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ENGLAND Urne und Kugel

Die Terrorbombe vor dem Londoner Kaufhaus »Harrods« zeigt: London ist Hauptangriffsziel der IRA geworden. *
aus DER SPIEGEL 52/1983

Im Londoner Luxuskaufhaus »Harrods« waren unter anderem 60 Kilometer Lametta, elf Tonnen »Harrods«-Schokolade, dreieinhalb Tonnen Räucherlachs und 250 Kilogramm Kaviar verkauft worden. Da blies der »Daily Telegraph« zu noch größerem Ansturm auf den Konsumtempel mit eigener Bank, Immobilien-Abteilung, sechs Restaurants und sieben Dolmetschern.

Denn Eile, so die konservative Tageszeitung am letzten verkaufsoffenen Sonnabend vor Weihnachten, sei geboten. Schon würden bei »Harrods« einige Artikel knapp: Brillen etwa, mit denen man die Augen während des Zwiebelschneidens schützen kann.

Ansonsten zeigte sich »Harrods« seinem Motto »Omnia omnibus ubique« ("jedem alles überall") gewachsen: In der Spielwarenabteilung warteten Range-Rover-Modelle mit Rasenmähermotor zum Stückpreis von rund 10 000 Mark auf spleenige, reiche Eltern, bei den Badezimmereinrichtungen elektrisch verstellbare Spiegel auf kaufkräftige Gentlemen und Ladys.

Doch »Harrods«, Hoflieferant der Königin und ihres Prinzgemahls, wurde noch gleichentags zum Schlachtfeld. Neben Eingang 4, vor den Schaufenstern der Abteilung Herrenmode, explodierte eine mit Zeitzünder eingestellte Autobombe. Sie zerriß den blauen Austin 1300, in dem sie deponiert war, erschütterte die Terrakotta-Fassade an der Ostseite des Kaufhauses und schleuderte die grünen Baldachine von den Fenstern.

Eine orangefarbige Stichflamme, Blechteile und Glassplitter töteten fünf Menschen, unter ihnen eine Polizistin und einen Sergeanten der Metropolitan Police, der das Auto inspizieren wollte, sowie drei »Harrods«-Kunden. So mächtig war die Wucht der Explosion, daß der Körper eines Getöteten auf das Dach eines gegenüberliegenden, sechsstöckigen Gebäudes flog.

91 Menschen, darunter elf Kinder, wurden zum Teil schwer verletzt. Hunderte von Weihnachtseinkäufern rannten zur Brompton Road in Sicherheit, vorbei an Gullys, in denen sich das Blut der Opfer mit dem Regenwasser mischte. »Ich habe viele Schauplätze von Bombenanschlägen gesehen«, sagte vor Ort David Powis, Vizepräsident von Scotland Yard, »dieser ist der schlimmste.«

Der »Bombenblitz auf Harrods« ("Sunday Times") war der schwerste Schlag, der seit Juli 1982 gegen die Briten-Hauptstadt geführt wurde. Damals zündeten Terroristen der verbotenen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) gleichfalls einen blauen Bomben-Austin, als 16 Leibgardisten der »Household Cavalry« den Hyde Park entlangritten. Drei Soldaten und sieben Pferde wurden getötet. Wenig später ging unter dem Musik-Pavillon im Regent's Park eine zweite IRA-Ladung hoch und zerfetzte fünf Mitglieder einer Armee-Band.

Zwar reagierte London damals, als sogleich wieder die Kavallerie ausritt, wie auch vorige Woche mit lässigem Durchhaltewillen: »Harrods« öffnete am Montag, als sei nichts geschehen, erneut seine Tore. Und auch die zusätzliche Entsendung von 700 Polizeibeamten in die Einkaufsschluchten fiel optisch in der Sieben-Millionen-Metropole wenig auf.

Neu dagegen war, daß sich die IRA-Führung fernschriftlich zu dem Gemetzel meldete - mit einem Statement, das auf Verwirrung bei den Terroristen schließen ließ. Der »Harrods«-Anschlag, so tat der IRA-Armeerat kund, das höchste Gremium der Untergrundorganisation, sei von ihm »nicht autorisiert« gewesen. Gerry Adams, Chef des politischen IRA-Flügels Sinn Fein in Belfast, sprach von einem »Unglücksfall«.

IRA-Sympathisanten wiesen darauf hin, daß 40 Minuten vor der Explosion ein telephonischer Warnruf im Londoner Zentralbüro eines Hilfsverbandes für Lebensmüde eingegangen sei.

Doch Yard-Mann Powis verurteilte den Anruf als »zynisches Manöver«, da das Kennzeichen des Bomben-Fahrzeugs nicht genannt wurde und obendrein von zwei weiteren Sprengsätzen innerhalb des Kaufhauses die Rede war. Das »Harrods«-Management entschied nach einer ergebnislosen Suchaktion in dem Gebäude, keine Evakuierung der 5000 Angestellten und 20 000 Kunden vorzunehmen - ein richtiger Entschluß, da viele der Flüchtenden dann unweigerlich in die Explosionswelle gelaufen wären.

