BONN / OSTPOLITIK Verkehr im Dreieck
Die Bonner warteten auf gute Nachricht aus Moskau. Statt dessen bekamen sie einen bösen Brief aus Ost-Berlin.
Einen Tag bevor Sowjet-Botschafter Semjon Zarapkin aus seinem Moskauer Sommerurlaub in die Residenz am Rhein zurückkehrte, meldete sich an der Pforte des Bundeskanzleramtes ein Emissär aus der DDR.
Wie schon einmal im Mai, lieferte der Ost-Berliner Abgesandte Hermann von Berg im Wartezimmer neben dem Büro des Bundeskanzlers einen Bütten-Umschlag ab, dem die Kanzlergehilfen Werner Rouget und Hans Neusel einen Brief mit der Kopfzeile »Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik -- Der Vorsitzende« nebst Entwurf eines Vertrags über »normale Beziehungen« zwischen beiden deutschen Staaten entnahmen.
Kommunist Willi Stoph hatte dem kapitalistischen Kanzler Kiesinger zum zweitenmal geschrieben, und zum zweitenmal wurde Post aus Ost-Berlin im Palais Schaumburg nicht wie früher ungeöffnet an den Absender zurückgeschickt.
Seit Mitte Juni, als Kiesinger nach langem Zögern den ersten Stoph-Brief beantwortet hatte, wartete die Bundesregierung auf dieses Echo.
Doch die Männer im SED-Politbüro waren sich nicht einig gewesen, ob die Korrespondenz mit Bonn überhaupt fortgesetzt werden solle. Die Gruppe um Ministerpräsident Stoph hatte Brief und Vertragsentwurf schon vor der Sommerpause fertig. Die Gruppe um den hartgesottenen Ulbricht-Kronprinzen Honecker aber verhinderte die Absendung. Erst nach Rückkehr aus der Karlsbader Kur entschied SED-Schiedsrichter Ulbricht auf sowjetisches Drängen, die lagernde Post zu expedieren.
Noch zehn Tage bevor Bote Berg am Montag letzter Woche auf dem West-Berliner Flughafen Tempelhof frühmorgens um 7.45 Uhr die erste Panam-Maschine nach Köln/Bonn nahm, hatte General Gehlens Bundesnachrichtendienst in einem Geheim-Dossier an den Kanzler genau das Gegenteil prophezeit: die Honecker-Leute würden sich durchsetzen und die fällige Antwort blockieren.
Doch zu diesem Zeitpunkt hatten die DDR-Machthaber längst anders entschieden. Sie warteten nur noch den Abschluß ihres Solidaritäts-Paktes mit Bulgarien ab -- letztes Glied in der Sperrkette, die Ulbricht im Ostblock gegen das Bonner Vordringen ausgelegt hat.
Gestützt auf dieses Beistandssystem, fühlten sich die Ost-Berliner so stark, daß Stoph nun keinerlei Entgegenkommen mehr zeigte. Stoph verlangte:
> Abschluß eines Vertrages zwischen Bonn und Ost-Berlin über die Aufnahme »normaler Beziehungen«;
> Anerkennung der bestehenden Grenzen, »insbesondere der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten«;
> Atomwaffenverzicht und Abrüstung in beiden Teilen Deutschlands. Ulbricht höhnte, daß seine Kontakte mit der Regierung Erhard vor vier Jahren »weitergehenden Inhalts waren als das, was gegenwärtig in der ganzen neuen Ostpolitik der jetzigen Regierung Kiesinger/Strauß enthalten ist«.
Dabei hatte sich Bonns schwarz-rote Mannschaft bei ihrem Start im Dezember, angefeuert vom gesamtdeutschen Wehner, nicht nur eine fortschrittliche Deutschlandpolitik, sondern auch eine beweglichere Ostpolitik gelobt« die endgültig den Ausbruch aus den Denkformen des Kalten Krieges bringen sollte.
Bald nach der Regierungsbildung beendete der neue Außenminister Brandt den von Erhard betriebenen Boykott des Sowjet-Botschafters Zarapkin. Den roten Missionschef weihte Brandt in das Vorhaben Bonns ein, mit Bukarest volle diplomatische Beziehungen anzuknüpfen, und beteuerte dabei, dieser Schritt, dem andere folgen sollten, bedeute keineswegs den Versuch, innerhalb des Ostblocks Zwist zu säen.
Tatsächlich entwickelte sich zwischen der Villa Hentzen in Rolandswerth, der Residenz des Sowjetdiplomaten, und den Ämtern der Bundesregierung ein regerer Kontakt als je zuvor in Bonner Zeiten. Auch Kanzler Kiesinger empfing den Kreml-Botschafter.
