Zur Ausgabe
Artikel 26 / 61

ERZIEHUNG / SEXUALITÄT Vatis Zipfelchen

aus DER SPIEGEL 53/1970

Fünfzehnjährigen Mädchen schildert der Autor einer überkonfessionellen Aufklärungsschrift 107 Zeilen lang die Paarungs-Praktiken von Känguruhs, Affen, Fischen, Katzen, Vögeln, Reptilien und Amphibien. Dann kommt er zur Sache -- mit einem einzigen Satz:

»Die Vorgänge der geschlechtlichen Fortpflanzung sind für alle Lebewesen in der Hauptsache dieselben, nur sind sie beim Menschen von tiefen und edlen Gefühlen begleitet.«

Ein evangelischer Kollege erklärt die Machart angesichts der mütterlichen Anatomie: »Weiter unten, im Brustraum, da könntet ihr das Herz betrachten, das Tag und Nacht so treu für euch schlägt; und noch etwas tiefer, da würdet ihr zwei wunderbare Kästlein finden, und in diesen eine Anzahl allerliebster runder Eierchen, aus denen neue Kinderlein werden. Die Kästchen sind verschlossen, und ratet mal, wer darf sie wohl öffnen? Der Vater!«

Die beiden Zeugungs-Geschichten entstammen Broschüren, die Sexualaufklärung mit religiösem Drall versuchen. 137 dieser katholischen, evangelischen oder überkonfessionellen Hefte (praktisch beinahe das gesamte gegenwärtige Angebot) hat Friedrich Koch, Dozent für Sexualpädagogik an der Universität Hamburg, jetzt analysiert. In dieser Arbeit, die Ende Februar als Buch erscheint*, urteilt Koch über den Sex aus frommen Federn: »In keinem Bereich der Sexualunterweisung in der Broschürenliteratur manifestiert sich so klar die anti-

* Friedrich Koch: »Negative und positive Sexualerziehung. Eine Analyse katholischer, evangelischer und Oberkonfessioneller Aufklärungsschriften«. Verlag Quelle & Meyer, Heidelberg; etwa 150 Seiten; etwa 15 Mark.

sexuelle Haltung wie in der Entstellung des Zeugungsgeschehens.«

Daß die Autoren der religiös gehaltenen Sex-Schriften weitaus mehr vernebelnde Schwafeleien als aufklärende Informationen liefern, verwunderte den Analytiker Koch spätestens dann nicht mehr, als er ihre Berufe erforscht hatte: So sind mindestens 41 der 69 untersuchten katholischen Broschüren von Geistlichen geschrieben.

Die 27 evangelischen Hefte wurden zumeist von Ärzten, die 41 überkonfessionellen Schriften zumeist von Pädagogen verfaßt. Doch auch sie sind streng religiös orientiert; und nahezu alle Autoren haben eines gemein: Die Erkenntnisse der modernen Pädagogik, Psychologie und Sexualwissenschaft werden von ihnen ausgeklammert. Ihre Quelle ist die Bibel, vor allem wenn es gilt, die Sexualität zu verteufeln und für jedes Lustgefühl eine Strafandrohung parat zu haben.

Die Einschüchterung beginnt, sobald sich das Kind für sexuelle Fragen interessiert. So warnt ein katholischer Autor: »Hüte dich auch vor einer ungesunden Neugier, die immer und immer wieder etwas darüber lesen will, wenn es auch an und für sich einwandfreie Bücher sind. Auch die beste Medizin wird gefährlich, wenn du zuviel davon nimmst.«

Nur wenige Katholiken mögen Aufklärung so weit treiben, daß sie die Geschlechtsorgane korrekt als Glied und Scheide bezeichnen. Die meisten verfallen In eine Art Baby-Deutsch und dichten dem Jungen ein Pfiffeli, Stäbchen oder Spitzl an, dem Vater dagegen teils ein Zipfelchen, teils einen Zauberstab. Andere schließlich halten überhaupt nichts von irgendwelchen Bezeichnungen, gehen dafür aber das Thema von allerhöchster Warte an: »Der liebe Gott hat Buben und Mädchen verschieden gemacht. Im Mädchen fangen, wenn es größer wird, die Organe, die nur es hat -- der Bub aber nicht -, für einige Tage zu bluten an.«

Läßt sich die Menstruation ohne Tabu-Vokabeln wie Gebärmutter nur mühsam abhandeln, so gelingt dieses Ausweichmanöver bedeutend leichter bei der Hauptfrage der Kleinen nach der Herkunft der Kinder. Ein katholischer Autor instruiert die Eltern so: »Ich würde gleich die richtige Antwort geben: vom lieben Gott.«

Erheblich detailfreudiger zeigen sich vor allem katholische Aufklärer beim Stichwort Geburt. Offensichtlich angespornt von der alttestamentlichen Forderung »Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären« übertreffen sie sich in grauenerregenden Schilderungen des Wehenschmerzes. Beispiel: »Wenn nun die neun heiligen Monate um sind, kommt für die Mutter die schwerste Stunde ihres Lebens ... Der arme Leib« wird manchmal »geradezu zerrissen ... Ja, die Schmerzen sind mitunter so groß, daß der armen Mutter das Herz bricht und sie stirbt.«

Zwar wurde eine derartige Todesursache noch nirgends klinisch registriert, doch wenn es um Aufklärung geht, nehmen es die Priester mit der Medizin nicht sonderlich genau. So wird beispielsweise von keinem erwähnt, daß schmerzarme Geburten längst durch Entspannung oder Medikamente möglich und üblich sind.

