CHINA Verdauen, verbessern
Auf dem freien Bauernmarkt längs der Umfassungsmauer von Pekings Himmelstempel herrscht Andrang wie beim Schlußverkauf: Vorsichtige Städter stehen um Weizen, Reis und Hirse an.
Nach vier Rekordernten sind 1985 die Getreideerträge erstmals wieder drastisch gesunken, Chinas Bauern fuhren im vergangenen Jahr rund 354 Millionen Tonnen Getreide ein, 53 Millionen Tonnen weniger als im Jahr davor.
Die Regierung in Peking macht für den Mißerfolg vor allem Naturkatastrophen verantwortlich: Trockenheit und Überflutungen, Taifun und Erdbeben suchten die Volksrepublik 1985 heim, 2482 Menschen kamen dabei ums Leben, 21 Millionen Hektar Ackerland wurden verwüstet. Am schlimmsten waren die Schäden in Chinas Kornkammer, der Mandschurei.
Der Produktionseinbruch hat die Versorgung bislang zwar nicht beeinträchtigt, doch der Rückgang liefert den Gegnern des Reformers Teng Hsiao-ping neue Argumente. Sie messen Tengs Neuerungen an dessen eigenem Grundsatz: »Die Wahrheit in den Tatsachen suchen.« Sprecher der Kritiker ist das Politbüromitglied Tschen Jün, 81, ein Parteiveteran, der bei Beginn der Kulturrevolution 1966, als Teng von Rotgardisten drangsaliert wurde, neben Mao auf der Tribüne am Pekinger Himmelsfriedensplatz den Vorbeimarsch der Roten Garden abnahm.
Schon im September hatte Tschen auf der Parteidelegiertenkonferenz gewarnt: »Getreidemangel führt ins Chaos.«
So war es stets in der mehrtausendjährigen chinesischen Geschichte: Wirtschaftlichem Niedergang folgte der Verfall politischer Macht, am Ende erhoben sich die notleidenden Bauern gegen den Kaiser.
Auch in der Volksrepublik, die auf nur sieben Prozent der Weltanbaufläche fast ein Viertel der Menschheit ernährt, sind gute Ernten die Garantie für politische Stabilität. Bis heute hat sich auf dem Land als Gruß die traditionelle Frage erhalten: »Chi baole meiyou?« - »Haben Sie sich schon sattgegessen?«
Der schärfste Produktionsrückgang seit Gründung der Volksrepublik erinnert die Chinesen an überwunden geglaubte Zeiten: »Mit Furcht«, so das Parteiorgan »Volkszeitung« im Dezember, »denken die Menschen an die drei Jahre der großen Naturkatastrophen.«
Gemeint ist damit die Zeit von 1959 bis 1961, als der von Mao Tse-tung verkündete »Große Sprung nach vorn« im wirtschaftlichen Chaos endete. Die forcierte Kollektivierung der Bauern in Volkskommunen senkte binnen drei Jahren die Getreideproduktion um annähernd jene Menge, die auch jetzt fehlt: 57 Millionen Tonnen. Damals verhungerten nach einer Berechnung des Kölner China-Experten Thomas Scharping mindestens 17 Millionen Chinesen.
Erst als die Sozialisierungskampagne abgebremst wurde, stiegen die Erträge wieder. Mao proklamierte nun: »Die Getreideproduktion als Hauptkettenglied anpacken.« Trotzdem hielten die jährlich neu vermeldeten Rekordernten nicht mit der steigenden Bevölkerungszahl Schritt. Zwischen 1957 und 1978 sank die Pro-Kopf-Versorgung mit Getreide um 3,2 Prozent. Zwei Fünftel des Bedarfs der Städter mußten importiert werden.
Das alles änderte sich, als Teng drei Jahre nach Maos Tod 1979 die 54000 Volkskommunen abschaffte und statt der Partei wieder die bäuerlichen Familienbetriebe selbst über Ackerbau und Viehzucht bestimmten.
Vor einem Jahr verschwand auch noch das letzte Kernstück der Planwirtschaft auf dem Lande: Reis, Weizen, Öl und Baumwolle müssen nicht mehr zur Gänze an den Staat abgeliefert werden, die Bauern können die Menge, die der Staat aufkauft, vertraglich aushandeln. Alle anderen Produkte darf der Landwirt selbst zu freien Preisen auf dem Markt feilbieten.
Die Marktwirtschaft auf dem Lande bescherte China einen echten Sprung nach vorn. Binnen vier Jahren stieg die Getreideproduktion um mehr als ein Drittel. Voriges Jahr avancierte die Volksrepublik zum Netto-Getreide-Exporteur. Die Hektarerträge erreichten Weltniveau: 2,5 Tonnen bei Weizen (USA: 2,2, Bundesrepublik: 5 Tonnen) und 4,8 Tonnen bei Reis, fast ebensoviel wie in Amerika. Laut Plan soll die Produktion bis 1990 auf 450 Millionen Tonnen gesteigert werden.
