kalten Morgendämmerung kehrten sie zu ihrer Truppe zurück - und Wachtels Worte klangen ihnen noch in den Ohren:
»Nach langer Wartezeit ist nun heute der Tag gekommen, an dem unsere Waffe zum Einsatz gelangt ... Heute sollen euer Warten und eure Arbeit den verdienten Lohn finden. Der Feuerbefehl ist erteilt!«
In Frankreich verging dieser 12. Juni mit den Vorbereitungen für den Beginn des Flugbombenangriffs. In Berchtesgaden herrschte eine Stimmung gespannter Erwartung.
Um 17.30 Uhr wurde in einer Besprechung zwischen Dönitz, Keitel und Jodl die Möglichkeit erörtert, daß die Flugbombenoffensive nicht nur feindliche Flugzeuge von der Unterstützung der Invasion abziehen, sondern die Alliierten zwingen könnte, eine - sicher verhängnisvoll verlaufende - Nebeninvasion im Startgebiet zu beginnen.
Keitel und Jodl sahen in dieser Möglichkeit die »einzige Chance« für Deutschland, die Lage zu wenden; beide hielten sie für »sehr ernst«. Auch Hitler glaubte, daß die Flugbombenoffensive die Alliierten zu einer Änderung ihrer Pläne zwingen werde.
Am frühen Abend des 12. Juni traf General Heinemann, der Kommandierende General des LXV. Armeekorps, in Sâleux ein. Im Bunkergefechtsstand drängten sich Kriegsberichter und Vertreter der Erprobungsstelle Peenemünde und des Luftfahrtministeriums.
Wachteis düstere Vorhersagen begannen sich bereits zu erfüllen; die Vorbereitungen wiesen ernsthafte Mängel auf. Der Bomber He 111 des Regiments wurde bei einem Angriff auf den Flugplatz Beauvals-Tillé zerstört, und am Abend ergaben die Meldungen von den vier Abteilungen, daß nur wenige Katapulte einsatzbereit waren.
Immer wieder klagte der Regimentskommandeur später in seinem Tagebuch darüber, daß man seinen Rat, den Angriff zu verschieben, zurückgewiesen habe. Heinemann hörte nun selbst alle einlaufenden Meldungen - von Batterien, denen es an Kaliumpermanganat, Dieselöl und entscheidenden Ausrüstungsstücken fehlte.
Vermutlich bewahrte nur diese Tatsache Wachtel vor dem Kriegsgerichtsverfahren, das ihm angedroht wurde, als sich dieser erste Einsatz zu einem Fiasko entwickelte.
Der Einsatz wurde um eine Stunde verschoben; doch selbst nach dieser Verzögerung hatte sich die Lage kaum gebessert. Der einleitende Feuerschlag wurde gestrichen und statt dessen nur Störfeuer geschossen - nichts anderes als ein verzweifelter Ausweg. Falls bis drei Uhr morgens genügend Stellungen einsatzbereit sein sollten, würde der massierte Angriff dann nachgeholt werden. Doch bis vier Uhr hatten Wachtels erschöpfte Truppen erst zehn Flugbomben von insgesamt 55 Stellungen abgeschossen.
Entsetzt über diesen nutzlosen Einsatz, befahl Oberst Walter, Stabschef des LXV. Armeekorps, die unverzügliche Feuereinstellung; die Abschußstellen sollten sofort getarnt werden.
Bei einer Abend-Besprechung empfahlen die dem Regiment beigegebenen Industriefachleute einen dreitägigen Aufschub, währenddessen alle Stellungen repariert und ordnungsgemäß geprüft werden sollten.
Von den zehn Flugbomben, die Wachtels erschöpfte Truppe gestartet hatte, waren vier beim Abschuß abgestürzt, eine hatte sich dabei als Blindgänger erwiesen.
In London explodierte die erste deutsche Flugbombe um vier Uhr morgens bei Gravesend, 32 Kilometer von ihrem Ziel, der Tower-Bridge, entfernt. Die zweite Bombe fiel in Cuckfield, die dritte in Bethnal Green (einem Londoner Stadtteil) und die vierte in Sevenoaks. Die beiden letzten gingen schon über dem Kanal verloren. Bei dem Einschlag in Bethnal Green wurde eine Eisenbahnbrücke zerstört, sechs Menschen wurden getötet - die einzigen Ausfälle der Nacht.