Im Überbetonen des Schmerzes sieht Pädagoge Koch die Absicht der Priester, kindliche Wißbegier zu stoppen: »Das intellektuelle Bedürfnis nach Klarheit über körperliche Vorgänge wird in die Bahn empfindsamen Nacherlebens gedrängt.« Die Kinder, denen so eingeimpft wird, was sie ihren Müttern angetan haben, schweigen mit schlechtem Gewissen.

Diese »Strategie der Unterdrückung« (Koch) kristallisiert sich bei einem Vergleich, wie oft jeweils Zeugungslust und Geburtsschmerz in der religiös gefärbten Aufklärungsliteratur erwähnt werden, besonders deutlich heraus: Bei 76 Zeugungs-Beschreibungen war von Lust nur in 22 Fällen die Rede, während bei 80 Geburtsdarstellungen In 61 Fällen Schmerzen, Angst und Gefahren erläutert wurden.

Daß die priesterlichen Sex-Aufklärer dazu neigen, seelische und körperliche Lustempfindungen zu verschweigen, hält Koch für »ideologisch bedingt« und nicht für zölibatäres Unvermögen: Selbst überkonfessionelle Schriften befolgen diese Taktik mit entsprechend verklemmter Diktion: »Wenn die Eltern ein Kind haben wollen«, so sieht es Aufklärer Hans Zulliger, »steckt der Vati sein Zipfeichen durch das Törchen der Mutti, und die Samenflüssigkeit mit den Sämchen fließt aus.« Dazu Koch: »Die Darstellung der Vereinigung von Mann und Frau nimmt denn auch mitunter einen Charakter an, der in seiner mechanistischen Akzentuierung eher an die Gebrauchsanweisung für eine Münzwaschmaschine als an die Beschreibung des Geschlechtsverkehrs erinnert.«

In keiner der 137 Schriften finden sich demgemäß liberale oder auch nur wertfreie Äußerungen zum vorehelichen Verkehr. Während die meisten Autoren immer noch verurteilen, was von den meisten Unverheirateten längst praktiziert wird, siedelt ein überkonfessioneller Aufklärer die Jugendliebe gar im Bereich der Utopie an: »Vorehelicher Geschlechtsverkehr steht unter dem Zeichen der Angst und Furcht vor dem Kind, eine Wesensbegegnung ist daher nicht möglich.« Das Gros der Schriften verschweigt nämlich die Existenz empfängnisverhütender Mittel wie Pille und Präservativ, oder es verteufelt sie als Sünde, Mißbrauch und Unrecht.

Doch ob mit oder ohne Pille -- wer die Liebe nicht bis zum Empfang des Trauscheins verschiebt, hat nach Ansicht der Broschüren-Macher stets Übles zu erwarten. Als häufigste Strafandrohung wird Gefahr für die spätere Ehe genannt. So mutmaßt ein überkonfessioneller Autor: »Unabsehbares Leid für das Mädchen selbst, für den zukünftigen Mann und mittelbar auch für die Kinder kann also die Folge eines solchen Abenteuers sein.«

Dem Mann freilich wird der Fehltritt leichter nachgesehen, auch von einer katholischen Autorin, die eigens betont, »daß eine Frau tiefer fallen kann als ein Mann und daher besser auf ihre Schritte achtgeben muß. Auf ihren Ruf, ihre Ehre ...« Und Weihbischof Hünermann selig hievt den Geschlechtsgenossen gar auf ein patriarchalisches Podest: »Als Haupt der Familie ist er im Kreise der Seinen der Stellvertreter Gottes. Hier soll er König sein im schönsten und edelsten Sinne des Wortes.«

Ähnliches Sprachgut aus der vorindustriellen Epoche entdeckte der Hamburger Forscher Koch in allen gesammelten und gesichteten Broschüren. Dort waren auch sämtliche Voraussetzungen für negative Sexualerziehung abgedruckt: laut Koch die »Prinzipien Schwelgen, Nicht-Hinlenken, Ablenken, Aufschieben der Antwort und Erweckung von Furcht und Angst«.

Die relativ hohen Auflagen der Kleinschriften (durchschnittlich 100 000), ihr niedrig gehaltener Preis sowie der kirchlich geförderte Vertrieb sorgen für weite Verbreitung. Entsprechend hoch taxiert Koch auch den »möglichen« Schaden ein, den die Traktate anrichten können: Nach den gesicherten Erkenntnissen der Psychoanalyse diene eine negative Sexualerziehung »zur Aufrechterhaltung überlieferter Autoritätsstrukturen«, bewirke aber auch »erhöhte negative Sexualisierung und steigende Aggressionsneigungen, die auf Abfuhr drängen«.

Kochs Fazit: »Geschlechtserziehung gewinnt somit unmittelbar die Dimension politischer Erziehung.« Daß die frommen Autoren für eine derartige Aufgabe denkbar ungeeignet sind, glaubt Koch aus dem »manifesten Untersuchungsmaterial« nachgewiesen zu haben.

Eine Frage freilich bleibt offen: Der Hamburger Wissenschaftler kann eher bezweifeln als beweisen, daß die Broschüren-Verfasser den von ihnen angekurbelten »Unterdrückungsmechanismus der negativen Sexualerziehung« überhaupt durchschaut haben.

Zur Ausgabe
Artikel 26 / 61
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren