»Unvergleichbares Leiden«
SPIEGEL: Herr Staatspräsident, Ihr Land fühlte sich dem verstorbenen Papst Johannes Paul II. sehr verbunden. Was erwarten Sie von seinem Nachfolger, dem Deutschen Joseph Ratzinger?
Katsav: Johannes Paul II. nannte uns Juden die älteren Brüder der Christen. Er stand für Menschlichkeit, Dialog und Versöhnung und legte den Grundstein für die Zusammenarbeit der Religionen. Ich glaube, Benedikt XVI. wird diesen Weg mit großer Entschlossenheit weitergehen und die guten Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum pflegen.
SPIEGEL: Dass Ratzinger in der Hitlerjugend war, stört Sie nicht?
Katsav: Er hat doch den Nationalsozialismus abgelehnt, er und seine Familie haben sich vom NS-Regime distanziert. Ratzinger ist ja sogar aus der Wehrmacht desertiert. Was sollte ihm da vorzuwerfen sein? Wir sind uns auf der Trauerfeier für Johannes Paul II. begegnet, die in meinen Augen ein einzigartiges Symbol war für die große Gemeinschaft der drei monotheistischen Religionen.
SPIEGEL: Im Geiste dieser Versöhnung schüttelten Sie sogar Israels Erzfeinden, den Präsidenten von Iran und Syrien, die Hand.
Katsav: Das geschah aus reiner Höflichkeit, es hatte keine politische Bedeutung. Teherans Staatschef Mohammed Chatami und ich sind in der gleichen Gegend Irans geboren. Ich wünschte ihm »Salam aleikum«, Friede sei mit euch. Auf dem Weg aus der Kirche sprachen wir noch kurz über unsere Region. Zu Baschar al-Assad, der hinter mir saß, sagte ich bloß »guten Morgen«. Mehr nicht.
SPIEGEL: Könnte es mit beiden Ländern nicht zu mehr als nur dem Austausch solcher Höflichkeiten kommen?
Katsav: Leider hängt das nicht von uns ab. Zunächst einmal müssen wir verhindern, dass
Teheran in den Besitz von Atomwaffen gelangt. Wenn die Weltgemeinschaft einig und entschlossen Druck ausübt, können wir dies sogar mit diplomatischen Mitteln erreichen. Ich glaube, dass Iran letztendlich einsichtig ist, anders als Nordkorea. Was Syriens Präsident Assad angeht: Der redet über Frieden, aber gleichzeitig verstärkt er seine Unterstützung für die schiitische Terrororganisation Hisbollah im Libanon - und beherbergt in Damaskus die Hauptquartiere der palästinensischen Terrororganisationen.
SPIEGEL: Sehen Sie dennoch Anzeichen für den so vielbeschworenen demokratischen Wandel in Nahost?
Katsav: Es gibt positive Veränderungen, aber der Erneuerungsprozess hat erst begonnen. Noch immer sind die Gesellschaften tief gespalten. Im Libanon sehen wir Kundgebungen für Demokratie wie für die Unabhängigkeit von Syrien, aber auch Solidaritätsaufmärsche für die Hisbollah.
SPIEGEL: Und aus dem Irak kommen jeden Tag neue Horrormeldungen über Terroranschläge.
Katsav: Das Leiden der irakischen Bevölkerung berührt mich sehr. Dennoch entwickelt sich das Land insgesamt zum Guten. Wir hoffen, dass sich die demokratischen Kräfte durchsetzen. Von der neuen irakischen Regierung haben wir - anders als bei Saddam Hussein - noch kein einziges feindliches Wort gehört.
SPIEGEL: Sind die Palästinenser nach der Wahl des gemäßigten Arafat-Nachfolgers Mahmud Abbas schon weiter mit der Demokratisierung?
Katsav: Der Regimewechsel in Ramallah hat uns eine einzigartige Gelegenheit für Frieden und Verständigung gebracht. Ich vertraue Abbas. Der neue Palästinenserchef kann tatsächlich unser Partner sein. Mit ihm können wir verhandeln. Das Problem sind die Extremisten, gegen die muss er hart durchgreifen.
SPIEGEL: Premier Ariel Scharon klagt aber, dass Abbas genau das nicht tut.
Katsav: Abbas hat den Terror als katastrophalen Fehler auch für das palästinensische Volk bezeichnet. Das war ein guter Anfang. Er muss seine Versprechen jetzt umsetzen. Wenn Abbas den Terror stoppt, könnten wir einen historischen Wandel herbeiführen. Wenn nicht, bedeutet das ein Desaster für beide Völker.
SPIEGEL: Immerhin hat der Autonomieführer für relative Ruhe gesorgt.
Katsav: Aber die Drohungen gehen weiter, jeden Tag kann es zu neuen Anschlägen kommen.
SPIEGEL: Wenn Israel so sehr Frieden will, warum baut die Regierung dann die jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland weiter aus? In den Augen der Palästinenser ist das eine ständige Provokation.
Katsav: Nun mal langsam. Über die Siedlungen wird erst in Friedensverhandlungen entschieden. Die haben aber noch nicht einmal begonnen.
SPIEGEL: Doch bereits jetzt verlangt die Roadmap, der internationale Friedensplan, dass Ihr Land den Siedlungsbau einfriert. Selbst der engste Freund Israels, US-Präsident George W. Bush, kritisierte, dass Sie das nicht erfüllen.
Katsav: Punkt eins der Roadmap fordert erst einmal von den Palästinensern, den Terror zu stoppen. Außerdem stehen wir bereits vor einem wirklich großen Schritt: Wir lösen alle 21 Siedlungen im Gaza-Streifen auf sowie 4 im Westjordanland. Wir werden uns an unsere Verpflichtungen in der Roadmap halten.
SPIEGEL: Die Besiedlung des Gaza-Streifens galt über 30 Jahre lang als zionistische Heldentat. Wie erklären Sie den Siedlern nun, dass sie von dort wieder abziehen müssen?
Katsav: Ich verstehe die Gefühle der Siedler. Sie sind nach Gaza gegangen, weil alle israelischen Regierungen seit 1967 sie dazu ermuntert haben, egal ob von der Arbeitspartei geführt oder vom Likud. Und jetzt sagen wir: Kommt nach Hause. Wir müssen die Siedler um Verzeihung bitten.
SPIEGEL: Geben Sie damit nicht zu, dass die Okkupation ein Fehler war?
Katsav: Richtig ist, dass die Besatzung die israelische Gesellschaft gespalten hat. Die einen wollen die Gebiete auf Dauer behalten. Die anderen sagen schon länger, wir müssten sie aufgeben ...
SPIEGEL: ... Scharon will durch die Aufgabe von Gaza den Großteil der Siedlungen im Westjordanland retten.
Katsav: Über den endgültigen Status der Gebiete wird in Friedensverhandlungen entschieden.
SPIEGEL: Seit Monaten gibt es wütende Proteste gegen den Abzug. Stürzt Israel in eine innere Krise?
Katsav: Die Räumung der Gaza-Siedlungen wird traumatisch sein für unsere Nation - viel schmerzlicher als der Abzug aus den Siedlungen auf dem Sinai, die wir 1982 nach dem Friedensschluss mit Ägypten evakuierten. Auf dem Sinai lebten Israelis gerade mal 20 Jahre, die Siedlungen im Gaza-Streifen aber sind schon fast 40 Jahre alt. Damals konnten wir einen Friedensvertrag vorweisen; heute sagen die Siedler, wir ziehen ab und bekommen nichts dafür.
SPIEGEL: Premier Scharon warnt bereits vor einem Bruderkrieg.
Katsav: Einige 100 000 Israelis mögen gegen das Abzugsprogramm sein, es wird viele Demonstrationen geben. Am Ende aber werden die Siedler akzeptieren, dass die Einheit der Gesellschaft und die Demokratie wichtigere Werte sind. Deshalb sage ich: Einen Bürgerkrieg wird es nicht geben.
SPIEGEL: Viele aber erinnert die derzeitige politische Hetze an den Hass vor der Ermordung von Jizchak Rabin im Jahr 1995.
Katsav: Unglücklicherweise gibt es tatsächlich Parallelen zu damals. Wir haben es mit ein paar hundert gefährlichen Extremisten zu tun. Aus ihren Reihen könnte wieder ein verrückter, fanatischer Einzelgänger wie der Mörder Rabins kommen. Davor habe ich Angst.
SPIEGEL: Israels Staatsgründer David Ben-Gurion warnte schon bald nach dem Sechs-Tage-Krieg
1967, die Besatzung werde eine erdrückende Bürde für Ihr Land.
Katsav: Jede Aussage gehört in ihre Zeit. Wir aber müssen mit der Realität von heute umgehen, und die ist noch immer geprägt von Terror und Blutvergießen. Seit 57 Jahren hatten wir noch keinen wirklich friedlichen Tag. Ich bin sehr betroffen von dem Hass und der Hetze der Palästinenser gegen uns. Auch wenn sich die Führungen angenähert haben, das Verhältnis zwischen beiden Völkern war noch nie so schlecht wie heute.
SPIEGEL: Wie lassen sich die Gräben überwinden?
Katsav: Wir sind zum Kompromiss bereit, das haben wir seit den Verträgen von Oslo 1993 gezeigt. Erstmals ist die israelische Regierung sogar willens, einen künftigen palästinensischen Staat anzuerkennen. Lassen Sie mich zum Beleg für unsere Versöhnungsbereitschaft an die Geschichte unserer beiden Länder erinnern: Nur sieben Jahre nach der Schoah unterzeichneten Deutschland und Israel das Wiedergutmachungsabkommen und begannen die historische Verständigung.
SPIEGEL: Was bewegte Israel damals zu diesem Schritt?
Katsav: Ben-Gurion glaubte Adenauer, dass die Bundesrepublik ein anderes Deutschland geworden war. Zudem befanden wir uns in einer heiklen Lage, die arabischen Staaten wollten Israel zerstören. Die deutsche Unterstützung war damals für uns sehr entscheidend im Überlebenskampf.
SPIEGEL: Im Mai feiern Deutschland und Israel 40 Jahre diplomatische Beziehungen. Wie nah sind sich beide Länder heute?
Katsav: Sehr nah. Aber ich sehe ein großes Problem im wieder anwachsenden Rechtsextremismus in Deutschland. Die Berichte, die ich bekomme, besagen, dass der Antisemitismus zunimmt. Ich bin tief besorgt über diese Tendenz in ganz Europa. Aber gegenüber Deutschland habe ich natürlich besondere Erwartungen.
SPIEGEL: Sie meinen, die Regierung in Berlin unternimmt nicht genug, um Rechtsextreme in die Schranken zu weisen?
Katsav: Ich weiß um die Maßnahmen, die die Bundesregierung im Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus ergreift. Allerdings kann ich nicht verstehen,
wie es möglich ist, dass Parlamentsmitglieder in Sachsen sich weigern können, des Holocausts zu gedenken. Oder nehmen Sie diese grässlichen Neonazi-Demonstrationen: Demokratie heißt doch nicht, dass man alles sagen und tun darf. Antisemitische und rassistische Äußerungen und Aktionen sollten generell verboten werden. Als Präsident des jüdischen Staates ist es für mich unerträglich, wieder Nazi-Fahnen in deutschen Straßen zu sehen. Und wieder sagen Neonazis öffentlich, Juden hätten kein Existenzrecht. Das können wir nicht tolerieren. Dagegen muss die deutsche Regierung mehr tun.
SPIEGEL: Deutschland beschäftigt sich zunehmend auch mit seiner Rolle als Opfer im Zweiten Weltkrieg, etwa bei der Bombardierung Dresdens oder der Vertreibung aus den Ostgebieten. Glauben Sie, dass dies eine berechtigte Diskussion ist, oder haben Sie Sorge, dass Deutschland auf diese Weise seine eigene Schuld zu relativieren versucht?
Katsav: Solange die Diskussion im richtigen historischen Kontext geführt wird, sehe ich kein Problem darin, sich mit dem deutschen Leid zu befassen. Aber das Problem bei dieser Debatte ist doch, dass Neonazis sie für ihre Propagandazwecke ausnutzen, um die Leiden des jüdischen Volkes zu verharmlosen. Bei allem Respekt: Sie können die Opfer von Dresden nicht mit den Opfern von Auschwitz gleichsetzen. Nichts ist mit dem Massaker an sechs Millionen Juden vergleichbar.
SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führten die Redakteure Dieter Bednarz und AnnetteGroßbongardt in Jerusalem.* Im März 1960 im New Yorker Hotel Waldorf Astoria.