Am nächsten Morgen kamen die Stabschefs mit Cherwell und Sandys zusammen, um diesen merkwürdigen Eröffnungsangriff zu besprechen: Da sie auf die Detonation von 400 Tonnen Sprengstoff in London während der ersten zehn Stunden des Angriffs vorbereitet waren - was keinesfalls unmöglich gewesen wäre, wenn Wachtel alle seine Stellungen hätte einsetzen können -, mußten die vier gemeldeten Einschläge geradezu eine Enttäuschung bedeuten.
Dr. R. V. Jones glaubte fest, daß die vier Bomben lediglich deutsche Fehlschüsse seien; er suchte Lord Cherwell in seinen Amtsräumen auf, um ihn zu bitten, seinen erheblichen Einfluß auf Churchill dahin gehend zu benutzen, daß dem britischen Volk in einer öffentlichen Erklärung die Tatsachen offen mitgeteilt würden. Es gehörte zu Churchills Hauptgrundsätzen, daß die Öffentlichkeit alles ertragen könne, vorausgesetzt, daß sie erfuhr, was sie zu erwarten habe.
Davon wollte Cherwell nichts hören. Er lachte: »Der Berg hat gekreißt und ein Mäuslein geboren!«
Entsetzt erinnerte Jenes den Professor daran, daß die Deutschen sehr viel mehr Bomben bei ihren täglichen Abschußversuchen an der Ostseeküste gestartet hätten; sie müßten zu weit umfangreicheren Einsätzen als zu dem während dieser Nacht in der Lage sein.
»Um Himmels willen«, beschwor er Cherwell, »tun Sie das nicht mit einem Lachen ab!«
Die Ruhe hielt nicht lange vor. Am 15. Juni konnte Oberst Wachtel melden, daß 55 Abschußstellungen voll einsatzfähig seien. Kurz vor 19 Uhr des gleichen Abends rief ihn das LXV. Armeekorps an und befahl, um 23 Uhr das Feuer auf »Ziel zweiundvierzig« (London) zu eröffnen. Zehn Minuten später funkte Wachtel an seine vier Abteilungen:
»Mit allen Geschützen schießen auf Ziel Nr. 42, Feuerschlag, Vergleichsentfernung 200 km, Vergleichszeit 23.18 Uhr (Einschlag 23.40 Uhr). Anschließend Dauerfeuer bis 4.50 Uhr.«
Die erste Bombe verließ einen Katapult der II. Abteilung zwei Minuten vor Nullzeit. Kurz nach Mitternacht trübte es sich rasch ein und begann zu regnen: ideales Flugbombenwetter.
Bis zum Mittag des 16. Juni waren 244 Schuß auf London abgefeuert worden,
von denen 45 bald nach Verlassen der Katapulte abgestürzt waren; dadurch wurden neun Stellungen beschädigt; eine Bombe tötete zehn Franzosen, als sie in einem Dorf einschlug.
Diesmal hatte die Mühe gelohnt. Am frühen Morgen des 16. funkte ein Aufklärer aus seiner Maschine an das Generalkommando des Armeekorps Einzelheiten über Brände im Zielgebiet: »Starker Feuerschein«.
Der Wehrmachtbericht lautete noch zurückhaltend: »Südengland und das Stadtgebiet von London wurden in der vergangenen Nacht und heute vormittag mit neuartigen Sprengkörpern schwersten Kalibers belegt.«
Das Wort »Vergeltung« wurde auf Wunsch von Goebbels nicht benutzt. »Noch liegen aus London keinerlei Nachrichten über die Auswirkungen vor«, erklärte er.
Bis zur nächsten Mitternacht waren 73 Flugbomben auf Großlondon gefallen; von den anderen war eine in Chichester niedergegangen, eine weitere war über ihr Ziel hinausgeflogen, hatte das flache Land alarmiert und war bei Framlingham in Suffolk abgestürzt.
Der schwere Angriff bildete das Thema der Stabschefsbesprechung am nächsten Morgen und der Kabinettssitzung am Mittag.