Zarapkin selbst zeigte wachsendes Interesse an diesen Begegnungen und fuhr im Juli eigens zum Aachener Reitturnier, nur um dort mit Außenminister Willy Brandt plaudern zu können.
Kurz vor der sommerlichen Urlaubsreise Zarapkins beauftragte AA-Chef Brandt dann den Ministerialdirigenten Saam von der zweiten Politischen Abteilung, einen Katalog jener Themen aufzustellen, über die Bonn mit den Sowjets zu sprechen bereit ist.
Saam fixierte dreizehn Verhandlungskomplexe*. Brandt redigierte den Text und fügte einen 14. Punkt hinzu: Gespräche über alle Fragen, welche die Sowjet-Regierung zu beraten wünscht, und zwar »auf jeder Ebene, in Bonn, in Moskau oder an dritten Orten«.
Bei einem Lunch, zu dem AA-Staatssekretär Schütz in sein Haus am Haager Weg auf dem Bonner Venusberg eingeladen hatte, trug der Minister dem Botschafter den Inhalt des Papieres vor. Zarapkin zeigte Interesse: »Können wir die Aufzeichnung nicht mitnehmen?«
Brandt, der seinen Kanzler Kiesinger nur mündlich unterrichtet hatte, scheute sich zunächst, dem Botschafter den Sprechzettel auszuhändigen. Schließlich aber gab er das Papier, das weder Überschrift noch Unterschrift trug, dem Dolmetscher Zarapkins »als Übersetzungshilfe«.
Wenige Tage später traf Zarapkin mit Brandts Sonderbotschafter Egon
* Bilaterale Fragen: Handel, Kultur, Technik und Wissenschaft, Luftverkehr, Justizhilfe; Ost-West-Beziehungen: Entspannung, Grenzen, Teilung Deutschlands, Berlin. Europäische Sicherheit: Gewaltverzicht, Truppen-Reduzierung, Austausch von Manöver-Beobachtern, Atomwaffen-Begrenzung.
Bahr zusammen, der die 14 Punkte im Detail erläuterte. Viereinhalb Stunden diskutierten die beiden die Aspekte der deutsch-sowjetischen Beziehungen.
Zum erstenmal kam es in Bonn zwischen einem deutschen und einem sowjetischen Offiziellen zu einem intensiven Austausch der Argumente. So freimütig wurde der Dialog geführt, daß der Sowjetrusse sogar auf den Genossen Ulbricht zu schimpfen begann, als von Entspannungshindernissen die Rede war.
Zarapkin lieferte die Bonner Gesprächsofferte in Moskau ab, ehe er Ferien machte.
Stolz berichtete Brandt im August in Washington seinem Kollegen Rusk vom New Look der Bonner Ostpolitik. Moskau-Diplomaten der mit Bonn verbündeten Italiener, Engländer und Franzosen hatten inzwischen den AA-Chef informiert, die Sowjets interessierten sich ernsthaft für seine Vorschläge. Finnlands Staatspräsident Kekkonen hatte dem Außenminister in Helsinki sogar Hoffnungen gemacht: »Ich bin sicher, die Russen werden auf Sie zukommen.«
Doch die Bonner warteten den ganzen Sommer vergebens auf eine verbindliche Replik aus dem Kreml.
Unterdessen versuchten sie, im übrigen Osteuropa voranzukommen:
> Mit der Tschechoslowakei, die als einziger Ostblockstaat überhaupt noch keine Beziehungen zur Bundesrepublik unterhielt, vereinbarte Bonn -- als Ersatz für den erstrebten Botschafteraustausch -- die Einrichtung von Handelsmissionen mit erweiterten Kompetenzen (Visa-Erteilung);
> mit Rumänien schloß Brandt beim ersten Besuch eines Bonner Außenministers im Ostblock einen Kooperationsvertrag und führte drei Tage lang Gespräche im Kreise der KP-Führer der Volksrepublik;
> mit Polen suchte der AA-Chef indirekten Kontakt: im Dreiecks-Brief verkehr über Ministerkollegen in Ankara und Den Haag erläuterte Brandt der Regierung in Warschau Bonns Entspannungsvorhaben und bekam vom dortigen Außenminister Rapacki -- auf dem gleichen Umweg -- zu hören, daß man »an der Aufrichtigkeit der Absichten« Brandts nicht zweifle;
> mit den Jugoslawen, zu denen Bonn seit 1957 -- seit Belgrad mit Ost-Berlin Botschafter ausgetauscht hat -- keine diplomatischen Beziehungen mehr unterhält, kamen Gespräche über die Wiederherstellung des vollen diplomatischen Kontaktes in Gang.
