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USA »Verdammt bis zum Tod«

In der Gang-Metropole Chicago hat ein katholischer Laienprediger eine einzigartige Methode entwickelt, mörderische Bandenkämpfe zu stoppen: Wenn geschossen wird, wirft er sich zwischen die Fronten. Jetzt will Hollywood sein Leben verfilmen. Von Clemens Höges
aus DER SPIEGEL 43/1998

Ein normaler Mensch würde in der schwarzen Nylontasche mit dem »Apple«-Signet seinen Laptop aufbewahren. Bill Tomes aber ist kein normaler Mensch. Einen Computer hat er auch nicht. Als er den Reißverschluß aufzieht, rutschen drei Stapel schwarzumrandeter, gefalteter Zettel auf den Tisch, viele mit einem Foto, alle mit Geburtsdatum und Todesdatum. Und die liegen oft nur wenige Jahre auseinander.

145 Traueranzeigen hat Tomes aufgehoben. Es sind Karten in einem tödlichen Spiel. Sie zeigen die Verlierer in jenem Dauerkrieg, den rivalisierende Gangs in den Ghettos von Chicago gegeneinander führen. Manche der Opfer waren Freunde von Tomes, andere nur Bekannte, an deren Sarg »Brother Bill«, wie ihn die Gangster nennen, gleichwohl sprechen mußte.

Tomes zieht eine Karte aus dem Stapel. Ach ja, Laketa Rodgers. Neun Jahre war sie alt, sie starb beim Seilspringen durch eine verirrte Kugel. Oder hier, das war Dantrell Davis, sieben. Ein Scharfschütze erschoß ihn, als der Junge auf dem Weg zur Schule war, an der Hand seiner Mutter.

Und der Dicke auf der anderen Karte da, das war Charles »Big Chuck« Dorsey, 26 Jahre alt, 150 Kilogramm schwer - ein Freund von Brother Bill und einer der Unterführer der berüchtigten »Gangster Disciples«. Big Chuck wollte vor rund anderthalb Jahren aussteigen, was die Gang nicht gut fand: Die Bar, die er sich gekauft hatte, war noch gar nicht eröffnet, da kamen schon die ersten Gäste. Sie trugen Skimasken über den Gesichtern und Uzis in den Händen.

Rund 600 000 Mann haben Amerikas Verbrecher-Gangs nach Schätzungen des FBI unter Waffen. In Chicago sind es vielleicht 70 000, die meisten junge Schwarze, viele davon noch Kinder. Ihr Geschäft: Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Auftragsmorde, Raubüberfälle.

Jedes Jahr sterben über hundert von ihnen bei Schießereien um Macht, Reviere und Gangsterehre. Ohne Brother Bill, 63, wären es noch mehr. Der Laienprediger hütet keine Schäfchen, er hütet die Wölfe: Seit 15 Jahren redet Tomes immer wieder so lange auf Killer ein, bis die ihre Pistolen wegstecken, er vermittelt zwischen Bandenführern, er beerdigt die Toten beider Seiten und bezahlt oft die Grabsteine, weshalb ihm der Steinmetz pro Stück 50 Dollar Mengenrabatt gibt.

Nachts ruft manchmal ein Gangster an, mal von der einen Seite, mal von der anderen. »Ey man, Brother Bill, du mußt sofort kommen, Krieg ist angesagt, ich will nicht sterben.« Dann rast Tomes los und hastet in heller, wehender Kutte zwischen den Fronten hin und her, so flink, wie die drei Bypässe an seinem Herz das eben gestatten. »Verschwinde, Brother Bill, verpiß dich«, brüllen sie ihn oft von beiden Seiten aus an, denn niemand mag ihn im Kreuzfeuer töten. Immer schreit er zurück in die Dunkelheit: »Nein, weil ich euch liebe.« Und bleibt und duckt sich nicht, manchmal stundenlang.

Hollywood will jetzt sein Leben verfilmen. Die Verhandlungen gestalten sich aber schwierig. Brother Bill verlangt nicht nur, daß einige seiner Original-Gangster in dem Film auftauchen, er will auch noch über das Drehbuch mitbestimmen. Und das heißt, der liebe Gott müßte dann wohl eine Hauptrolle bekommen.

»Niemand muß mir glauben, was passiert ist, aber es gehört dazu«, sagt Tomes: »Sonst wäre ich doch nicht so verrückt, seltsam verkleidet im Ghetto herumzulaufen.« Auf dem Weg ins Kampfgebiet schiebt er Beethovens »Neunte« in den Kassettenrecorder seines Buick und erzählt die ziemlich unwahrscheinliche Geschichte, wie aus ihm der Don Camillo der Gangster wurde, der auch heute noch ab und zu ganz privat mit Gott plaudert.

