POLEN Vergiftete Seelen
Seine »Hochachtung und ehrliche Sympathie« versicherte der polnische Regent im März dem russischen Herrn Michail Gorbatschow. Seit sich der Kreml-Chef gegen den Diktator Stalin kehrt, gefällt er dem Polen noch mehr.
Gorbatschows Vergangenheitsbewältigung bot General Jaruzelski, Partei- und Staatschef der Volksrepublik Polen, jetzt endlich die Gelegenheit, sich seinem Volke zu empfehlen - mit Kritik am russischen Imperialismus im allgemeinen und dem Landräuber Stalin im besonderen. Im »Kommunist«, dem sowjetischen Zentralorgan für Parteitheorie, veröffentlichte Jaruzelski Brisantes über Rußlands historischen Drang nach Westen - und ließ den Artikel ("Zu neuen Horizonten") sogleich in Warschau nachdrucken.
Er nennt darin Stalin, den Begründer russischer Weltmacht, beim Namen: als Schuldigen für den Bruch mit der »leninistischen Linie« und für »Perversionen des Sozialismus«, etwa die »tragischen 'Säuberungen' jener Jahre«.
Dann zitiert der General eine Krakauer sozialdemokratische Zeitung aus dem November 1917 mit dem Schlüsselsatz: »Lenin möchte Unabhängigkeit für Polen ohne irgendwelche 'Bedingungen' von seiten Rußlands.«
Jaruzelski brachte in dem Sowjetblatt Gedanken unter, wie sie bislang nur von Regimekritikern zu hören waren. Er tat, wie es seinen Landsleuten gefällt, einen tiefen Blick in die polnisch-russische Geschichte: Trotz vieler Gemeinsamkeiten hätten »Mißtrauen und mangelndes Wohlwollen« die Beziehungen bestimmt.
Das hatte auch Gorbatschow bei seinem Polen-Besuch voriges Jahr so gesehen: »Könige und Zaren haben Polen gegen Russen gehetzt, Russen gegen Polen. Kriege, Gewalt und Teilungen haben die Seelen der Völker vergiftet und Feindschaft erzeugt.« Mit der Revolution 1917 sei das anders geworden.
Polens patriotischer General aber kennt auch Irritationen aus der Zeit danach. Bei seinem Moskau-Besuch im April bewog er Gorbatschow zur Unterzeichnung einer »Deklaration":
Danach sollen künftig mit gemeinsamen Forschungen »weiße Flecken« der Geschichte getilgt, bisher gar nicht oder ungenau beschriebene »Episoden, darunter dramatische«, untersucht werden. Glasnost also auch für Stalins Missetaten an den Polen.
Im »Kommunist« füllte jetzt Jaruzelski selbst die größte Lücke: Stalins Pakt mit Hitler über die vierte Teilung Polens.
Als der Kreml-Diktator dem Nazi-Tyrannen am 23. August 1939 mit dem Nichtangriffsvertrag die Gelegenheit verschaffte, neun Tage später über Polen herzufallen, vereinbarten beide auch ein geheimes Zusatzprotokoll:
»Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung« geraten Ostpolen, Finnland, die baltischen Staaten und das rumänische Bessarabien in die
russische »Interessensphäre« - so wie zur Zarenzeit.
Dementsprechend rückte 18 Tage nach Hitlers Überfall die Rote Armee in Ostpolen ein, wodurch sich die UdSSR um ein fast doppelt so großes Gebiet wie Österreich plus Sudetenland, mit 13 Millionen Einwohnern, vergrößerte.
Finnland verweigerte die Unterwerfung und verlor den Winterkrieg 1939/ 40; die baltischen Staaten und Bessarabien wurden nach Hitlers Sieg über Frankreich 1940 von Stalin ganz kassiert.