Langjährige Importverträge mit den USA, Australien und Kanada mußten neu verhandelt werden, auf Drittmärkten wie Südkorea entwickelten sich die Chinesen gar zum Konkurrenten der großen Getreidehändler. Die OECD stufte China als landwirtschaftliches Musterentwicklungsland ein.
Seither sind die Speicher überfüllt, Reis und Weizen wurden vielerorts in Bambushütten gelagert oder auf den Dreschplätzen aufgeschüttet. Rund 15 Millionen Tonnen Korn, die Jahresration für 40 Millionen Chinesen, werden wegen solch unsachgemäßer Lagerung von Ratten und Mäusen aufgefressen.
Auch die bauchigen Tonkrüge, in denen Bauernfamilien ihren privaten Getreidevorrat aufheben, reichten nicht mehr. Der Überfluß wurde zuweilen gar in den rotlackierten Holzsärgen verwahrt, die Chinas Bauern sich gern schon zu Lebzeiten besorgen.
Die Preise sanken, die staatlichen Aufkäufer nahmen nur noch 30 Prozent der Ernte zum garantierten Ankaufspreis ab. Die Preise für Kraftstoff, Pestizide und Wasserpumpen aber stiegen - um 20 bis 30 Prozent im vorigen Jahr. Chinas Produzenten schalteten marktgerecht um auf einträglicheren Gemüse-
und Obstverkauf, auf Geflügel- und Fischzucht.
Reis- oder Weizenbauern verdienen 50 bis 60 Prozent weniger als jene Landleute, die nur noch nebenher den Acker bestellen, hauptberuflich aber als Fuhrunternehmer, Händler oder Industriearbeiter tätig sind. Folge: 60 Millionen Bauern sind in die dörflichen Industriebetriebe abgewandert, das sind 17 Prozent der Erwerbstätigen auf dem Land.
Zudem schrumpft die Anbaufläche, weil sich Industriebetriebe ausbreiten: »Die Autofabrik Nummer eins in Tschangtschun hat sich 8000 mu (533 Hektar) besorgt, davon waren 3000 mu ( 199 Hektar) Ackerfläche«, fand die »Arbeiterzeitung« heraus. »Dabei wurden hinterher noch nicht einmal 80 Prozent dieser Fläche genutzt.«
Die Zeitung mahnte mit einem Appell an das ökologische Gewissen: »Die Erde ist ein Rohstoff, der sich nicht vermehrt.«
Da meldete auch Staatspräsident Li Hsien-nien auf einer Inspektionsreise durch die Provinz Kiangsu Bedenken an: Die bisherige Parole »Kein ländlicher Wohlstand ohne Industrie« müsse mit einem neuen Schlagwort verbunden werden: »Keine Stabilität ohne genügend Getreide.« Vizepremier Tian Jiyun versuchte, die Mißernte herunterzuspielen: »Man darf nicht nur ein Jahr betrachten.«
»Schwankt nicht«, so der Gefolgsmann Tengs eindringlich, »nur wegen eines zeitweiligen Rückgangs in der Getreideproduktion.«
Um die Kritiker zu beschwichtigen, will der Vizepremier den Getreideanbau dennoch kräftig fördern, mit verbilligten Düngemitteln, preiswertem Dieselkraftstoff und Geldprämien. In der Nordwestprovinz Kansu bekommen Haushalte, die über fünf Tonnen Getreide an den Staat abführen, Bezugscheine für knappe Luxusartikel wie Mähmaschinen, Markenfahrräder oder Farbfernseher.
Und die Regierung hält sich mit weiteren Reformen einstweilen zurück: Für das »Jahr des Tigers«, das am 9. Februar beginnt, sind keine neuen Experimente angesagt. »Die Schritte, die wir gemacht haben«, beschied Ministerpräsident Zhao Ziyang eine nationale Planungskonferenz, »waren größer als wir dachten - und so waren auch die Folgen.« Nun müsse man den Fortschritt erst einmal »konsolidieren, verdauen, ergänzen und verbessern«.
Die Bauern, die auf den freien Märkten ihr Korn verkaufen, erklären den Ansturm auf ihre Stände nicht mit drohendem Mangel, sondern dem bevorstehenden Frühlingsfest. »Reis und Weizen gibt es in diesem Jahr satt«, sagt Einzelhändler Wang Wenguang am Pekinger Himmelstempel, wo einst die Kaiser den Göttern Ernteopfer darbrachten. »Bei uns draußen auf dem Land«, beschreibt Wang die Versorgungslage, »essen wir noch das Getreide von 1984.«