EWG-KLAGEN Verbotene Früchte
In zwei Klagen vor dem EWG-Gericht in Luxemburg will die Bundesregierung Auskunft darüber begehren, ob der Verzehr herkömmlicher Apfelsinen und der Genuß französischen Brennweins durch die Bundesbürger dem Geist der Europäischen Verträge widersprechen.
Beklagt ist in beiden Fällen die Regierung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: die Brüsseler Kommission unter ihrem Präsidenten Walter Hallstein. In den beiden ersten Verfahren, die je gegen die Zollunion angestrengt wurden, wirft Bonn den Brüsselern uneuropäisches Verhalten vor, da sie die zollgünstige Einfuhr von Apfelsinen und Brennwein aus Nicht-EWG-Ländern in die Bundesrepublik unterbunden haben.
Zu ihren Klagen hatten sich die Bundesminister Ludwig Erhard und Werner Schwarz gedrängt gesehen, als die ersten Folgen des kleineuropäischen Mauerbaues sichtbar wurden*.
Auf dem Wege zum späteren gemeinsamen Außenzoll (bei Apfelsinen 20 Prozent) müssen Westdeutschlands Zöllner seit Januar dieses Jahres 13 Prozent Zoll statt bisher zehn Prozent für solche Orangen kassieren, die von Ländern außerhalb des Europa-Klubs geliefert werden.
Importeure EWG-heimischer Früchte brauchen hingegen nur noch sieben Prozent Zoll statt vorher zehn zu entrichten. Tatsächlich aber kann Italien als einziger Apfelsinen-Produzent der Sechser-Union den westdeutschen Bedarf bei weitem nicht decken. Fast 90 Prozent der im vergangenen Jahr von den Bundesbürgern verzehrten 628 000 Tonnen Apfelsinen stammten aus sogenannten Drittländern, überwiegend aus Spanien, Israel und Marokko.
Die Zollerhöhung brachte die bundesdeutschen Fruchthändler auf die Beine. Zwar waren ihnen die neuen Außenzollsätze längst bekannt, aber sie hatten genausowenig wie Ludwig Erhard und Werner Schwarz mit der hartnäckigen Buchstabentreue Brüssels gerechnet.
Immerhin erlaubt der Artikel 25 des EWG-Vertrages von Rom der Kommission einige Großzügigkeit: Sie könnte nach Absatz 3 die Bonner Wünsche nach Zollzugeständnissen erfüllen, »sofern dies auf dem Markt ... keine schwerwiegenden Störungen zur Folge hat«.
Als die Europa-Behörde dennoch Im Januar dieses Jahres den Bonner Antrag ablehnte, vorläufig den alten Zollsatz von zehn Prozent beibehalten zu dürfen, setzten die aufgescheuchten Fruchtimporteure ihren Kölner Verbandsgeschäftsführer Dr. Harald Ditges nach Bonn in Marsch.
Der Frucht-Lobbyist Ditges lief offene Türen ein. In ihren Rechten aus dem EWG-Vertrag verletzt«, verfaßten die Ernährungs-Ministerialen eine neue, diesmal schärfere Eingabe. »Störungen auf dem Markt«, so hielten sie der Kommission entgegen, »müssen vielmehr durch eine Ablehnung des deutschen Antrags erwartet werden.«
Ein hoher Außenzoll, so belehrte das Ernährungsministerium Walter Hallsteins Super-Formalisten, verbessere die Wettbewerbsbedingungen nur dann, wenn die EWG-Erzeuger ohne ihn gegenüber dritten Ländern benachteiligt würden. Das aber sei ganz offensichtlich nicht der Fall.
Schließlich wiesen die Bonner die EWG-Regierung auf eine weitere Bestimmung des EWG-Vertrages hin, wonach die Kommission den Verbrauch in den Mitgliederländern fördern solle. Der Zollaufschlag für rund 90 Prozent der westdeutschen Orangen-Einfuhr hingegen hemme den Konsum, da er die Verbraucher jährlich mit mindestens zehn Millionen Mark zusätzlich belaste.
Aber auch diese stichhaltigen Argumente vermochten die EWG-Regierung nicht aus ihrer staubtrockenen Paragraphenruhe zu schrecken. Allen Ernstes behaupteten die Kommissionäre, Westdeutschlands Zollwunsch gefährde die rationelle Entwicklung der Erzeugung innerhalb der Gemeinschaft.
Tatsächlich werden zur Zeit Im unterentwickelten Süditalien Apfelsinenplantagen angelegt, die Kleineuropa gegenüber Spanien und Marokko autark machen sollen. Brüssels Obst-Protektionisten störten sich nicht daran, daß ein neugepflanzter Apfelsinenbaum frühestens nach fünf Jahren die ersten Früchte trägt.
In einem Schreiben an die Bundesregierung empfahl die EWG-Kommission, die Konsumenten sollten während der Wartezeit zu Äpfeln, Birnen und Pfirsichen greifen, die in Hallsteins kleineuropäischer Paragraphenplantage reichlich vorhanden sind: »Die verschiedenen Obstsorten ... vermögen einander im Verbrauch leicht zu ersetzen.«
Nach fast zwei Monaten Apfelsinenkrieg entschloß sich das Bundeskabinett am 24. September, die Brüsseler EWGRegierung vor dem Luxemburger Gerichtshof anzuprangern.
