VERKEHRSSÜNDER
Verkehrsrichter Dr. Mühlhaus hat ein wahrhaft erlösendes Wort gesprochen, als er anregte, die sogenannten Verkehrssünder nicht mit Einbrechern, Dieben und Betrügern in das gleiche Gefängnis zu sperren, sondern zur Verbüßung von Verkehrsstrafen eine Art Festungshaft vorzusehen.
Nach neuester Rechtsprechung führt beispielsweise derjenige vorsätzlich eine Gemeingefahr herbei, der im Kraftwagen hinter einer haltenden Straßenbahn anhält, während die übrigen haltenden Fahrzeuge sich auf der Fahrbahn rechts neben den Straßenbahngeleisen aufreihen, wenn er beim Anfahren versucht, in die Kette der auf der rechten Fahrbahn anfahrenden Fahrzeuge einzuscheren. Die »vorsätzliche Herbeiführung einer Gemeingefahr« wird nach § 315 des Strafgesetzbuches bedroht mit Gefängnis ohne Begrenzung der Strafhöhe und in besonders schweren Fällen mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren. Die gleiche Strafdrohung gilt beispielsweise für Erpressung und Betrug. Die Verbüßung einer derartigen Strafe bedeutet im allgemeinen die seelische, wirtschaftliche und wohl auch bürgerliche Vernichtung des Delinquenten, obwohl die Schwere der Verfehlung moralisch bei dem Verletzer des Verkehrsparagraphen doch wohl anders zu bewerten ist als bei dem Erpresser oder Betrüger. Eine einzige Sekunde physischen oder moralischen Versagens genügt, um einen Teilnehmer am modernen Straßenverkehr der »Herbeiführung einer Gemeingefahr« schuldig werden zu lassen. Genügt sie auch, um die bürgerliche Vernichtung des Schuldigen zu rechtfertigen?
Würden alle Kraftfahrer die Normen der Rechtsprechung ständig erfüllen, so hätte der Großstadtverkehr längst im Chaos geendet. Wer sich im Verkehr so verhält, wie es der flüssige Ablauf beispielsweise in Großstädten erfordert, nimmt ständig auf sich, im Falle einer Kollision als Rechtsbrecher dazustehen. Im Sinne der modernen Verkehrsrechtsprechung schuldig zu werden, ist häufig nicht mehr als eine tragische Zufälligkeit des Schicksals. Diese Feststellung darf nicht besagen, daß nicht bestraft werden müßte, wer durch einen solchen tragischen Zufall zum Verletzer fremden Rechtsguts geworden ist. Doch ist der »Täter« moralisch sicherlich nicht anders zu beurteilen als derjenige, der durch einen Ehrenhandel oder wegen politischer oder religiöser Überzeugung »schuldig« geworden ist. Erweist es sich aus Gründen der Generalkonvention als nötig, solchen »Tätern« die Freiheit zeitweilig zu entziehen, so sollten sie doch immerhin Gelegenheit haben, sich in umgrenzten Bezirken frei zu bewegen, sich zu bilden oder abzulenken, gesellschaftlichen Kontakt untereinander zu pflegen, Sport zu treiben usw. Der Freiheitsentzug sollte ihnen im Sinne der früheren Bestimmungen über die Festungshaft erleichtert, statt im Sinne der allgemeinen Strafvollzugsnormen erschwert werden.
Es ist zu hoffen, daß das von Dr. Mühlhaus in die Debatte geworfene Stichwort von anderen Juristen aufgegriffen und auch vom Bundestag gehört wird.
Essen ERWIN GERBER