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UNGARN Verbotenes Paradies

Vom Frühjahr 1986 an dürfen die Ungarn beim deutschen Versandhaus Quelle bestellen - und in heimischer Währung zahlen. *
aus DER SPIEGEL 47/1985

Das dicke Buch gilt in allen Staaten des Ostblocks als kapitalistisches Manifest. In der DDR werden im Schwarzhandel bis zu 20 Mark für den Wälzer bezahlt, in Polen sogar 30: Der Waren-Katalog des bundesdeutschen Versandhauses Quelle aus Fürth in Mittelfranken ist im realen Sozialismus ein unangefochtener Bestseller.

Beim Durchblättern des Bilderbuches aus der westlichen Wunderwelt kriegen Ost-Bürger glänzende Augen: Auf den über 1000 Seiten sind von der Stopfnadel bis zur Waschmaschine, vom Büstenhalter bis zum Homecomputer alle Waren aufgeführt, von denen Konsumenten zwischen Zwickau und Wladiwostok träumen - Wünsche, die ihnen das heimische Marktangebot nicht erfüllen kann.

Das kann das bayrische Versandhaus trotz günstiger Preise zwar auch nur gegen harte Devisen. Aber viele Bürger im östlichen Machtbereich haben über Freunde im Westen längst einen Dreh gefunden, wie sie dennoch an die begehrte Katalog-Ware kommen.

Der Zutritt zum »verbotenen Paradies«, bisher nur möglich über undurchsichtige, offiziell verbotene, in jedem Fall abenteuerliche private Transaktionen, soll in einem Land des sozialistischen Lagers nun ganz legal möglich werden: Im März 1986 eröffnet Quelle in der ungarischen Hauptstadt Budapest eine Dependance.

Ganz neu ist für die Ungarn die Präsenz der geschäftstüchtigen Franken nicht. Schon vor drei Jahren erlaubte das sozialistische Regime dem Versandhaus, in der Budapester Einkaufsstraße Parizsi utca ein Fachgeschäft unter dem Firmenschild »Foto-Quelle« aufzumachen. Kameras, Zubehör und Filme aus dem Westen sind dort im sozialistischen Angebot, freilich zu stolzen Preisen.

Im Gegengeschäft bezieht Quelle schon seit 25 Jahren Waren aus Ungarn: vor allem Daunen für Bettdecken, aber auch Fertig-Textilien, Schuhe und Pelze stehen auf den Importlisten.

Doch den Ungarn, deren wirtschaftliche Öffnung nach Westen seit 1968 vom Ostblock argwöhnisch verfolgt und von der EG mit Handelsschranken behindert wird, reichte diese begrenzte Kooperation nicht mehr aus.

Auf der Suche nach neuen Marktchancen und ständig bestrebt, den Warenexport in den Westen (zur Zeit über 50 Prozent des Außenhandelsvolumens) auszuweiten, schloß im Frühjahr dieses Jahres die ungarische Außenhandelsgesellschaft

Hungarotex mit dem deutschen Handelshaus einen Vertrag, der bislang im Ost-West-Geschäft ohne Beispiel ist.

Quelle, so die Vereinbarung, darf in Budapest und im Städtchen Szombathely in Westungarn Geschäfte einrichten, in denen die Ungarn alle im Katalog aufgeführten Waren bestellen können. Verpackung und Lieferung übernimmt die Firma in Fürth - bezahlt wird von den Kunden in ungarischer Währung, in Forint.

Um den zu erwartenden Ansturm in Grenzen zu halten und, so die Ungarn, »um nicht den Überblick zu verlieren«, kann Quelle aber vorerst nur so viel Waren gegen Forint verkaufen, wie als Gegenwert auf dem ungarischen Guthaben-Konto der Firma steht.

Konkret: Das von Quelle eingerichtete Startkapital von 20 Millionen Mark muß mit Ankäufen ungarischer Waren durch das Versandhaus abgedeckt werden. »Das ist nicht leicht. Wir müssen sehr genau prüfen, was vom ungarischen Exportangebot qualitativ, aber auch quantitativ zu unserem Sortiment paßt«, so Quelle-Pressesprecher Gerhard Propst.

Auch die Prinzipalin des Fürther Familienunternehmens, Grete Schickedanz, die eigens zur Unterzeichnung des Vertrages nach Budapest reiste, warnte in einem Interview des ungarischen Rundfunks vor allzu großen Erwartungen: »Wir müssen langsame Schritte machen.«

Ziel dieser Schritte, im Kooperationsvertrag bereits festgelegt, ist die Gründung einer deutsch-ungarischen Tochtergesellschaft, die unter dem Namen »Forras« (Quelle) in etwa drei bis fünf Jahren selbständig existieren soll - das erste Warenversandhaus auf ungarisch.

Um die im Sozialismus üblichen bürokratischen Hemmnisse und Barrieren abzubauen, war die Staatspartei sogar bereit, für die Kooperationsgeschäfte den Westpartnern die Kapitalmehrheit am gemeinsamen Unternehmen einzuräumen und Sonderabkommen mit den Firmen über Investitionsschutz und Investitionsförderung abzuschließen.

Für Ungarns Wirtschaftsplaner sind erhöhte Anstrengungen im Westexport zwingend geboten. Denn in diesem Jahr mußten sie wegen der ungünstigen Weltwirtschaftslage einen Rückgang ihrer Ausfuhren in den Westen um rund neun Prozent hinnehmen. Die Importe aus dem Westen stiegen dagegen um 25 Prozent.

Ohne zusätzliche Exporte läßt sich das gesteckte Ziel eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts - im neuen Fünf-Jahres-Plan als Priorität noch vor dem wirtschaftlichen Wachstum genannt - nicht erreichen. Die Schulden im Westen ließen sich zwar auch über verminderte Einfuhren abbauen, aber die damit verbundenen Einschränkungen auf dem Binnenmarkt würde die Bevölkerung wohl nicht ohne Protest hinnehmen.

So ist das Pilotprojekt mit Quelle auch ein politisches Zeichen, daß die reformfreudigen Ungarn ihren riskanten Alleingang im Ostblock fortsetzen wollen, »zum Vorteil beider Länder«, wie die gewichtige Generaldirektorin von Hungarotex, Eva Szabo, bei der Vertragsunterzeichnung mit Quelle beteuerte.

Tatsächlich findet auch das Fürther Versandhaus an dem neuartigen Ost-West-Geschäft Gefallen. Zur Zeit denken die Hausmanager darüber nach, ob das Ungarn-Modell nicht auch auf andere sozialistische Staaten zu übertragen ist - denn Quelle kauft schließlich auch in der CSSR und in Bulgarien.

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