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Briefe

Verantwortung vor Gott
aus DER SPIEGEL 11/1972

Verantwortung vor Gott

(Nr. 8/1972, Günter Gaus: »Ruhland und was man lernen könnte")

»Aber durfte man wirklich annehmen, wir hätten mit dem materiellen Wiederaufbau auch schon die Normalität zurückgewonnen, aus der uns der Nationalsozialismus herausgeworfen hat?«

Als Frage dazu: Wie steht man da, wenn man »die Normalität zurückgewinnt«, aus der der Nationalsozialismus entsprungen ist, und welche Folgerungen muß man daraus ziehen?

Pulheim (Nrdrh.-Westf.) JÖRG ROCKMANN

Ich stimme Herrn Gaus zu, nur hätte er den Stift gut 65 Jahre früher ansetzen müssen. Die beiden Kriege gehören mit ihrer Vorgeschichte zu unserer letzten Vergangenheit.

Laasphe (Nrdrh.-Westf.) AUGUST BODE

Nachdem der SPIEGEL mit Akribie jede halbe Silbe Ruhlands veröffentlichte und auch noch die für die Wahrheitsfindung so wichtigen Wohnhäuser der sogenannten »Sympathisanten« abphotographierte, wundert sich nun Herr Gaus über die »Merkmale übersteigerter Emotionen«, die diesen absurden Schauprozeß begleiten. Das nenne ich den Gipfel der Schizophrenie oder richtiger: Heuchelei.

München ULLA VON USLAR

Mit einem Hieb kann der gordische Knoten jedenfalls nicht gelöst werden, aber auch Nicht-Handeln produziert Konflikte. Einen Konflikt lösen zu wollen setzt voraus, mit ihm leben zu können -- diese Fahrt ist lang, und Gratisbilletts gibt es dazu nicht. Die Prosperität hat gewiß viel verschüttet; solange sich Archäologen finden, ist mir nicht bange.

München S. J. SCHNEEWEIS

Der Satz, per Schauprozeß wolle die Justiz mehr beweisen als nur Ruhlands Schuld, vielmehr Weichen für künftige Verfahren stellen, »gewöhnliche« Verfahren verliefen »beiläufiger«, ist unbewiesen und stellt Legitimes als illegitim hin. Der Prozeß behandelt keine gewöhnliche Alltagskriminalität. Er ist der erste, argwöhnisch und engagiert kommentierte Schritt, mit den verzweifelt unzulänglichen Mitteln des Rechtsstaats das Meinhof-Syndrom aufzudecken, einen bei uns unüblichen, ausgearteten Gruppen-Anarchismus inmitten einer aufgeschreckten, empörten. ratlosen und unschlüssigen Gesellschaft, die ohnedies unvermerkt dabei ist, ihre Wohllebens-Basis anzukratzen, ohne einer menschenwürdigeren gewiß zu sein. Reduzierte Beweiserhebung wäre da ungesetzlich und gegen das Interesse des Angeklagten, dessen Verbindung und Haltung zur Meinhof-Gruppe außer schuld- vor allem strafrelevant sind. Verkürzte Beweise würden das Urteil im Rechtsmittelzug scheitern lassen.

Weichen für künftige Verfahren kann der Prozeß nicht stellen. Dort gilt nur das neu Verhandelte. Frühere Prozesse geben nur Anlaß zu aufklärenden Pro- und Contra-Fragen für alle Beteiligten. Kein Schauprozeß also, es sei denn, schon Sensation genügte dazu. Zweitens: Die Meinhof-Leute gelten heute undifferenziert schon als Verbrecher, obwohl die Menschenrechtskonvention vorschreibt, Werturteile bis zur gerichtlichen Aufklärung zurückzustellen. Spektakuläre Vorgänge erzeugen eine Art rechtlich noch unbewältigter Grauzone: jedermann, medienberieselt. »weiß« bereits, wer was wie getan hat, längst bevor er Endgültiges wissen kann. Je mehr Ruhland erzählt und je mehr Untergrund-Proklamationen wir lesen, um so dunkler wird diese Zone. Doch die vielgerühmte sittliche Überlegenheit des Rechts sollte voreilige Vorverurteilungen ausschließen. Der Rechtsstaat verliert dadurch nicht, er gewinnt eher. Das wiederum beeinflußt das Meinhofvor-der-Tür-Quiz: was ist Begünstigung? Die noch ganz unpluralistische Grundgesetz-Präambel betont unsere »Verantwortung vor Gott«. Bedeutet Tatverdacht trotzdem immer und undifferenziert: man out? Hätte der heilige Martin seinen Mantel mit einem frierenden Verdächtigen nicht teilen dürfen? Erfüllt einfachste mitmenschliche Hilfe für eine Nacht ausnahmslos schon die gesetzliche Begünstigungsabsicht? Setzt diese nicht massivere und anders motivierte Hilfsformen voraus, wie sie vermutlich vorgekommen sind? Bisher wissen wir nur, daß alles das dazu ausreicht, an den Pressepranger zu kommen. Oder erträgt unser durch die Gruppe schwer gekränktes Rechtsgefühl solche notwendigen Fragen schon nicht mehr?

Karlsruhe DR. HEINRICH JAGUSCH*

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