Das »Harrods«-Attentat paßt in die Strategie von früheren Bombenangriffen der IRA. Der Angriff auf London begann im März 1973, als zwei Autobomben vor dem Scotland-Yard-Gebäude und vor dem Kriminalgericht Old Bailey explodierten. Ein Fußgänger wurde getötet, 238 Menschen, unter ihnen 44 Schulkinder, erlitten Verletzungen.

Vorweihnachtliche IRA-Vorstöße gegen Kaufhäuser und auch Hotels (zwei Gäste wurden 1975 im Londoner »Hilton« Opfer einer IRA-Bombe), gegen Touristenattraktionen wie Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, aber auch Anschläge auf Schnellimbisse und Militärkasernen forderten in London bisher 81 Todesopfer.

1981 intensivierte die IRA ihre Angriffe, um den Hungertod von zehn inhaftierten Kämpfern im Maze-Gefängnis bei Belfast zu rächen. Im Stadtteil Chelsea detonierte nach den Bombenanschlägen

in den königlichen Parks eine Nagelbombe und tötete eine Passantin und ein Kind.

Ein anderer Sprengsatz explodierte unter dem Auto des Generals Steuart Pringle, dem Kommandeur der Elitetruppe Royal Marines. Pringle verlor ein Bein und schickte seine Truppe später als Prothesenträger in die Falkland-Schlacht.

»Eine Bombe in London ist soviel wert wie 100 Bomben in Belfast«, feierten die »Republican News«, das in Belfast verteilte Wochenblatt der IRA, die neuen Anschläge. Jede weitere Explosion werde beweisen, daß die Verteidigungslinien des Gegners überwindbar seien - im Gegensatz zu den Behauptungen von Nordirland-Minister James Prior, der vor kurzem erst verkündet hatte, daß die IRA dank bezahlter Überläufer angeschlagen sei wie nie zuvor.

Außerdem stellt sich London als das attraktivste Ziel dar, seit die britischen Nordirland-Truppen kaum noch Angriffsflächen bieten: An die Stelle der 10 000 Soldaten in der Krisenprovinz, die ihre Kasernen nur noch selten verlassen (und in den Grenzgrafschaften zur Republik Irland sogar den Müll per Helikopter ausfliegen lassen), tritt in zunehmendem Maß die nordirische Polizei Royal Ulster Constabulary (RUC).

Dafür erleiden die einheimischen Uniformierten auch die höchsten Verluste: Allein seit Oktober kamen elf RUC-Beamte um, jedoch kein britischer Soldat - ein Ergebnis, das die Londoner Bombentruppe umzukehren sucht:

Eine Woche vor dem »Harrods«-Anschlag zündeten IRA-Kämpfer einen Zehn-Kilo-Sprengsatz in einer Artillerie-Kaserne, wobei ein Wachgebäude teilweise zerstört wurde. Wundersamerweise kamen vier diensttuende Soldaten mit leichten Verletzungen davon, obwohl der Detonationsdruck Ziegelsteine durch die Fenster gegenüberliegender Kasernenblöcke schleuderte.

Die Londoner Zelle der IRA, die scheinbar wahllos gegen Militärs und Zivilisten bombt, trifft politisch aber auch Gerry Adams, den neuen Sinn-Fein-Führer. Adams, der mit randloser Brille, gepflegtem Bart und Fischgrätenjacketts nicht gerade aussieht wie ein Revolutionär, übernahm Mitte November die Leitung der Partei und löste den in Dublin ansässigen, vorwiegend mit Traditionen und öffentlichen Umzügen beschäftigten Sinn-Fein-Präsidenten Rory O'Brady ab.

Adams führt eine Gruppe radikalsozialistischer Neuerer an, die eine Doppelstrategie von »Wahlurne und Kugel« propagiert - mit mehr Nachdruck auf Wahlerfolgen als auf Bombenanschlägen und Feuerüberfällen.

Militärisch und vom Werbeeffekt her halten die Adams-Genossen Angriffe auf Unbeteiligte für sinnlos und den politischen Zielen - Abzug der britischen Truppen, Vereinigung der Ulster-Grafschaften mit der Republik Irland im Süden - nicht gerade zuträglich.

Doch Adams, dem ein von »Straßenkomitees« und »Distrikträten« kontrolliertes Irland-Parlament vorschwebt, geriet durch die Londoner Attentate nur acht Wochen nach der Wahl zum neuen Sinn-Fein-Führer doppelt unter Druck: Die fanatischen IRA-Bomber bewiesen vor »Harrods«, daß sie von Mäßigung nichts wissen wollen. Die Regierungen in Dublin und in London wiederum erwägen, Sinn Fein wegen der »Harrods«-Bombe zu verbieten.

»Andernfalls besteht die Gefahr«, sorgt sich Nordirland-Minister Prior, »daß aus Irland ein zweites Kuba wird - vor der Küste Großbritanniens.«

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