Daran erinnerten vor zwei Wochen zum Jahrestag des Pakts, rund 12000 Demonstranten in den baltischen Hauptstädten Tallinn, Riga und Wilna. Die Polizei ließ sie weithin gewähren- die Propaganda aber blieb dabei, Esten, Letten und Litauer hätten sich freiwillig der Sowjet-Union angeschlossen.
Die Geschichtsklitterung macht Sinn, würde doch das Bekenntnis zur historischen Wahrheit die Legitimität des Vielvölkerstaats Sowjet-Union aufs Spiel setzen - mit unabsehbaren Risiken selbst für den Glasnost-Protagonisten Gorbatschow, zumal auch Kasachen und Krimtataren meutern, Ukrainer und sogar Tschuwaschen am Ural Gleichberechtigung wenigstens ihrer Sprache fordern.
Die Nachrichtenagentur »Tass« nannte die baltischen Demonstranten denn auch »Antisowjetschiki, welche die Rechtmäßigkeit des sowjetisch-deutschen Nichtangriffspaktes aus dem Jahre 1939 anzweifeln«.
Für Polen rückte kein Antisowjetschik den Tatbestand zurecht. Jaruzelski persönlich berichtete im »Kommunist«, wie Moskau 1938 die polnische KP zerschlug und 1939 mit, antileninistischer Phraseologie« den Widerstand der Polen gegen Hitlers Aggression als »imperialistisch von beiden Seiten« denunziert habe.
Doch das sah die Moskauer Geschichtsschreibung erst später so. 1939 begründete Stalin die Expansion mit »innerer Unhaltbarkeit des polnischen Staates«, der (laut »Iswestija") »nicht lebensfähig war«.
Auf die »Wiedervereinigung« Ostpolens mit der UdSSR folgten Massaker und Deportationen. Jaruzelski im »Kommunist": »Tausende Polen wurden Repressionsmaßnahmen unterworfen und in die Tiefe der Sowjet-Union abgeführt.« Es waren etwa 1,5 Millionen.
Die Umstände kann er selbst bezeugen. Sein Heimatdorf Kurow lag innerhalb der sowjetischen Interessensphäre. Wojciech Jaruzelski, damals 16, und sein Vater wurden auch verschleppt.
Die meisten überlebten und kehrten später heim, räumt Jaruzelski im »Kommunist« ein. Sein Vater aber blieb verschollen. Jaruzelski unter Freunden: »Es waren furchtbare Zeiten.« Ihm selbst gelang nach über drei Jahren, im Juli 1943, die Aufnahme in die polnischen Militäreinheiten, die in der UdSSR aufgestellt wurden.
Jetzt, 48 Jahre nach dem schändlichen Pakt, präsentiert er als Vertrauensmann
Gorbatschows in einem Moskauer Parteiorgan die historische Rechnung, die Gorbatschow kaum bezahlen kann, ohne seine Machtposition in Osteuropa zu riskieren: Zuviel Glasnost für die Geschichte würde den erschlichenen und erbeuteten Status quo des sowjetischen Imperiums gefährden.
Schon forderten die Demonstranten in Riga und Wilna lauthals die Veröffentlichung des geheimen Zusatzabkommens, dessen Existenz die sowjetischen Historiker bis heute leugnen. In einem Moskauer Archiv soll eine Abschrift liegen, die an Stelle der Signatur des damaligen Außenministers Molotow nur dessen maschinengeschriebenen Namen trägt, in lateinischen Buchstaben. Die deutsche Ausfertigung - von Molotow abgezeichnet - befindet sich im Politischen Archiv des Bonner Auswärtigen Amtes.
Der Text wurde erstmals 1946 im Nürnberger Prozeß publik, durch den Verteidiger des wegen Vorbereitung eines Angriffskriegs angeklagten Rudolf Heß. Doch General Rudenko, sowjetischer Hauptankläger, verweigerte damals die Verlesung eines »völlig unbekannten« Dokuments mit irgendwelchen »Geheimnissen«.