Damit tritt die Bundesregierung zum zweiten Male seit Bestehen der EWG vor den Luxemburger Kadi. Seit dem 27. Juli bereits schwebt in Luxemburg ein ähnliches Verfahren gegen die Kommission, weil sie die zollgünstige Einfuhr von Brennwein aus dritten Ländern drastisch eingeschränkt hat. Der Antrag der Bundesregierung, die Kommission möge Deutschland ein sogenanntes Zollkontingent von 450 000 Hektoliter Brennwein einräumen und gestatten, daß diese Importe aus dritten Ländern nach dem niedrigeren Tarif, der bis zur Bildung der EWG galt, verzollt werden, war von Brüssel zurückgewiesen worden. Nur 100 000 Hektoliter Brennwein aus Jugoslawien und Griechenland durften zollbegünstigt die Grenze passieren.
Dieser Bescheid der Kommission brachte Westdeutschlands Spirituosenindustrielle in arge Verlegenheit: Zugleich mit der Erhaltung der Außenzollmauer hatte Frankreich eine scheinheilig als Anbauregelung getarnte Aktion eingeleitet, die praktisch auf eine Ausfuhrsperre für französische Brennweine hinausläuft.
Frankreich stoppte seinen Brennwein-Export in der Absicht, die lästige bundesdeutsche Weinbrand-Konkurrenz aus der europäischen Tischrunde zu verdrängen und seinem Kognak ein EWG-Monopol zu verschaffen. Die bundesdeutschen Weinbrenner, etwa Scharlachberg, Asbach, Jacobi und Chantré, sind auf Frankreich-Importe angewiesen, seit der Außenzoll für Brennweine aus dritten Ländern auf Wunsch der Franzosen am 1. Januar dieses Jahres von 4,60 Mark je Hektoliter auf 26 Mark erhöht worden ist.
Bonns EWG-Unterhändler hatten dieser immensen Zollerhöhung erst zugestimmt, nachdem sich Frankreich feierlich verpflichtet hatte, die Bundesrepublik ausreichend mit Brennweinen aus der Kognak-Provinz Charente zu versorgen.
Gleichwohl rief Frankreichs eklatanter Bruch des EWG-Vertrages - die Zollunion soll laut Präambel der Römischen Verträge einen »redlichen Wettbewerb gewährleisten« - die Brüsseler Kommission keineswegs auf den Plan. Die EWG-Regierung, die im Falle des Apfelsinenzolls auf peinlichste Einhaltung des einmal errechneten Außenzolls beharrte, dachte nicht daran, Frankreich wegen des spektakulären Ausfuhrstopps für Brennweine vor die EWG-Richter zu zitieren.
»Im Interesse der deutschen Industrie und der deutschen Verbraucher« entschloß sich die Bundesregierung schließlich, die Kommission zu verklagen, da sie, trotz der französischen Ausfuhrsperre an ihrem Entschluß festhielt, keine Brennweine aus dritten Ländern zu günstigen Ausnahmezöllen hereinzulassen. Die Bundesregierung argumentiert, die Kommission könne so lange nicht auf den neuen Außenzoll für Brennweine pochen, wie Frankreich sich noch ungestraft seinen vertraglichen Verpflichtungen entziehe.
Immerhin scheint die Bereitschaft der Bundesregierung, ihre Rechte aus dem EWG-Vertrag notfalls vor Gericht zu verteidigen, die Nachbarn in Paris beeindruckt zu haben. Kürzlich entschloß sich Frankreichs Landwirtschaftsminister, Edgar Pisani, wenigstens einer weiteren deutschen Klage auszuweichen.
Bis Ende September hatte sich Frankreich entgegen einer Anordnung des EWG-Ministerrats beharrlich geweigert, 350 000 Hektoliter deutsche Qualitätsweine über die Grenze zu lassen. Auf Eingaben der Bundesregierung und der Winzer-Organisationen, in denen auf die EWG-Bestimmungen gepocht wurde, erwiderte Agrarminister Pisani noch im Sommerkühl, solange Frankreichs eigene Weinvorräte nicht erschöpft seien, komme die Einfuhr westdeutscher Weine nicht in Frage.
Erst Anfang dieses Monats, als die Brennwein-Klage dem EWG-Gericht bereits vorlag und die Apfelsinen-Klage beschlossene Sache war, eröffnete Pisani das seit neun Monaten überfällige Einfuhrkontingent für deutschen Wein.
* Die sechs EWG-Staaten umgeben sich stufenweise mit einer (Außen-) Zollmauer, während die Zölle innerhalb der Gemeinschaft, ebenfalls in Stufen, abgebaut werden. Die nach Vollendung des Gemeinsamen Marktes Anfang 1971 gültigen Außenzölle sind in der Mehrzahl nach dem arithmetischen Mittel aus den bisherigen nationalen Tarifen errechnet worden. Weit die Bundesrepublik das niedrigste Zollniveau hat, treffen sie die Erhohungen am stärksten.
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