Früher sei er »nur ein durchschnittlicher Typ« aus Chicagos piekfeinen nördlichen Vororten gewesen, mit wenig mehr im Kopf als »Geld und netten Frauen«. Sein Vater hatte mit Trinkwasseranlagen ein mittleres Vermögen gemacht, die Familie lebte prächtig in dem Haus, in dem Brother Bill heute wieder wohnt, einer gemauerten Villa samt Türmchen, die aussieht wie ein kleines französisches Château, das auf dem falschen Kontinent gelandet ist.

Er studierte Psychologie, ein Krankenhaus und eine Fluglinie wollten ihn danach engagieren. Auf dem Rückweg vom zweiten Vorstellungsgespräch kam Tomes, damals moderat katholisch, an einer Kirche vorbei. Er hielt an, dort wollte er überlegen, was nun zu tun sei.

Auf einem Podest vor dem Altar, so erzählt er weiter, stand ein Jesusbild. Als er davor saß, sei plötzlich »alles dunkel geworden« - bis auf das Gesicht. Dann will Tomes in seinem Kopf eine Stimme gehört haben: »Liebe! Alles andere ist dir verboten.« Und: »Ich führe, du folgst.« Die Stimme habe auch noch gesagt, daß er sich vor nichts fürchten solle. »Ich dachte nur, was zum Teufel? Wovor soll ich mich schon fürchten?«

Jahrelang ließ ihn die Erscheinung nicht los. Er nahm keinen der beiden Jobs an, arbeitete statt dessen für die »Catholic Charities«, die Hilfsorganisation des Erzbischofs von Chicago, die ihn auch heute noch mit 20 000 Dollar pro Jahr plus Benzingeld unterstützt. Schließlich fragten ihn die Kirchenoberen, ob er nicht ihre Jugendarbeit übernehmen wolle, wozu leider auch die Betreuung der mörderischen Gangs gehöre.

Da wußte Tomes, daß seine Suche beendet war. Vor dieser Aufgabe würden sich andere fürchten. Er nähte sich aus verblichenen Jeansfetzen mit groben Stichen eine Kutte nach Franziskaner-Vorbild, samt Kapuze und Strick um die Hüfte - gewissermaßen eine weiße Fahne zum Anziehen.

Zunächst trieb er sich in einigen harmloseren »projects« herum, wie die Ghettos offiziell heißen, weil das irgendwie nach Zukunft klingt und nicht nach Sackgasse. Schließlich traute er sich ins berüchtigte »Cabrini-Green": ein wüstes Niemandsland, nur einen weiten Gewehrschuß von den blinkenden Wolkenkratzern des Zentrums entfernt.

Rund ein Dutzend riesiger Plattenbauten ragen bis zu 20 Stockwerke über Autowracks, verbogene Spielplatzgestelle und aufgerissenen Asphalt. Daneben verfallen Batterien enger Reihenhäuser. Hier leben nur Schwarze, 90 Prozent lungern arbeitslos den ganzen Tag herum. Eines der Hochhäuser verteidigt seit Jahren die Gang der Vice Lords, den Rest beherrschen ihre Todfeinde, die Gangster Disciples.

Flure und Aufzüge haben die Gangs mit Graffiti als ihr Revier markiert, durch die Treppenhäuser zieht der Geruch von Urin. Kugelfeste Stahltüren sichern die Wohnungen, engmaschige Gitter verdunkeln die Balkone; so können Scharfschützen weder vernünftig raus- noch reinschießen. In manchen Stockwerken haben die Gangster Löcher in die Wände geschlagen, damit sie wie in einem Fuchsbau blitzartig verschwinden können.

Um die Hauseingänge stehen die Wachen. »Man sieht ihre Waffen nicht«, sagt Brother Bill, »aber wenn es losgeht, sind die ganz schnell da.« Tomes hat zwar eine Art Waffenstillstand vermittelt, das heißt aber vor allem, daß weniger auf Unbetei-

* Beim Besuch eines Unfallopfers.

ligte geschossen wird. Polizisten sind Be-

teiligte; vor kurzem wagten sich zwei Beamte auf der Jagd nach einem Mordverdächtigen zu weit vor. Den einen traf eine Kugel in den Arm, der andere wurde in den linken Fuß getroffen. Glück gehabt.