Anfang September konnte Kiesinger vor den CDU/CSU-Fraktionsvorstehern unwidersprochen sagen: »Die Chancen mit Belgrad stehen nicht schlecht.«
Und vorletzte Woche reiste CDU-Generalsekretär Heck, Kreisbrandmeister ehrenhalber im heimatlichen Rottweil, bereits zum zweitenmal mit Wissen des Kanzlers und des Auswärtigen Amtes nach Jugoslawien. Eine Besprechung mit jugoslawischen Spritzen-Freunden über die Ausrichtung des nächsten internationalen Feuerwehr-Wettbewerbes bot dem schwäbischen Feuerlöscher Gelegenheit, die Rede auch auf andere Themen zu bringen -- beispielsweise auf die wünschenswerte Annäherung der deutschen und der jugoslawischen Jugend. Geheimnisumwittert, doch hoffnungsfroh kehrte er heim.
Die Antwort aus Moskau hingegen ließ weiter auf sich warten.
Am Dienstag letzter Woche kam Sowjet-Botschafter Zarapkin nach Bonn zurück -- und schwieg. Er war auf der Rückreise in Ost-Berlin ausgestiegen und hatte sich den Text des zweiten Stoph-Briefes zeigen lassen.
Die Sowjets hatten zwar den DDR-Genossen geraten, den innerdeutschen Dialog auf jeden Fall fortzusetzen, waren andererseits aber durchaus dafür, den Klassenfeinden in Bonn eine harte Antwort zu erteilen.
Das fiel den SED-Führern um so leichter, als Kiesingers Brief an Stoph vom Juni erst nach wochenlangem Hausstreit in der Großen Koalition und nach beträchtlichen Formulierungsschwierigkeiten zustande gekommen war.
Wohl hatte zum erstenmal ein Bonner Kanzler einen DDR-Ministerpräsidenten überhaupt einer schriftlichen Antwort gewürdigt, sich zu der Anrede »Sehr geehrter Herr Vorsitzender« herbeigelassen und Gesprächskontakte zwischen Sonderbeauftragten der beiden deutschen Regierungschefs angeregt.
Aber in der Sache hatte der Kanzler auf dem alten Bonner Anspruch beharrt, daß sein Kabinett als die einzige frei gewählte deutsche Regierung auch für die »Menschen im anderen Teil Deutschlands« spreche -- eine »Rechtsauffassung, an der wir uneingeschränkt festhalten«.
Diese von Kiesinger unter dem Druck der CDU/CSU-Konservativen eingefügte Passage, die eine brüske Abweisung durch Ost-Berlin geradezu herausforderte, und das wochenlange Verschleppen der Bonner Antwort hatten den ersten großen Krach in der Großen Koalition zur Folge. Denn die Sozialdemokraten kämpften einhellig für eine rasche, konstruktive Erledigung der Stoph-Korrespondenz.
Der SPD-Vize und Gesamtdeutsche Minister Herbert Wehner überwarf sich zum erstenmal mit dem ihm sonst so vertrauten Kanzler Kiesinger und drohte, kaum verhüllt, seinen Rücktritt an: »Wenn wir in dieser Sache jetzt nicht weiterkommen, dann muß ich mir überlegen, wie ich mein Haus bestelle.«
Vergangene Woche nun, als der zweite Stoph-Brief auf den Bonner Tischen lag, fand Wehner seine Befürchtungen bestätigt.
Der Kanzler wiederum wollte nicht ein zweites Mal gegen Wehners Rat Beschlüsse fassen. Für letzten Freitag, neun Uhr früh, lud er den SPD-Vize zum Frühstück in den Schaumburg-Bungalow. Drei Stunden und zehn Minuten hielten die beiden unter vier Augen vertraulichen Ratschlag.
* Mit dem Präsidenten des Bundesfeuerwehrverbandes Albert Bürger (r.) und dem Godesberger Bezirksbrandmeister Roberz auf einem Feuerwehrtag in Beuel bei Bonn.
Kiesinger legte als Gesprächsunterlage zwei Brief-Konzepte auf den Tisch, die tags zuvor nach gemeinsamem Mittagessen im Godesberger Hotel »Zum Adler« von den Kanzlerberatern Baron Guttenberg und Conrad Ahlers getrennt zu Papier gebracht worden waren.
Wehner wiederholte, was er schon im Mai und im Juni gefordert hatte: unverzüglich den Beauftragten des Bundeskanzlers für Gespräche mit der DDR zu nominieren, damit Ost-Berlin nicht Anlaß zu neuen Ausweichmanövern habe.
Kiesinger aber konnte sich so schnell nicht zu einem Entschluß durchringen und erbat Bedenkzeit -- um die Exponenten seiner zerstrittenen Christenunion zu befragen.
Unterdessen entschwand der Kanzler in den Bremer Wahlkampf.