USA: »Komisch, wenn so regiert wird«
Seine Krise begann mit seinem größten Auftritt. Am 30. November. kurz zuvor von einer zweiten China-Tour zurückgekehrt, trat Henry A. Kissinger vor die babyblauen Vorhänge im Briefing Room des Weißen Hauses und stellte sich für 45 Minuten den Journalisten.
Das hatte es zuvor noch nie gegeben. Stets hatten sich die engsten Berater amerikanischer Präsidenten im Hintergrund gehalten, stets am Ohr des Präsidenten. stets aber auch von einem Schleier des Mysteriösen umgeben.
Das galt für Harry Hopkins. den engsten Berater Franklin D. Roosevelts, ebenso wie für Sherman Adams, den Eisenhower-Intimus; das galt für McGeorge Bundy. der Kennedy und Johnson beriet, und das galt knapp drei Jahre lang auch für Nixons Henry Kissinger. Schlagzeilen hatte er vorwiegend auf den Gesellschaftsseiten der US-Presse gemacht, die penibel registrierte, mit welchen Schönen sich der Professor ins Party-Leben der Hauptstadt stürzte.
Doch nun zerriß der Schleier. nun wurde jedermann deutlich, was man schon immer behauptet hatte: Unter Richard Nixon sind die klassischen Ministerien für Äußeres und Verteidigung zu Erfüllungsgehilfen des in Deutschland geborenen Intellektuellen Kissinger abgesunken.
»Welch eine Schau«, begeisterte sich der sonst stets kritisch-distanzierte Kolumnist James Reston nach der Weltschau des Nixon-Intimus. »Es ist schon komisch, wenn so regiert wird. Aber so sieht's wirklich aus, und jetzt weiß man"s endlich.«
State Department und Pentagon waren. verständlich, weniger begeistert. Sie konnten dem Professor ohnedies nicht verzeihen, daß er zum Beispiel von seiner ersten Geheim-Reise nach Peking nicht einmal den Außenminister William Rogers informiert hatte; sie nahmen ihm ohnedies übel, daß er- gegen den Widerstand zahlreicher Militärs -- den Präsidenten auf den Rückzug aus Vietnam festgelegt hatte.
Daß Kissinger nun auch noch vor die Presse trat und sich zum Sprecher der Regierung machte, verstärkte den Unmut der Beamten. Sie sannen auf Rache.
Seit dem Jahreswechsel haben sie endlich Genugtuung. Nicht mehr sie werden jetzt als machtlose Marionetten verspottet, im Kreuzfeuer steht jetzt der allmächtige Henry A. Kissinger.
Denn seit dem 30. Dezember veröffentlicht der Journalist Jack Anderson -- dessen tägliche Klatsch-Kolumne »Washington Merry-Go-Round« (etwa: Washingtoner Karussell) von rund 700 Zeitungen nachgedruckt wird und der seine Aufgabe sonst eher darin sieht. die Mülltonnen des FBI-Chefs Hoover durchwühlen zu lassen, um feststellen zu können, daß der Top-Cop der Nation die Whisky-Sorte »Chivas Regal« bevorzugt -- mit schöner Regelmäßigkeit Auszüge aus geheimen Regierungsdokumenten.
Diese Dokumente -- Protokolle von Sitzungen der »Washington Special Action Group«, die unter Kissingers Leitung die amerikanische Haltung im indisch-pakistanischen Krieg diskutierte -- belasten neben dem Präsidenten vor allem dessen graue Eminenz.
Nixon, so belegen die Dokumente, ergriff keineswegs erst nach reiflicher Überlegung, sondern spontan Partei für die Diktatur Pakistan und gegen die Demokratie Indien.
Kissinger, so ergibt sich aus den Anderson-Papieren, belog sogar die Nation, um wenigstens den Anschein amerikanischer Neutralität im südasiatischen Krieg zu wahren. Kissinger vor seiner Action Group:
Der Präsident macht mir alle halbe Stunde die Halle heiß, weil wir nicht energisch genug mit Indien umspringen ... Er möchte für Pakistan Partei ergreifen. Und:
Wir machen gar nicht den Versuch, uns unparteiisch zu verhalten. Der Präsident hält Indien für den Aggressor.
Kurz darauf jedoch versicherte derselbe Kissinger vor Journalisten: Es ist behauptet worden, die Regierung sei anti-indisch. Das ist absolut unwahr. Indien ist ein großes Land.
Was Kissingers Ansehen freilich noch mehr schmälerte, war die Enthüllung, daß sein bislang als allmächtig und allwissend geltender Sicherheitsapparat über die Vorgänge in Indien und Pakistan nicht besser informiert war als gewöhnliche Zeitungsleser auch.
Dialog zwischen Kissinger, CIA-Chef Helms und Stabschef Moorer in der Sitzung vom 3. Dezember:
HELMS: Die Paks sagen, Indien greift überall entlang der Grenze an, aber die indischen Stellen sagen, das sei eine Lüge.
KISSINGER: Erobert Indien pakistanisches Gebiet?
HELMS: Ja, kleine Gebiete.
KISSINGER: Ist es möglich, daß die Inder zuerst angriffen und die Paks gerade noch das taten, was sie vor Einbruch der Dunkelheit tun konnten?
MOORER: Das ist zweifellos möglich.
Daraufhin erst forderte Kissinger von der CIA einen Bericht darüber an, »wer wem wann was getan hat«.
Die Experten ·des State Department konnten angesichts solcher Ahnungslosigkeit nur frohlocken (wenngleich nicht auszumalen ist, wie sich die Unwissenheit der Kissinger-Crew in einer Krise hätte auswirken können, die Amerikas sofortiges Eingreifen erforderlich gemacht hätte).
Denn ihre Asien-Spezialisten hatten schon im Frühjahr 1971 auf den bevorstehenden Konflikt hingewiesen und die Regierung aufgefordert, politischen Druck auf den Pakistan-Diktator Jahja Khan auszuüben. Im April bereits kündigte Amerikas Delhi-Botschafter Kenneth Keating den Krieg und ein unabhängiges Bangladesch an. Doch Nixon und sein Kissinger hörten nicht auf die Warnungen.
Vergebens versuchte sich jetzt, nach der Veröffentlichung der Anderson-Papiere, der Pressedirektor des Weißen Hauses, Herbert Klein, vor Kissinger zu stellen: Nixons Intimus hatte schweren Schaden genommen.
Das nährte die Überzeugung. daß der in der Außenpolitik wenig erfahrene Anderson nur Werkzeug von Informanten war, die Kissinger übel wollten. Kolumnist Joseph Kraft: »Die meisten Unterlagen deuten darauf hin, daß der wahre Grund ein gemeiner bürokratischer Aufstand gegen ... Henry Kissinger ist.«
Daß sie aus jenen Ministerien kommen, die sich von Kissinger unterdrückt fühlen, deutete Anderson in einem Fernsehinterview selbst an: »Es gibt eben Leute ... die nicht für Henry Kissinger arbeiten, die nicht von Henry Kissinger bezahlt werden. Ich weiß nicht, warum sie Loyalität gegenüber Henry Kissinger empfinden sollten.«
Daß die Attacke auf den Nixon-Intimus Erfolg hat, scheint freilich zweifelhaft. Der Intellektuelle Kissinger ist dem Pragmatiker Nixon längst unentbehrlich geworden.
Nicht Kissingers Stuhl wird wackeln. so argwöhnen amerikanische Journalisten, »der Präsident und Dr. Kissinger«, so Joseph Kraft. »werden nun eben die Probleme noch mehr denn je für sich behalten«