Die wesentliche Entscheidung, zu der man gelangte, war: General Eisenhower zu bitten, »alle nur möglichen Maßnahmen zu ergreifen, soweit sie nicht zu Störungen der entscheidenden Erfordernisse für die Schlacht um Frankreich führten, um die Versorgungs- und Abschußstellungen außer Gefecht zu setzen«. Infolgedessen erklärte Eisenhower am 18., daß »Crossbow«-Ziele von nun an für die alliierten Bomberverbände höher eingestuft seien als alle anderen, abgesehen von den dringenden Erfordernissen der Schlacht«.
Am 18. Juni startete Wachtels Regiment die 500. Flugbombe; am gleichen Tag traf eines dieser unbemannten Flugzeuge die Kapelle der Leibgarde in der Wellington-Kaserne, wenige hundert Meter vom Buckingham-Palast entfernt, und tötete 121 Menschen.
Der Premierminister schrieb an Eisenhower und versicherte ihm, daß London diese Prüfung bis zum Ende ertragen werde. Auf ihn war die Wirkung alles andere als demoralisierend; er wirkte plötzlich wieder zehn Jahre jünger, wie sich einer seiner Mitarbeiter erinnerte, einfach weil »die Flugbombe uns wieder in die Frontlinie gestellt hat«.
Hitler war recht angeregt vom Erfolg seiner Flugbombenoffensive. Am 17. flog er insgeheim nach Nordfrankreich, wo er während des ganzen Tages mit seinen Generälen in Margival konferierte. Fahl und übernächtigt sprach er Heinemann und Walter seine Dankbarkeit für den Erfolg des Flugbombenangriffs aus. Er erhoffte sich, wie er sagte, sehr viel von der Offensive.
Hitler verbot dem LXV. Armeekorps, andere Ziele als London auch nur in Erwägung zu ziehen, und verkündete laut, er sei stolz, daß Deutschland »mit so modernen Waffen kämpfe«.
Bei seiner Rückkehr nach Berchtesgaden befürwortete er die Forderung nach Erhöhung der Flugbombenproduktion. Unwillig hörte Rüstungsminister Speer, daß die »A 4«-Rakete, sein Lieblingsprojekt, darunter leiden sollte. Wenige Tage später notierte Speer:
»Der Führer bestimmt, daß von der 'A 4' bis auf weiteres nur 150 Stück im Monat gefertigt werden sollen. Die dadurch frei werdenden Arbeitskräfte und Materialien sollen in erster Linie dem Hochlauf des 'Kirschkerns' (Flugbombe) zugeführt werden.«
Der Rückgang der Raketenproduktion im Mittelwerk war erheblich. Die Fabrik hatte im Mai 437 Geräte montiert; der Ausstoß sank im Juni auf 132 und im Juli auf nur 86, während sich die Produktion der Flugbombe entsprechend erhöhte. Erst im August wurde der Führerbefehl aufgehoben, als der Verlauf der Schlacht in Frankreich deutlich zeigte, daß Oberst Wachtels Katapulte in Gefahr waren, überrannt zu werden.
Zunächst war Hitler von den Fortschritten der Flugbombenoffensive natürlich noch hingerissen. Am 26. Juni befahl er eine Intensivierung des Angriffs und äußerte sich Jodl gegenüber, er rechne eigentlich darauf, daß die Alliierten nun die lang erwartete (aber nicht geplante) zweite Invasion im Gebiet von Dieppe begännen, um so die Startgebiete der Flugbomben zu erobern.
