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VERKÜNDER UNTER DIEBEN UND RÄUBERN

aus DER SPIEGEL 40/1967

Sie stehen an den Straßenecken und weisen den Weg in eine andere Welt. Sie klingeln an den Türen, uns vor der Verdammnis zu retten, die sie nach der Schlacht von Harmagedon über die Menschheit hereinbrechen sehen. Jehovas Zeugen, früher Ernste Bibelforscher genannt, in Hitlers Konzentrationslagern geschmäht, geschunden und ermordet, nehmen ihre Glaubensaufgabe wahrhaft ernst.

Totalitäre Staaten verfolgen sie, weil ihre Weltanschauung den ganzen Menschen ergreift, den schon der Staat mit Haut und Haar für sich beansprucht. Kompromißlos lehnen Jehovas Zeugen vor allem jeden Wehr- und Ersatzdienst ab, und diese Gewissensentscheidung macht sie zum Prüfstein auch des Rechtsstaats. Am Modellfall einer religiösen Minderheit erweist sich, wieviel Rechtsstaatlichkeit wir aufzubringen bereit sind, wenn es um die bekannten unabdingbaren Belange der Nation geht.

Das Ergebnis ist deprimierend. Strafverteidiger charakterisieren es als unverhüllte Terrorisierung einer religiösen Gruppe mit dem erklärten Ziel, deren sittliche Grundhaltung zu brechen. Dieselben Autoritäten, die dem Schreibtischmörder oder KZ-Schergen mit Recht vorhalten, er habe gegenüber der Gewalt sein Gewissen betätigen müssen, erklären nunmehr mit großer Selbstverständlichkeit, Gesetz und Staatsgewalt gingen dem Gewissen vor. Das bleibt widersprüchlich, auch wenn die Gewalten nicht vergleichbar sind.

Die pluralistische Ordnung des Grundgesetzes setzt die Gleichwertigkeit aller religiösen und moralischen Überzeugungen und Gruppen voraus. Sie garantiert überdies die Gewissensfreiheit. Der Staat kann nicht entscheiden, wer den einzigen oder den besseren Weg zum Heil gefunden hat.

Die praktische Gleichbehandlung aber sieht beispielsweise so aus: Von der allgemeinen Wehrpflicht sind schlechthin nur die katholischen Priester nach Empfang der Subdiakonatsweihe und die ordinierten evangelischen Geistlichen ausgenommen. Geistliche anderer Bekenntnisse, zu denen die Rabbiner ebenso gehören wie die Prediger der Freikirchen und Sekten, müssen hauptamtlich tätig sein und den anerkannten christlichen Geistlichen »entsprechen«.

Offen bleibt, woher der weltanschaulich neutrale Staat das Recht nimmt, die Geistlichen mannigfacher Bekenntnisse am Leitbild der Gemeinschaften zu messen, zu denen sie in oft leidenschaftlichem Gegensatz stehen.

Um ihrem Gewissen zu genügen, müssen die Zeugen Jehovas, die allesamt und jederzeit Verkünder sind, das hochnotpeinliche Prüfungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer über sich ergehen lassen. Das Grundgesetz bewahrt sie vor dem Dienst mit der Waffe. Mit der Anerkennung aber beginnt erst der eigentliche Leidensweg. Denn die Zeugen Jehovas sind der richtigen Auffassung, daß der zivile Ersatzdienst einen Teil des Wehrdienstes darstellt, und halten beide Arten der Dienstleistung für unmittelbare Unterstützung des Teufels, die sie der ewigen Seligkeit beraubt.

Damit setzen sie die Strafverfolgungsmaschinerie in Gang, die sich in ihrem Fall binnen kurzem als Perpetuum mobile erweist. Mit dem besten Gewissen verhängen westdeutsche Gerichte gegen sie Gefängnisstrafen, denn »die Pflicht des Kriegsdienstverweigerers, einen Ersatzdienst zu leisten, verletzt nicht das Grundrecht der Gewissensfreiheit«. So entschied es das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1965.

Noch während sie unter Dieben, Räubern und Sittlichkeitstätern ihre Strafe verbüßen, erhalten sie bereits den nächsten Einberufungsbescheid -- für den Zeitraum nach ihrer Entlassung. Selbstverständlich leisten die Zeugen Jehovas dem zweiten Einberufungsbescheid ebensowenig Folge wie dem ersten. Erneute Verurteilung, abermalige Strafverbüßung, neuer Gestellungsbefehl reihen sich aneinander.

Es gibt Gerichte, die bereits für die zweite Verweigerung zwei Jahre Gefängnis (!) verhängen. Zahlreiche andere suchen beharrlich, aber erfolglos nach Auswegen aus dem Teufelskreis. Die Straf rechts-Dogmatik, seit langem am Exempel der Fahnenflucht bewährt, hat scharfsinnig und sorgsam jede Lücke geschlossen. Ein hochgeachteter Amtsrichter erklärt nach Verkündung eines Freispruchs resignierend, er habe zum erstenmal in seinem Richterleben ein Urteil gefällt, von dem er genau wisse, daß es aufgehoben werde.

Auch das irrende Gewissen einer Minderheit hat Anspruch auf Achtung und Schutz. Und selbst wenn derjenige, der sich Gemeinschaftsaufgaben aus achtbaren Gründen entzieht, um größerer Belange willen benachteiligt werden müßte, wäre der einfallslose Ruf nach dem Richter angesichts einer breiten Skala anderer Möglichkeiten verfehlt. Schon gar nicht aber kann der Rechtsstaat -- ohne Schaden zu nehmen -- zulassen, daß enges Verwaltungsdenken durch immer neue Bescheide künstlich neue Straftatbestände auslöst.

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