ÄRZTE Verdeckter Fall
Der Hausarzt Siegfried Kruschwitz untersuchte gründlich und nahm sich für den Patienten genügend Zeit: 45 Minuten. Er tastete behutsam den Bauch ab, horchte nach Darmgeräuschen und führte den Finger in den After, um im Bereich des Mastdarms die »Druckschmerzhaftigkeit« zu prüfen.
Seine zutreffende Diagnose: »Susp. Appendicitis« -- Verdacht auf Blinddarmentzündung. Auf rotem Schein, der den Notfall anzeigte, wies Kruschwitz den Jungen zur »sofortigen Behandlung« in die Uniklinik ein.
Der Universitätsprofessor Dieter Maroske, 40, machte es auf die schnelle, strich nur »ein, zwei Minuten«, wie sich die Mutter des Patienten erinnert, über die Bauchdecke und kam zu einer ganz anderen, weitaus harmloseren Diagnose: »Enteritis« -- Darmentzündung. Maroske verordnete Tee und Zwieback und schickte Mutter samt krankem Jungen mit einem Klistier nach Hause.
Nachts um drei krümmte sich der Schüler mit »stechenden Schmerzen« (so der Vater) im Bett und mußte erbrechen. Gegen sechs Uhr war er tot.
Erich Amend, 14, starb, weil die erforderliche ärztliche Hilfe in der Marburger Universitätsklinik ausblieb -- ein »eindeutiger Kunstfehler« (Staatsanwalt Roland Steffek), so kraß, wie solche medizinischen Mißgriffe selten sichtbar werden.
Doch vor dem Marburger Schöffengericht verlor sich letzte Woche jedwede Schuld im Theorien-Nebel von Medizinern und Juristen. Professor Maroske, kommissarischer Direktor der chirurgischen Universitätsklinik. wurde nach zwei Tagen Hauptverhandlung vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen.
Vor dem Richtertisch blieb Schuld im weißen Kittel, wieder einmal, auf dunkle Weise unfaßbar. Die Kollegen und Krankenschwestern aus der Klinik mochten ihren Chef vor Gericht nicht belasten und wirkten in ihren Synchronaussagen »so unglaubwürdig. wie ich es selten erlebt habe« (Amend-Anwalt Bernd Wadenpfuhl).
Als medizinische Gutachter traten zwei Herren auf, die in ihren getrennt abgegebenen schriftlichen Stellungnahmen erstaunlich weit auseinanderlagen. sich während des Prozesses dann aber in ihren Auffassungen deutlich näherkamen. Der Baseler Kinderchirurg Bruno Herzog mochte als Mediziner dem Mediziner Maroske keinen Vorwurf machen. Bei einem »verdeckten Fall« von Blinddarmentzündung habe »eine Kette von besonderen Umständen«, so Herzog, »beinahe schicksalhaft« zum Tode des Patienten geführt.
Oberarzt Traugott Sick vom Städtischen Krankenhaus Lörrach bescheinigte seinem Kollegen immerhin eine »oberflächliche, leichtfertige und ungewissenhafte Untersuchung« des Jungen, hei der »gegen anerkannte Regeln der ärztlichen Kunst verstoßen« worden sei.
Sachverständiger Sick hatte vor Gericht noch einmal festgestellt, daß der Patient bei rechtzeitiger Operation »eine gute Überlebensaussicht« gehabt hätte. Ob Erich Amend aber »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« hätte gerettet werden können, Maroskes Verhalten für den Tod des Jungen mithin ursächlich gewesen sei, wollte der Gutachter nicht beantworten.
Die leidige Kausalitätsproblematik erwies sich -- wie fast immer in solchen Fällen .- auch jetzt wieder als unlösbar, weil die Juristen nach Gesetz und Rechtsprechung eine Art von ausschließlichem Ursachennachweis verlangen müssen, den die Mediziner in dieser Form kaum jemals erbringen können.
Die Rechtsfrage« ob die Aufnahme im Krankenhaus und eine Sofortoperation dem Patienten mit Sicherheit das Leben gerettet hätten, ließ sich auch im Amend-Fall naturwissenschaftlich nicht hundertprozentig bejahen. Denn die Antwort ist notwendigerweise ein hypothetisches Urteil über ein physiologisches Geschehen, das bei der Vielfalt biologischer Vorgänge in jedem Einzelfall auch einmal anders ablaufen und durch weitere Faktoren mitbestimmt werden kann -- das juristische Schlupfloch für nahezu jeden der Fahrlässigkeit beschuldigten Mediziner.
Erich Amend, der von einem »vorzüglichen Diagnostiker« (Steffek über den Hausarzt Kruschwitz) im Juli 1976 in die Universitätsklinik geschickt worden war, hatte das Pech, dort zunächst auf den in der Bauchchirurgie völlig unerfahrenen Assistenzarzt Thomas Lemke zu treffen, der bis dahin einen Großteil seiner medizinischen Ausbildung als Stabsarzt bei der Bundeswehr absolviert hatte.
Lemkes Aussage. er habe bei der Mutter ausführlich nach der Krankheitsgeschichte des Sohnes gefragt, sein Fieber messen lassen und ihn gründlich »abdomidal, rektal und im Rachenraum« untersucht, wird von der Mutter des Jungen energisch bestritten: »Die Hosen von Erich wurden lediglich etwas nach unten geschoben, so daß der Bauch notdürftig frei wurde. Dr. Lemke hat nur auf dem Bauch herumgedrückt.«
Von rektaler Untersuchung, die in der Fachliteratur von chirurgischen Kapazitäten (Professor Saegesser: »Lieber den Finger beschmutzen als seinen Ruf als Arzt!") als »unerläßlich« gilt. stand später auch nichts im Krankenblatt -- Lemke hatte es. wie er selbst vor Gericht gestand. »aus Schlamperei« vergessen.
Professor Maroske verließ sich auf seinen unerfahrenen Assistenten. Auch er erkannte, nachdem er den jungen Patienten begutachtet hatte, auf .. Magen-Darm-Katarrh« und schickte Erich Amend trotz drastisch überhöhter Leukozyten-Zahl (22 800)*, die eindrücklich auf einen alarmierenden Gefahrenzustand hinwies, nach Hause -eine Maßnahme, die letztlich auch Richter Günther Prothmann ("Es wäre angemessen gewesen, den Jungen aufzunehmen") unverständlich blieb.
Anders als bei einem Bahnwärter, der vergessen hat, die Schranke zu schließen, oder bei einem Autofahrer. der ein Warmchild übersieht, war auch Maroske -- wie vielen angeklagten Ärzten vor ihm -- nach Ansicht des Richters nicht nachzuweisen, daß sein Verhalten ursächlich zum Tode des Patienten geführt hat.
Staatsanwalt Steffek: »Da muß ein Chirurg bei der Operation schon die Schlagader anschneiden und der Patient verbluten.«
* Leukozyten sind die weißen Blutkörperchen. Schon, 12 000 bis 14 000 können beispielsweise eine akute Blinddarmendzündung anzeigen.