Zwei Angehörige von Oberst Wachteis Regiment, die in den letzten Junitagen nach Berchtesgaden befohlen worden waren, berichteten später, daß Hitler immer wieder seine Freude geäußert habe, weil England nun wieder unter Feuer liege und noch mehr leide als im Jahr 1940. Einer dieser Soldaten schrieb:
»Es war gerade große Lagebesprechung beim Führer. Die höchste Generalität war versammelt. Um 23.30 Uhr war der große Augenblick gekommen. Die Tür öffnete sich, und wir betraten den Raum, in dem der Führer, umgeben von seinen Mitarbeitern, weit über einen Tisch gebeugt stand, auf dem die Karte von Nordfrankreich mit den eingezeichneten Stellungen des Regiments lag. Lächelnd trat der Führer auf uns zu und schüttelte uns die Hand.«
Hitler kam sofort zur Sache. Er sei sehr überrascht über den hervorragenden Anfangserfolg und fragte, ob die Soldaten vom Flakregiment 155 (W) auch schon Nachricht von der Wirkung auf die Engländer hätten. Einer der Soldaten erwiderte:
»Die starke Bombardierung unserer Stellungen durch die gegnerische Luftwaffe ist der beste Beweis für die Wirkung unserer Waffe, mein Führer!«
Hitler sagte freundlich zu, für vermehrten Nachschub von Flugbomben zu sorgen. »Der Führer legte uns dar, daß wir durch unseren Einsatz Hunderte von Feindmaschinen bänden und der Heimat und dem Kriegsschauplatz im Westen Entlastung brächten.«
Er fügte hinzu, daß alle Granaten, die das Paris-Geschütz während des Ersten Weltkriegs verschossen habe, nicht soviel Sprengstoff enthalten hätten wie eine einzige Flugbombe:
»Wir schonen Menschen und Maschinen, 'V 1' ist Maschine und Bombe zugleich ...«
In dieser Nacht hatte die 2000. Flugbombe das Katapult verlassen, und Hitler gratulierte General Heinemann in einem Fernschreiben.
Der deutsche Rundfunk brachte Dauersendungen, daß »Südengland und das Stadtgebiet von London unter dem Feuer unserer schwersten Sprengmittel liegen«.
Am ersten Einsatzabend kam Oberleutnant Dr. Karl Holzamer (heute Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens in Mainz) im Auftrag des OKW als Rundfunkberichter zum Regiment und sprach den ersten »Ohrenzeugenbericht von der Kanalfront«. Ganz Deutschland hörte »das Wolfsgeheul der donnernden Argus-Rohre« im Lautsprecher, als die »V 1« über den Kanal ihrem »Ziel 42« zustrebte.
IM NÄCHSTEN HEFT:
»Giftgas gegen Deutschland« - Deutsche Kleinstädte als Geiseln? - Der britische Geheimdienst fälscht Todesanzeigen in den Zeitungen - Die Sowjets lassen »V 2«-Teile verschwinden - Doppelknall über London
* Britischer Politiker; 1929 bis 1937 Unterstaatssekretär im Außenministerium, danach politischer Berater im Außenministerium.
Raketenbauer Dornberger, von Braun: »Ein edelkommunistisches Nest in Peenemünde«
Tor zum unterirdischen »V 2«-Werk im Harz: »Nach zwanzig Tagen ...
... wackeln allen die Knochen": Unterirdisches »V 1«-Lager
Versorgungsbombe für alliierte Agenten
Vier Stellungen wurden verraten
Hitlers »V 3": Ein 150 Meter langes Rohr ...
... war auf London gerichtet: Kammern für Treibladungen*, Mündung der »V3«
V 3«-Konstrukteur Coenders
Vergeltung aus der Hochdruckpumpe
Rüstungsminister Speer*: Großer Zapfenstreich für die Briten
Britische Lastensegler vor dem Start zur Invasion am 6. Juni 1944: »Der Maikäfer ist eher drüben ...
... als der Tommy bei uns": Alliierte Landung in der Normandie
»V 1« vor dem Start in einem französischen Dorf: »Dieses sadistische Schießen ...
... muß man durchhalten": »V 1«-Kommandeur Wachtel (r.) Berater*
»V1«-Einschlag in London*: »Der Berg hat gekreißt ...
... und ein Mäuslein geboren": »Völkischer Beobachter« vom 17. Juni 1944
Englische Karikatur, Sommer 1944: »Heil Hitler, hier ist 'V 4' - unsere bisher beste
Geheimwaffe!«
Deutsche Karikatur, Sommer 1944: »Vansittart* und 'V 1'
'Ich frage: Ist das human? Die schlagen ja zurück!«
* Die Kammern auf der linken Seite des
Rohrs wurden bei der Zündung der Treibladungen zerstört.
* Bei der Besichtigung eines erbeuteten
sowjetischen Panzers vom Typ T 34.
* Links: Professor Sommerfeld, Fachmann
* für Ballistik, in der Nacht zum 13. Juni 1944 im Gefechtsbunker in Sâleux, nach dem Start der ersten »V 1«.
* Die Rauchwolke rührt vom Einschlag einer anderen Flugbombe her.