Brother Bill aber respektieren die Gangster. Sie glauben, daß er mutig ist. Dabei ist er inzwischen vor allem müde geworden: »Ich hab'' mein Leben gehabt«, sagt er, »es kann jetzt ruhig mal aufhören.«

Seit elf Jahren hat Tomes einen Kompagnon und Nachfolger, den baumlangen Sozialarbeiter Jim Fogarty, 41. »Brother Jim«, wie ihn die Gangster nennen, suchte, so sagt er, eine Herausforderung - zuerst bei einem Seminar für katholische Entwicklungshelfer, die nach Übersee verschickt werden sollten. Als dort Brother Bill einen Vortrag hielt, wurde Fogarty klar, daß die wildesten Barbaren direkt vor der Haustür zu bekehren sind. Also nähte auch er sich eine Jeanskutte.

»Gott hat die beiden geschickt«, glaubt Kevin, 27, narbenübersäter Wachtposten der Vice-Lord-Gang in Cabrini-Green. An Tomes'' erstem Tag im Ghetto waren noch Steine geflogen, mehr aber nicht. Die Gangster waren zu irritiert, um zu schießen. Es war ihnen völlig schleierhaft, was dieser komische Heilige von ihnen wollte. Der Mann grüßte jeden kleinen Dealer mit »Ich liebe dich«.

Schon am zweiten Tag zeigten ihm seine geliebten Gangster, daß sie »ein paar richtig häßliche Sachen« (Tomes) draufhaben. Im 19. Stock stieß jemand eine fast nackte junge Frau aus dem Fenster. Später stieg deren Schwester oben in einen Aufzug ein. Als sie unten ankam, lag sie in ihrem Blut, hingerichtet mit über 20 Messerstichen. Die beiden, hieß es im Ghetto, hätten für die Polizei spioniert.

Tomes sollte noch viel zu oft zu spät kommen, auch als seine Kontakte besser wurden. Zu spät für Jungs wie Juan Bates, 22. Als der starb, hörte Tomes »einen Schuß, dann einen schrecklichen Schrei, dann fünf weitere Schüsse, dann war Ruhe«. Jemand hatte die Trommel seines Revolvers geleert bis zur letzten Patrone. Brother Bill rannte in das Gebäude, hastete die Treppe hoch. Einer seiner Gangster kam ihm entgegen, sah ihm aber nicht in die Augen: »Das war der Killer.«

Auf einem Absatz entdeckte er den sterbenden Bates. Tomes polterte an Türen rundum, natürlich machte niemand auf. »Ich bin''s, Brother Bill«, schrie er, bis jemand öffnete. Er bat um ein Glas Wasser - taufen konnte er Bates noch, und das Letzte, was der Gangster hörte, war Brother Bills Stimme direkt an seinem Ohr: »Gott liebt dich.« Wie üblich gab Tomes der Polizei keinen Tip.

Die Gangster Disciples sind eine der größten, wenn nicht die größte und mächtigste Gang in der Geschichte der USA. 30 000 Mann und einen Rauschgiftumsatz von 100 Millionen Dollar pro Jahr soll ihr Chef Larry »The King« Hoover aus Chicago kontrollieren - obwohl er seit 1974 im Gefängnis sitzt. Er steuert alles über zwei Gruppen von Vertrauten, die »Aufsichtsräte«, einen für alle einsitzenden Gangster, den anderen für die draußen.

Die typischen Gang-Karrieren beginnen früh, oft schon mit 14, und enden meist erst mit dem Tod. Kaum einer schafft es auszusteigen. »Einmal drin, immer drin«, sagt Gangster Kevin.

»Wenn man jung ist, möchte man dazugehören, was darstellen«, meint Alex Hall, 27, den die meisten nach dem Slang-Ausdruck für die Polizei nur »Five-O« nennen: »Aber dann ist man auf einmal verdammt bis zum Tod.« Für die Mickey Cobras, Verbündete der Vice Lords, hat der bullige Kerl Sachen erledigt, die »mein Sohn besser nicht erleben soll«. Was das war, erzählt er nicht, aber auf jeden Fall haben andere Gangster einen Heidenrespekt vor ihm.

So kann er versuchen, als einer der ganz wenigen mit Hilfe von Tomes und Fogarty aus dem Ghetto rauszukommen. Neun Monate Computerkurs auf der Handelsschule hat er durchgestanden, nun sucht er einen Job. Es gibt viel Arbeit in Boomtown Chicago, und Brother Jim glaubt, daß Five-O es schafft. Zumindest treibt ihn ein starkes Motiv: Er will leben. »Und hier könnte ich nur warten, bis eine Kugel mit meinem Namen drauf geflogen kommt.«

* Beim Besuch eines Unfallopfers.

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